Leipzig: Polizisten und Spaziergänger stehen sich bei Protest gegen Corona-Maßnahmen gegenüber
von Eberhard Staub
Es gibt eine Krankheit, die auch heute weit verbreitet ist. Sie äußert sich in panischer Angst vor Verschwörern. Sie machte sich in der Neuzeit zum ersten Mal während der Französischen Revolution bemerkbar und tritt seitdem in immer neuen Variationen auf. Von ihr werden anfänglich nur Machthaber und deren sinnstiftende Orientierungshelfer infiziert. Beide stecken mit ihren nervösen Zuständen alsbald alle an, die täglich von ihnen aufgefordert werden, Warnungen, Anordnungen und Empfehlungen Folge zu leisten, um drohenden Gefahren erfolgreich vorbeugen zu können.
Das setzt voraus, dem Anderen und Nächsten mit äußerster Vorsicht zu begegnen, der möglicherweise schon von Halbwahrheiten oder offenkundigen Fälschungen verführt, zum Risiko für seine Nachbarn geworden ist. Die Furcht vor Verschwörern verleitet endlich dazu, überall Versuche zu wittern, mit schnödem Trug, als Theorie getarnt, das jeweilige System zu destabilisieren. Keiner darf wegschauen, jeder wird angehalten, auf alles sorgsam zu achten, genau hinzuschauen und gegebenenfalls Meldung zu erstatten, wenn ihm etwas Verdächtiges auffällt.
Die totalen Demokraten um Danton, Saint-Just und Robespierre waren nahezu besessen von ihrer Furcht vor „Aristokraten“, „Österreichverstehern“, „Priestern“, „Jesuiten“ und „Verächtern“ der philosophes, also der Intellektuellen und Wissenschaftler. Diese umtriebigen Dunkelmänner hätten sich, wie sie beharrlich verkündeten oder mit zunehmender Laustärke in ihren Gazetten verbreiten ließen, mit Zuarbeitern in unübersichtlichen Gruppen – heute „Querdenker“, „Schwurbler“, „Rechtsradikale“ oder „Staatsfeinde“ genannt – zusammengetan in der offenkundigen Absicht, die republikanischen Tugenden als Laster zu verunglimpfen und die aufrechte Gesinnung wahrhafter und wehrhafter Demokraten zu zersetzen.
Die Hüter der Verfassung durften daher nicht zimperlich sein. Es ging um die Gesundheit und das Überleben der freien Bürger. Robespierre und seine Gefolgschaft wollten daher während ihrer Schreckensherrschaft 1793/94 mit aller Härte Kampfbereitschaft gegenüber einer „maßnahmekritischen“ Klientel“ beweisen, unter sich verschworenen Verfassungsfeinden, die rasch und sehr gewaltsam zum Schweigen gebracht werden mußten.
Aufgeregte Elemente, die den Regierenden mißtrauen, haben, wie sie ununterbrochen versicherten, nichts in der Öffentlichkeit zu suchen. Denn sie stiften Unfrieden. Sie wollen die demokratische Wertegemeinschaft nicht verstehen und verleumden deren entschlossene Sachwalter, die nicht im herkömmlichen Sinn Parteipolitik treiben wie die Aristokraten. Sie sorgen sich vielmehr im „Ausschuß für die allgemeine Wohlfahrt“ überparteilich um die totale Gesundheit der Demokraten, was heißt, die ihrer Aufsicht anvertrauten Menschen vor Ansteckungen und ungesunden Einflüssen jeglicher Art zu bewahren. Wehret den Anfängen!
Diese programmatische Devise resümierte den Auftrag zu dauernder, selbstloser Hilfsbereitschaft. Parlamentarier, die sich um das allgemeine Wohlergehen und die totale Gesundheit der Solidargemeinschaft verdient gemacht hatten, durften unbedingt Dankbarkeit und Anerkennung verlangen. Wer sie ihnen verweigerte und sich gar auf Straßen und Plätzen versammelte, bestätigte mit seinem auffälligen Verhalten, im Einverständnis mit Verschwörern zu handeln und den Umsturz der öffentlichen Ordnung vorzubereiten.
Solche unvernünftigen, von Leidenschaften aufgewühlten Störenfriede bedurften pädagogischer Maßnahmen, um nach einer gründlichen Umerziehung Freiheit und Glück darin zu finden, endlich mit unverhohlenem Enthusiasmus das zu denken und zu wollen, was alle wahren und wehrhaften Demokraten denken und wollen sollen. Da es nur eine Vernunft gibt, vereinte die vom Irrtum Befreiten eine sie wechselweise dynamisierende Einmütigkeit und Gleichheit. Der heilsamen Vernunft verdankten sie allseits gesunde Ansichten.
Die Bereitschaft, sich mehrfach ideologisch impfen zu lassen, um immun gegenüber den Listen der Verführer zu werden, beschleunigt diesen Genesungsprozeß. Verstockte, nicht zu belehrende Gegner ideologischer Impfstoffe gaben sich unweigerlich als Gefährder zu erkennen, weil sie nicht den Vorschriften folgten, welche Wohlfahrtsfunktionäre und deren wissenschaftliche Berater, ehedem philosophes, heute „Experten“ genannt, als dringend erforderlich erachteten für das kollektive Heil und Wohlbefinden. Unbelehrbare mußten mit drakonischen Disziplinierungsmaßnahmen rechnen, von denen sich viele allerdings gar nicht einschüchtern ließen.
Die pädagogische Schreckensherrschaft ging vorüber. Sie wurde keineswegs „delegitimiert“, wie es heute heißt, von aufsässigen Minderheiten, die versuchten, eine Mehrheit daran zu hindern, uneingeschränkt zu herrschen oder „durchzuregieren“. Systeme bringen sich durch die Dreistigkeiten, Übertreibungen und Torheiten der jeweiligen systemrelevanten Kräfte um ihre Legitimität. Diese Lehre beherzigten die entschlossenen Legitimisten nicht, die nach den Metamorphosen in Staat und Gesellschaft und den verschiedenen Legitimitätsverlusten zwischen 1789 und 1814 an die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung dachten.
Sie fürchteten sich – darin den radikalen Demokraten, den Jakobinern ähnlich – vor den Umtrieben von „Demagogen“, die „leidenschaftlich unbestimmte Ziele“ im Auge hatten, deren Vagheit Könige und ihre Minister aber gar nicht beruhigte, sondern erst recht von einer Aufregung in die nächste stürzte. Die schrecklichen und unfaßbaren Demagogen, die überall ihr Unwesen trieben, konnten revolutionäre Jakobiner sein, Terroristen, Demokraten, aber auch Bonapartisten oder Opfer der amerikanischen Freiheitspropaganda. Sie waren auf jeden Fall Verschwörer, die eine andere Gesellschaft und einen anderen Staat erstrebten.
Demagoge entspricht dem heute vertrauten Feindbild: Nazi, Faschist, Rechter oder Rechtsradikaler. Die Legitimisten nach 1815 schauten dauernd zurück und gebrauchten Schlagworte, die eklatant ihre Hilflosigkeit vor der Gegenwart und neuen Herausforderungen offenbarten. Den inneren Frieden verwechselten sie mit einer von der Polizei hergestellten und kontrollierten Ruhe. Mit unnachsichtiger Strenge sollten Gendarmen eingreifen, wo sich der Geist des Widerspruchs regte. Untergeordnete Beamte, „gemeine Ehrgeizige, die das Handwerk der Verfolgung mit dem Eifer eines Schweißhundes trieben“ wie der liberale Historiker Heinrich von Treitschke grimmig spottete, ermöglichten es, daß deutsche Politik zur deutschen Polizei herabsank und die Gewaltstreiche der jetzt legitimistischen Ordnungsmächte sich gar nicht mehr von dem schrecklichen Wohlfahrtsregime radikaler Demokraten um Robespierre unterschieden.
Die berüchtigten Karlsbader Beschlüsse vom 20. September 1819 nach dem Attentat eines Studenten auf den Dichter August von Kotzebue, der von seinem Mörder verdächtigt wurde, ein Agent der russischen Weltverschwörung zu sein, sollten mit unnachsichtiger Strenge die Widerstandsfähigkeit des Systems, das Ordnung durch Recht repräsentierte, eindrucksvoll dokumentieren.
Polizeiliche Befugnisse wurden ohne pedantische Rücksicht auf das Recht und die Verfassung erweitert. Briefe wurden erbrochen, willkürliche Hausdurchsuchen waren nun möglich, wer sich an Volksfesten beteiligte, gefährdete andere. Die Zensur sorgte für das geistige Wohlbefinden. Studenten und Professoren, die ungesunde Lehren verbreiteten, konnten sofort aus den Universitäten entfernt werden, weil sie nicht ihren Pflichten nachkamen, „die Wissenschaft“ in Übereinstimmung mit den Grundgesetzen des monarchischen Prinzips und den Verlautbarungen der Staatskanzleien zu halten.
In Mainz wurde eine Zentralkommission eingerichtet, um sämtliche Gesellschaften und deren Mitglieder, die vermutlich den Verfassungsumsturz planten, zu erfassen. Es konnte subalterne Beamte in diesem Amt für Verfassungsschutz und die ihm zugeordneten Polizisten gar nicht beruhigen, überhaupt keine revolutionären Zellen zu entdecken. Dieser Umstand spornte sie vielmehr dazu an, erst recht aktiv zu werden und auf die Unterstützung rechtschaffener Bürger zu rechnen, mit Denunziationen bei der Verteidigung der inneren Sicherheit mitzuwirken. Die polizeiliche Seelenangst der Behörden äußerte sich vor allem darin, bewußt undeutlich formulierte Anordnungen auf die möglichst schärfste Weise auszulegen und anzuwenden.
Dennoch gelang es nicht, die Ruhe unter polizeilichem Druck zu erzwingen. Die Bürger ließen sich ihre Feste und Feiern nicht verbieten. Sie waren an Zahl größer als die Gendarmen. Doch ihre insgesamt gesundheitsschädlichen und dem allgemeinen Wohlbefinden – wie es die Obrigkeit und Polizei begriffen – abträglichen Demonstrationen mit Tänzen, Gesängen, mit Schmausereien und Trinkereien, verbitterten die aufgeschreckten Hüter der Verfassung. Empört über solche Frechheiten reagierten sie 1832 bundesweit mit einer Sturzflut außerordentlicher Sicherheitsregeln und Verboten, etwa politische Vereine zu bilden, sich auf Straßen und Plätzen zu versammeln, um Freiheitsbäume zu tanzen oder in der Öffentlichkeit zu rauchen und dabei gar die schwarzrotgoldene Fahne mit sich zu führen. In solchem verwegenen Treiben erkannten Verfassungsschützer die fürchterliche Absicht, das ihrer Kontrolle unterworfene monarchische Prinzip zu „delegitimieren“.
Doch es waren bornierte Beamte und Minister, die eine von ihnen problematisch gemachte Ordnung in Unordnung stürzten. Sie waren sich ihrer Legitimität so wenig sicher wie früher radikale Demokraten. Beide vertrauten nicht der Voraussetzung öffentlicher Gesundheit: nämlich der Freiheit. Denn gesund ist nur der Staat, in dem – wie damals der Liberale Karl Mathy mahnte – jeder auf eigene Gefahr und Verantwortung hin seine Gedanken aussprechen kann, ohne als Verschwörer und Feind verdächtigt zu werden.
Es ist die Freiheit mit ihrem mannigfachen Eigensinn und nicht der Zwang und die Polizei, die das sittliche Leben der Völker vor Unruhen und Umsturz bewahren. Eine Ordnung, die sich mehr auf die Polizei und die Abwehr von Verschwörern verläßt als auf die kräftigen Ideen von Recht und Freiheit, verliert ihr Gleichgewicht und wird fragwürdig.