- Herr Kleditzsch, Sie waren erfolgreicher Oberarzt und Professor in der DDR. Wie würden Sie rückblickend das DDR-Gesundheitssystem einschätzen?
Von den Strukturen her war es zentralistisch aufgebaut, was nicht unbedingt ausschließlich schlecht war, so dass erforderliche Maßnahmen im Gesundheitswesen, wenn notwendig, zügig durchgesetzt werden konnten. Die Planwirtschaft führte auf der anderen Seite allerdings auch zum Teil zu Engpässen, wie z.B. Mangel an Ausrüstung und erforderlichen kreativen Lösungen. Die medizinische Ausbildung war sehr gut in der DDR und im klinischen Bereich von Anfang an patientenbezogen.
Das Betriebsgesundheitswesen, das strukturell gut durchorganisiert war, war nicht nur in der Betreuung der Werktätigen anerkannt gut, sondern widmete speziell der Prävention und Prophylaxe große Aufmerksamkeit, was heutzutage erst wieder angestrebt wird.
Das inhaltliche Prinzip der Polikliniken, das eine umfassende diagnostische und therapeutische Versorgung der Patienten in einem relativ kurzen zeitlichen Ablauf gewährleistete mit nahtloser Vermittlung von Befunden, war nicht, wie später behauptet, eine kommunistische Erfindung, sondern existierte bereits seit der Zeit von Bismarck.
- Parallel zu Ihrer medizinischen Kariere sind Sie 1977 in die DDR-CDU eingetreten. Was waren Ihre Beweggründe?
Meine Familie ist kirchlich-evangelisch geprägt, so hatten wir einen Bezug zur CDU. Ein Beitritt zur CDU bedeutete in der DDR allerdings für die Mitglieder in der Peripherie keineswegs Vorteile. Es wäre viel bequemer und erfolgreicher gewesen, in die staatstreue SED einzutreten. Ganz speziell für unsere Kinder hatte unsere und später ihre eigene CDU-Angehörigkeit erhebliche Nachteile und Schwierigkeiten in der höheren schulischen Ausbildung und an der Universität. Gar keine Parteizugehörigkeit bedeutete allerdings auch, an keiner offiziellen staatlichen Stelle kompetente Fachmeinungen vertreten und notwendige Veränderungsforderungen einbringen zu können. Aus unserem familiären und beruflichen DDR-Erleben haben wir viele triftige Gründe, uns gegen den Begriff „Blockpartei“ oder gar „Blockflöte“ zu wehren, insbesondere von Vertretern westdeutscher Politik, die selbst nie mit ihren Familien in solch schwierigen Situationen leben mussten.
- Ab April 1990 bis zur Wiedervereinigung waren Sie letzter DDR-Gesundheitsminister. Ein steiler Aufstieg. Wie kam es dazu?
Es wurde sehr früh nach der Wende beachtlicher Wert darauf gelegt, Fachkompetenz in die verschiedenen Ressorts einzubringen, natürlich unter Beachtung einer politisch unbelasteten Anamnese. So wurde ich z.B. schon in der Übergangszeit, im November/Dezember 1989, zum Bezirksarzt von Dresden berufen und habe den vorbelasteten SED-Kader abgelöst. Aus diesen Gründen und mit den neu gewonnenen Erfahrungen administrativer Arbeit sowie der Tatsache, dass unsere orthopädische Klinik in Dresden auch eine Vorzeigeklinik für international anerkannte Forschungsprojekte war - ich selbst war damals zudem Sekretär der Weltgesellschaft für Physikalische Therapie - wurde ich dann auf den Ministerposten berufen.
Treffen mit Johannes Rau (damals noch Ministerpräsident) Ende August 1990 in Düsseldorf
- Andere Minister, wie Innenminister Diestel, der sich mit der Stasi befassen musste, oder Wirtschaftsminister Gerhard Pohl, der mit der Treuhand zu tun hatte, hatten es auf den ersten Blick schwerer im Amt als Sie. Oder täuscht der Eindruck?
Ich hatte es mit Sicherheit auch nicht gerade leichter als die Kollegen. Die Situation war, dass wir geradezu überrollt wurden von der Pharma- und medizintechnischen Industrie, von den Banken und nicht immer seriösen Investoren, von den Forderungen und Vorstellungen der Ärzteverbände, Kassenärztlichen Vereinigungen und Landesärztekammern aus dem Westen. In jenen Tagen kam es u.a. quasi zu einem Niederlassungszwang, Polikliniken wurden über Nacht verkauft und geschlossen. Es gab nicht nur für viele Ärzte eine existentielle Notlage, sondern es waren auch plötzlich in ganzen Stadtteilen Patienten nicht mehr versorgt.
- Ging es auch bei Ihnen darum, möglichst viele DDR-Strukturen abzuwickeln und BRD-Strukturen einzuführen?
Die Tendenz war ganz eindeutig, uns das westdeutsche Gesundheitssystem einschließlich seiner Schwächen und Fehler überzustülpen. Zum 1. Gemeinsamen Deutschen Ärztetag im Mai 1990 in Würzburg habe ich eindringlich an alle Verantwortungsträger appelliert, die einmalige Chance zu ergreifen, ein besseres gemeinsames deutsches Gesundheitswesen anzustreben. Wir hatten Gutes und Erprobtes anzubieten: ein nahezu perfektes Impfsystem, eine umfassende Tumorstatistik (beispielgebend für viele andere europäische Länder), die gut organisierte engmaschige Dispensaire-Betreuung chronisch Kranker (Diabetes, Rheuma, Herz-Kreislauferkrankungen) durch spezialisierte Ärzte und eben auch die Polikliniken.
- Was haben Sie erreicht in Ihrer Zeit als Minister?
Ich denke schon, dass in der kurzen Zeit Einiges erreicht wurde. Vor allen Dingen mussten Ruhe und Ordnung bewahrt werden und nicht nur dem medizinischen Personal im ambulanten und stationären Bereich, sondern auch der Bevölkerung verständlich der Zweck, Sinn und Inhalt der neuen Strukturen erklärt werden. Es galt, wichtige ärztliche Fachgebiete zu erhalten, die sich in der DDR bestens bewährt hatten, es aber in der BRD nicht gab. Weiter ging es darum, im Einigungsvertrag einen geregelten Übergang hinzubekommen, wie z.B. das wichtige Anliegen der Leistungsvergütung im angemessenen Verhältnis. Ursprünglich sollte der Lohn im medizinischen Bereich im Osten nur 45 Prozent vom Westniveau betragen, bei gleichzeitig 100 Prozent Betriebskosten.
- Ihr Pendant auf Westseite war damals der kürzlich verstorbene Norbert Blüm. Wie war die Zusammenarbeit?
Norbert Blüm war absolut integer und kompetent. Was wir miteinander besprochen und festgelegt haben, besaß immer Gültigkeit, sei es mit Unterschrift oder nur mit Handschlag. Er war sehr kooperativ und bedacht, alles möglichst mit Fingerspitzengefühl und nicht plump-aggressiv in Siegermanier durchzusetzen. Er war für mich ein richtiger Freund geworden.
- Sind Sie zufrieden mit der Wiedervereinigung?
Das schon, obwohl man sicher nach 30 Jahren sagen kann, man hätte manches besser machen können. So haben wir in guter Kenntnis der Situation in Ostdeutschland und seiner Geschichte vor überzogenen und unnötigen Belastungen, die zwangsläufig zu Differenzen zwischen ost- und westdeutscher Bevölkerung führen müssen, gewarnt, was nur belächelt wurde. Der Zeitpunkt aber war einmalig und richtig.
- Aber viele Menschen in Ostdeutschland sind auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung unzufrieden. Können Sie das nachvollziehen?
Ja, auf jeden Fall. Das liegt vor allem an den Fehlern der Treuhand. Wir hatten ja Kombinate, also große Betriebe mit mehreren Tausend Angestellten und Arbeitern. Darunter waren auch Betriebe, die Weltniveau hatten, konkurrenzfähig waren und in weite Teile der Welt exportierten. Durch die Umstellung der Währung und dem Zusammenbruch des Osthandels fiel dieser Markt urplötzlich weg. Viele Werke wurden über die Treuhand an bundesdeutsche Konkurrenten abgegeben, Fördergelder kassiert und nach kurzer Zeit entgegen den vorhandenen Verträgen geschlossen.
Erster und einziger gemeinsamer Empfang der beiden Gesundheitsmister BRD (Frau Prof.Dr. Lehr) und DDR (Prof.Dr. Kleditzsch) am 7. Mai 1990 in Genf anläßlich der 43. Generalversammlung der WHO
Der soziale Zündstoff, der dadurch entstand, war immens verstärkt durch die Tatsache, dass riesige Plattenbauwohngebiete von den Angehörigen dieser Betriebe bewohnt wurden und somit alle über Nacht arbeitslos wurden. So brachen geregelte tägliche Lebensabläufe schlagartig zusammen, auch für die vollberufstätigen Frauen und die Kinder.
- Sie selbst hat es nach Westdeutschland verschlagen, Sie haben weiter als Arzt gearbeitet. Ich nehme an, für Sie ist das Leben in Ost und West zusammengewachsen?
Ja. Ich war ja nach meiner Ministerzeit noch kurz im Bundestag und dann bin ich zurück nach Dresden an die Hochschule. Da gab es zu dieser Zeit in Forschung und Lehre keine Perspektive. Als dann die bundesdeutsche Industrie anklopfte und mir aufgrund meiner Forschungsleistung eine Arbeit im Bereich meiner Fachgebiete anbot, die international innovativ und interessant war, habe ich nach langem Bedenken zugegriffen.
- Noch einmal zu Ihrer politischen Entwicklung, warum sind Sie 2002 nach 25 Jahren aus der CDU ausgetreten. Was war geschehen?
Weil sich niemand dafür interessierte, was man als Mitglied der ehemaligen Ost-CDU an Erfahrungen hätte einbringen und gut überlegte Hinweise geben können. Unsere Anregungen stießen von vornherein auf taube Ohren. Niemand hat die Gründe für den Austritt hinterfragt, um eventuell Schlüsse daraus zu ziehen; das ist doch bezeichnend.
- Die CDU ließ sich also nicht verändern?
Keineswegs. Es herrschte absolute Selbstüberzeugung.
- Wie schätzen Sie als Mediziner denn den Umgang der Regierung - und damit ja auch der CDU - mit der Corona-Pandemie ein?
Es war zumindest richtig, die Maßnahmen so zu ergreifen, wenn auch etwas zu spät. Was sich allerdings bei dieser ernsten Lage negativ auswirkt, ist die Gegebenheit, in einem Föderalismus erheblich divergierende Maßnahmen und Festlegungen zu treffen. Das können die Bürger nicht verstehen und werden dann auch nicht mitmachen. Ich unterstütze alle notwendigen Maßnahmen und Strategien, egal von welcher demokratischen Partei sie kommen. In solch einer unbekannten Situation werden immer Fehler möglich sein und sind keine Schande, wenn man bereit ist, sie schnellstmöglich zu korrigieren.
- Die DDR schien recht fit gewesen zu sein, was den Umgang mit Pandemien betraf. Da gab es wohl Notfallpläne, die heute noch beeindrucken und Sinn machen. Wie schätzen Sie das ein?
Ja, natürlich. Das gab es und diese wurden ohne endlose Diskussionen und Parteienstreitereien – durchaus auch rigoros geführt - umgesetzt. Das ist der Vorteil einer zentralen Steuerung in einem solchen Fall. In anderer Weise hat auch der Föderalismus seine Vorteile. Nur muss man auch Willens sein, differenziert und angemessen zu handeln.