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Der Herrschaftsschreiber und der Pöbel

swaine1988
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Autor: Dagmar Henn
Quelle: https://www.anonymousnews.org/...
2022-10-16, Ansichten 1234
Der Herrschaftsschreiber und der Pöbel

Nachstellung der Märzrevolution von 1848 auf dem Alexanderplatz im Rahmen der Historiale.

Man merkt es an vielen Stellen: Deutschland bewegt sich tief in die Vergangenheit. Manche machen nicht einmal im 20. Jahrhundert halt, sondern greifen auf noch älteres Denken zurück. Ein Kommentar im Spiegel verbreitet jetzt eine Weltsicht, die ins Preußen des Vormärz passt.

von Dagmar Henn

Meute, Pack, Gesindel, Mob, Asoziale, Horde, Plebs. Das sind alles Synonyme für einen Begriff, an den sich wohl künftig alle Einwohner Deutschlands gewöhnen müssen, die nicht ausreichend Lakaiengesinnung zeigen.

Das ist durchaus ein beinahe zwangsläufiger Nachvollzug einer realen Kehrtwende, die zeitlich so weit zurückgreift, dass das Delikt des Holzdiebstahls wieder aktuell wird. Der ehemalige Spiegel-Redakteur Nikolaus Blome greift also schlicht zu einem Vokabular, das den Zeitläuften angemessen ist, wenn er in seiner jüngsten Kolumne vom “Pöbel” schreibt.

Immerhin, vor einem Winter, in dem viele in Deutschland werden frieren müssen – für die Büros der öffentlichen Verwaltung sind gerade 19 Grad als Raumtemperatur vorgesehen, was deren Arbeit noch einmal verlangsamen würde, bei dieser Temperatur kann man nicht mehr schnell tippen – gilt die Mitnahme selbst von Tot- und Bruchholz aus den durchprivatisierten Wäldern als Diebstahl. Mitte des 19. Jahrhunderts, in den Jahren 1842 und 1843, befasste sich ein junger Journalist in der Rheinischen Zeitung ausführlich mit den Debatten des Rheinischen Landtags, als dieser genau dies zur Straftat erklären wollte. Die tiefe Ungerechtigkeit, ja, die Absurdität, die Beseitigung eines existentiellen Mangels durch das Sammeln wirtschaftlich nicht verwertbaren Materials aus den Wäldern rigide zu strafen, trug dazu bei, dass dieser junge Journalist den Rest seines Lebens damit verbrachte, an einer gerechteren Gesellschaft zu arbeiten.

Der Name dieses Journalisten war Karl Marx. Die Texte sind heute noch, schlimmer wieder lesenswert. Er zitiert die Halsgerichtsordnung Karls V. : “Wo aber jemandt bei tag essendt früchte nem, und damit durch wegtragen derselben nit großen geuerlichen schaden thett, der ist nach gelegenheyt der personen und der sach burgerlich zu straffen.” Im heutigen Sprachgebrauch würde man sagen, eine Ordnungswidrigkeit, keine Straftat.

Aber passend zur breiten Wiedereinführung der Armut in Deutschland wurde der Mundraub aus dem Strafgesetzbuch gestrichen, es sind längst wieder Bagatelldelikte, die massiv verfolgt werden (ein Drittel der Insassen in Strafanstalten sitzt wegen Beförderungserschleichung), und für den Kältewinter gibt es die Strafbarkeit des Holzdiebstahls.

Übrigens, vor den Artikeln über den Holzdiebstahl hat er sich ebenfalls in mehreren Texten mit dem Thema der Zensur befasst. “Ist die Wahrheit einfach so zu verstehen, daß Wahrheit sei, was die Regierung anordnet” – schon wieder so ein unheimliches Gefühl einer Wiederholung; hinter all dem quietschebunten woken LGBTQXYZ befindet sich eine altpreußische Zensur mit einem viktorianischen Sittenkodex; willkommen in der Vergangenheit.

Das ist die Zeit, die den Kartätschenprinzen hervorbrachte, dessen Schloss man in Berlin unbedingt wiederhaben wollte, und auch ein falsches Schloss an der Stelle eines Palasts der Republik weist in die gleiche Richtung. Dazu passt es dann, dass der brave Bürger sich in sein Schicksal fügt, wenn der Fürst ihm das Frieren weist, und bibbernd dennoch der Versuchung zu Unruhe und Aufruhr widersteht.

Eine Zeit, die Fürsten hervorbringt, oder zumindest Fürstenimitate mit Fürstengehabe, die Wahrheiten vorgibt und das Holzsammeln unter Strafe stellt, die kommt nicht aus ohne jene Art Lakaien, die ihrer Herrschaft nach dem Munde reden und sich mit Kratzfüßen und Bücklingen durchs Dasein bewegen. Die aber selbstverständlich, wenn sie in Kontakt mit dem gemeinen Volk gerät, sich ebenso über dieses erhaben fühlen wie ihre Herrschaft. Nicht wahr, Herr Blome? Es ist auch weder gut fürs Rückgrat noch für das Gemüt, tagein, tagaus Leib und Gedanken zu beugen, da drängt es gerade danach, endlich Dampf ablassen zu können wider den Pöbel, der es durch seine schiere Existenz wagt, daran zu erinnern, dass ein menschliches Rückgrat für eine aufrechte Haltung gedacht ist.

“Der Kanzler versuchte es mit Ironie gegenüber Leuten, die man früher ‘Pöbel’ genannt hätte, und früher war bekanntlich nicht alles schlechter. Das hat Stil, aber ob es hilft?” Man sollte solche wie Blome verpflichten, sich ihrer Gesinnung gemäß zu kleiden. Bei Blome sehe ich vor mir gestreifte Kniehosen, Riechfläschschen und eine Perücke, Schuhe mit leichten Absätzen und quadratischen Schnallen. Ich weiß aber nicht, ob in der Spiegel-Redaktion Platz für Binsen am Fußboden ist, damit der Herr auch zeitgerecht seine Notdurft verrichten kann.

Übrigens war der Anlass die Frage an Bundeskanzler Olaf Scholz, ob er auf Demonstranten schießen lassen würde; eine Frage, die, wenn man der bereits laufenden Benennung als Staatsfeinden und Umstürzlern folgt, mitnichten so wirklichkeitsfern war, wie Blome das darstellt. Blome unterschlägt von dem ganzen Dialog, nicht überraschend, die abgründige Antwort Scholz’, die, aufgrund welchen unterbewussten Drangs auch immer, mit “Niemand hat vor” begann.

Blomes Karriere ist in sich bereits ein Beleg für die tiefe Verlotterung der deutschen Presse. Er begann bei der Bild, gelangte dann in die Chefredaktion des Spiegel und sitzt jetzt beim Bertelsmann-Sender ntv. Früher, als der Spiegel noch gelegentlich lesenswert war, wäre der einzige Bild-Mitarbeiter, der dort Karriere hätte machen können, Günter Wallraff gewesen, weil er nie ein echter Bild-Mitarbeiter war.

Blome ist es gleich, welchem Oligarchen er dient, ob Friede Springer oder Liz Mohn; vielleicht durfte er einer der beiden auch schon einmal die Kekse zum Nachmittagskaffee vorlegen oder mal den Hund spazierenführen, aus ihm spricht jedenfalls der Geist des Wiener Kongresses, um ihn wabert die stickige Luft des Vormärz, als Georg Herwegh, Heinrich Heine und Georg Büchner im Exil schrieben.

“Zum dritten Mal in sieben Jahren stellt sich die Frage, wie man diese Menschen erreicht, die alle menschliche Mäßigung fahren lassen.” Haben sie ihren Darm auf den Schreibtisch des Herrn entleert? Haben sie ihn mit Mistgabeln heimgesucht? Nein, sie lassen den Gehorsam vermissen und wollen nicht anerkennen, “daß Wahrheit sei, was die Regierung anordnet”.

“Es mehren sich die Hinweise, dass es stets dieselben sind, die da am lautesten krakeelen, nicht nur im Osten des Landes.” Blome ist von Herzen Knecht, man verlangt zu viel, wenn er begreifen soll, dass Lakaientum nicht die höchste menschliche Tugend ist. Widerspruch ist ihm, gleich, was der Anlass sei, zutiefst fremd und nötigt ihn, geradezu schamvoll beiseite zu blicken und nur nicht wahrzunehmen, was die Unholde umtreibt. Die selbstverständlich, konform, wie Blome nun einmal ist, gaaaanz rechts stehen, auch wenn die soziale Denomination als Pöbel auf der Skala des alten “Friede den Hütten, Krieg den Palästen” Blome ganz rechts sieht.

“‘Bürger’ ist kein geschützter Begriff, das ist mir klar. Jeder kann sich ‘Bürger’ nennen, auch wenn er mit einem schiedlich-friedlichen Gemeinwesen, Toleranz, Mehrheitsfindung oder sonstigen Gepflogenheiten einer bürgerlich-zivilen Gesellschaft absolut nichts am Aluhut hat. Aber es gibt eben auch eine Grenze, jenseits derer sind bestimmte Bürger nicht mehr besorgt, sondern bescheuert, und es wäre an der Zeit, das einmal laut auszusprechen.”

Zugegeben, das Deutsche hat eine linguistische Schwäche, weil es die französische Unterscheidung zwischen Citoyen – dem Bürger im politischen Sinne – und Bourgeois – dem Bürger als Angehörigen der Bourgeoisie – nicht kennt. Bei Blome würde diese Unterscheidung aber nichts nützen, denn er kennt keinen Citoyen. Er wirft den Besitzlosen vor, nicht das Buttermesser zu gebrauchen; er sieht ein “schiedlich-friedliches Gemeinwesen” dort, wo spätestens seit der Agenda 2010 der Krieg der Reichen gegen die Armen ungehemmt geführt wird, wo in der Hauptstadt jeder zweite Hauseingang bewohnt ist und, siehe oben, das Recht sich munter in den preußischen Absolutismus zurückbewegt. Dort, wo man denkt wie Blome, wurde der Citoyen noch nicht erfunden.

Selbst hygienisch befindet sich Deutschland auf dem Weg ins 19. Jahrhundert. Das 20. kannte sogar in den proletarischen Gefilden den Badetag. Das 19. behalf sich bei ausreichend gegebenen materiellen Gütern mit Waschlappen und Duftwässerchen. Ein leichter Hauch von 4711 liegt über dem Text, aus einem Jahrgang zwischen der Niederlage Napoleons und – ich sage es ungern, Herr Blome, aber so war der Lauf der Geschichte – der Revolution von 1848, die auf den Vormärz folgte.

“Ich jedenfalls bin nicht bereit, mir von einer letztlich recht kleinen Gruppe diktieren zu lassen, in welchen gesamtgesellschaftlichen Modus wir zu schalten haben.” Da sind wir uns ausnahmsweise einig, Herr Blome. Denn da sie wenn sonst nicht viel, doch vermutlich zumindest Latein gelernt haben, wissen sie sicher, dass Pöbel von populus stammt, lateinisch für das Volk, was bedeutet: der Pöbel, das sind immer die Mehreren. Die kleine Gruppe, das sind die Fürsten. Und ihre Lakaien.

Und ich würde an Ihrer Stelle aufpassen, wie weit ich die Zeit zurückdrehe. Die Sitten und Gebräuche, die der von Ihnen mit solcher Befriedigung titulierte Pöbel zur Zeit der Bauernkriege pflegte, wenn es um den Umgang mit Vögten und Pfaffen ging (die in etwa Ihrem heutigen Berufsstand entsprechen sollten), waren noch deutlich unappetitlicher als die jakobinischen.


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