Von Emran Feroz.
Vor Kurzem wurde bekannt, dass President-elect Joe Biden den ersten Afroamerikaner zum Verteidigungsminister seines Kabinetts ernennen wird. Für „woke people“, sprich, jener linksliberalen Blase, die sich stets auf derartige Belange stürzt und dabei praktisch alles andere außer Acht lässt, dürfte dies eine progressive Errungenschaft sein. Doch jenen schwarzen Menschen, die vom US-Militär seit Jahren terrorisiert werden, dürfte es herzlich egal sein, welche Hautfarbe der Mann hat, der sie bombardiert. Dies war übrigens auch bei Bidens Ex-Chef Barack Obama der Fall. Es war nämlich Amerikas erster afroamerikanischer Präsident, der die US-Militäroperationen auf dem gesamten afrikanischen Kontinent massiv ausweitete und dafür in Somalia und anderswo alles andere als zelebriert wurde.
Natürlich gibt es auch andere, ähnliche Beispiele, die in erster Linie nicht mit der großen Weltpolitik zusammenhängen. Anstatt systematische Missstände zu hinterfragen, fokussiert man sich immer mehr auf die kulturelle, religiöse oder ethnische Identität von einzelnen Akteuren in ebenjenem System. Es handelt sich hierbei um eine Diversitätsfalle, sprich, je „bunter“ der neoliberale Markt, desto besser.
Gute Beispiel hierfür sind zurzeit die beiden Gesichter des Corona-Impfstoffes: Das deutsch-türkische Ehepaar Özlem Türeci und Ugur Sahin, die für Biontech/Pfizer Historisches geleistet haben. Die Gesichter der beiden kennt mittlerweile die ganze Welt. Sie wurden nicht nur vom Spiegel, sondern auch von der New York Times, dem Wallstreet Journal und anderen weltbekannten Medien porträtiert. Im Fokus steht dabei vor allem die Tatsache, dass es sich bei Sahin um ein Kind türkischer Gastarbeiter handelt. Deshalb eins vorweg: Natürlich ist es wichtig, in diesem Kontext darauf aufmerksam zu machen. Es kann und darf aber nicht sein, dass man in der deutschen Mehrheitsgesellschaft (oder auch anderswo) erst anerkannt wird, wenn man einen Impfstoff entwickelt und damit der Menschheit einen großen Dienst erfüllt. Die Sichtbarkeit von Menschen mit Migrationserfahrung ist in praktisch allen Branchen immer noch gering. Hinzu kommt, dass ebenjene Menschen medial meist sowieso nur klischeehaft dargestellt werden und es fast schon verwunderlich ist, dass bekannte deutschsprachige Medien nun anders über türkischstämmige Menschen berichten können, anstatt krampfhaft auf Erdogan, Minarett und Kopftuch fokussiert zu sein.
Ebenso lächerlich und fast schon nervtötend ist allerdings auch jenes identitätspolitische Gehabe, das nun die Schlagzeilen dominiert. Natürlich sind auch die Kinder von Migranten Menschen, die Großartiges leisten können. Als Betroffener kommt man sich meist irgendwann blöd vor, wenn man stets auf Herkunft, Religion oder Hautfarbe angesprochen wird, während die eigentliche Leistung in den Hintergrund gerät. Im Spiegel-Interview hat Türeci diesbezüglich einen klugen Satz fallenlassen: „Identifikation ist nichts Negatives, nur die Politisierung von Identität ist schädlich. Das wollen wir unbedingt vermeiden.”
Doch umso schwieriger ist die Vermeidung ebenjener Politisierung. Akteure, die ebenjene Dinge für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren, treten schnell in Erscheinung. Dies kann etwa ein Tayyip Erdogan sein, der nationalistische Töne schwingt und vom Erfinderreichtum des türkischen Volkes schwadroniert. Dies können allerdings auch die Vertreter jener neoliberalen Ideologie sein, die unseren Alltag dominiert und mittlerweile dazu geführt hat, dass ein beträchtlicher Anteil unserer Gesellschaft in einem marktkonformen Käfig verweilt, bestehend aus Amazon, Netflix und unserer eigenen Wohnung, während der sogenannte systemrelevante Teil der Gesellschaft – vom medizinischen Personal bis hin zur Kassiererin – schuftet und schuftet. Ja, auch das sind Realitäten, die weiterhin bestehen.
Nichts hat die Ungleichheit unserer Gesellschaft so deutlich gemacht wie die Pandemie. Während wohlhabende Schichten sich um ihr Eigenheim kümmern oder in Zeiten des Lockdowns ihren Skiurlaub genießen, sind die meisten anderen Menschen wortwörtlich eingesperrt und werden von Existenzängsten, Depressionen und allerlei anderen unschönen Dingen geplagt. Global wird jene Ungleichheit allerdings in einem völlig anderen, besorgniserregenderen Maße deutlich.
Bereits im Vorfeld war klar, dass der Zugang zum Impfstoff ein Privileg sein wird. Nun wird allerdings erst deutlich, wie sehr dies der Fall ist. Der Ausweg aus der Corona-Pandemie wird zahlreichen Gesellschaften im globalen Süden wortwörtlich verwehrt. Nicht wenige Beobachter sprechen in diesem Kontext mittlerweile von einer Corona-Apartheid. Der Impfstoff von Biontech/Pfizer wurde nämlich nicht nur in Deutschland und den USA getestet, sondern auch in der Türkei, Argentinien, Südafrika und Brasilien. Dies hatte sicherlich etwas mit den Infektionszahlen im Sommer und Herbst zu tun. Es gab aber auch andere Gründe. Wie in anderen Bereichen ist auch die Impfforschung in den betroffenen Staaten deutlich billiger als in der westlichen Hemisphäre. Man kann in diesem Kontext von einer gezielten Ausbeutung der Testobjekte sprechen. Betroffene aus jenen Staaten sind aufgrund der bestehenden Umstände in jederlei Hinsicht weniger geschützt und den Pharmakonzernen ausgeliefert; vor allem, falls in der Testphase etwas schieflaufen sollte. Hinzu kommt, dass nach erfolgreichen Tests den meisten Menschen der Zugang zu Medikamenten und Impfstoffen verwehrt wird. Auch dies ist nun der Fall. In einem Schreiben bedankte sich Pfizer-Chef Albert Bourla für die Teilnahme der rund 44.000 Freiwilligen. Gleichzeitig wurde allerdings deutlich, dass jene vier südlichen Staaten bei weitem nicht genug Impfeinheiten erhalten werden, um ihre Bevölkerungen zu schützen. Ähnliches ist in bei zahlreichen anderen Ländern der Fall. Der Grund: Die USA, die EU und Kanada haben den Großteil der Impfstoffe aufgekauft – und zwar je nach Region drei- bis sechsmal so viel, wie für eine vollständige Impfung der gesamten Bevölkerung nötig wäre.
Das US-Magazin Foreign Affairs spricht korrekterweise von einem „Impfnationalismus“, der von der westlichen Welt ausgelöst wurde und zu einer Verlängerung der Pandemie führen wird. Einer aktuellen Studie zufolge haben Staaten, die zusammen lediglich ein Siebtel der Weltbevölkerung repräsentieren, bereits mehr als die Hälfte aller wirksamen Impfstoffe für sich gesichert. Laut COVAX, einem Anti-Corona-Programm der WHO, das den fairen, globalen Zugang zum Impfstoff ermöglichen soll, könnte sich aufgrund der bestehenden Ungleichheiten die Pandemie massiv in die Länge ziehen. Zahlreiche Staaten des globalen Südens könnten demnach erst im Jahr 2024 ausreichend Impfstoff erhalten.
Angesichts dieser Ungleichheit erscheint die Profitgier führender Pharmaunternehmen umso perverser. Laut dem US-Finanzdienstleister Morgan Stanley hat Pfizer bereits im vergangenen Jahr rund eine Milliarde Dollar mit dem Corona-Impfstoff umgesetzt. In diesem Jahr rechnet man mit weiteren neunzehn Milliarden, die im Anschluss mit Biontech geteilt werden müssen. Andere Unternehmen wie Moderna rechnen ebenfalls mit Einnahmen in Milliardenhöhe. Die Forderung nach einem billigeren oder gar kostenlosen Impfstoff bezeichnete Pfizer-Chef Bourla als „radikal“.
Ein beträchtlicher Teil dieser Profite geht natürlich auch in die Taschen des Ehepaars Sahin und Türeci. Sie gehören damit zu den reichsten Deutschen. Der Reichtum soll ihnen gegönnt sein. Ihre Erfolgsstory ändert allerdings nichts an den grundlegenden Problemen unserer Gesellschaft, die weiterhin bestehen bleiben werden. Der Weg zur Gleichheit führt nämlich gewiss nicht über die Diversität der Ungleichheit.
Titelbild: adrianosiker.com/shutterstock.com und SPIEGEL.de