- Wurde in Brüssel tatsächlich eine Reform beschlossen oder bleibt im Prinzip alles beim Alten?
Die Europäische Kommission hat jetzt ihr lange angekündigtes Reformpaket zur Neuregelung der Asyl- und Migrationspolitik vorgelegt. Im Zentrum steht dabei die sogenannte Dublin-Regelung, die nun nicht etwa – wie in einigen Kommentaren vorschnell behauptet wird – abgeschafft wird. Sie wird vielmehr verändert. Sie ist ja schon in den letzten Jahren mehrfach überarbeitet worden und wird nun als Dublin 4 abermals reformiert.
Die Dublin-Regelung bedeutet zusammengefasst folgendes: Migranten und Flüchtlinge müssen in dem Staat ihren Asylantrag stellen, in dem sie erstmals den Boden eines EU-Mitgliedslandes betreten. Der Antrag muss dann dort bearbeitet und auch entschieden werden. In der Regel sind dafür also Griechenland, Italien oder Spanien verantwortlich. Halten sich die Ankommenden aber nicht daran und reisen einfach in ein EU-Land ihrer Wahl weiter – etwa nach Deutschland –, so kann dieses Land sie innerhalb einer gewissen Frist in das Ankunftsland zurückbringen lassen. Es kann die Migranten und Flüchtlinge aber auch in ein anderes Land der EU überstellen, durch das sie auf ihrem Weg nach Kerneuropa gekommen sind.
Dieses Verfahren funktioniert aber seit Beginn nur sehr unzureichend. Die Ankunftsländer an der Peripherie der EU haben selbstverständlich kein großes Interesse daran, dass ihnen die ganze Last der Migration aufgebürdet wird, indem sich die Migranten und Flüchtlinge bei ihnen stauen. Sie sehen es daher nicht ungern, wenn sich die Ankommenden recht bald auf eigene Faust in andere EU-Länder aufmachen, schließlich zieht es sie ja eh nach Kerneuropa. Die davon betroffenen Zielländer schaffen es wiederum nicht, diese illegal Zugereisten in der dafür vorgesehenen kurzen Frist zu erfassen und in das Ankunfts- bzw. in ein anderes Land, welches die Asylsuchenden auf ihrem Weg durchquert haben, zurückzuschieben.
- Welche Veränderungen soll es nun an diesem Dublin-Verfahren geben?
Die Ankunftsländer Griechenland, Italien und Spanien würden es natürlich begrüßen, hätte man das Dublin-Verfahren endlich zu Grabe getragen, sie wären von einer großen Last befreit worden. Das wollten aber die übrigen Staaten der EU nicht, würden sich doch dann die Ankommenden ja vollkommen frei dorthin begeben können, wohin sie gehen wollen, und das wären natürlich die im Verhältnis zur Peripherie relativ reichen kerneuropäischen Länder.
So hat man schließlich zwischen diesen beiden Lagern einen Kompromiss vereinbart: Die Migranten und Flüchtlinge, die bei ihrer Ankunft nachweisen können, dass ihre nahen Angehörigen bereits in einem anderen EU-Land leben, sollen künftig sofort weiterziehen dürfen, um dort das Asylverfahren zu durchlaufen. Das ist das Zugeständnis Kerneuropas an die Peripherieländer. Die Ankunftsländer wiederum sollen künftig ein beschleunigtes Asylverfahren anwenden, das gewährleistet, dass offensichtlich unbegründete Begehren gar nicht erst zu einem ordentlichen Asylverfahren führen, sondern in einem Schnellverfahren abgelehnt werden. Dies soll in etwa so ablaufen, wie bisher schon auf den Flughäfen der EU praktiziert. Dort wird bei Asylsuchenden im sogenannten „Flughafenverfahren“ der Antrag nur überschlägig in wenigen Stunden geprüft. Ist er offensichtlich unbegründet, so schickt man die Eingereisten wieder umgehend in ihr Herkunftsland zurück. Das funktioniert aber nur deshalb, weil die Fluggesellschaften verpflichtet sind, illegal Einreisende wieder zurückzubringen – und zwar auf Kosten der Airline. Bei denen aber, die übers Wasser nach Griechenland, Italien oder Spanien kommen, ist dies nicht so einfach. Sie haben häufig keine Papiere bei sich; und ist ihre Identität bekannt, so verweigern sich oft die Herkunftsländer, sie wieder einreisen zu lassen.
Es ist daher nicht zu erwarten, dass sich an dem bisherigen, unzureichenden Verfahren viel ändern wird. Mit dem neuen, „beschleunigten Grenzverfahren“ wird aber der Wille der EU-Kommission unterstrichen, auf den griechischen Inseln vor der Küste der Türkei aber auch in Malta, auf der italienischen Insel Lampedusa und auf den spanischen Kanarischen Inseln so etwas wie „Ankunftszentren“ zu errichten, wo dann eine Vorprüfung stattfindet, ob überhaupt ein Asylverfahren aussichtsreich ist. Inseln eignen sich dafür besonders gut, da von dort Migranten und Flüchtlinge schlecht auf eigene Faust weiterkommen. Auch deshalb wird das Lager Moria auf Lesbos wiederaufgebaut.
- Ganz offensichtlich gibt es in der EU-Migrationspolitik nicht nur gegensätzliche Interessen zwischen den Peripherie- und den kerneuropäischen Ländern, sondern auch zwischen den osteuropäischen wie Polen, Ungarn und anderen, die keine Migranten und Flüchtlinge aufnehmen wollen, und dem Rest der EU. Werden die neuen Vorschläge der Kommission daran etwas ändern?
Ja, daran wird sich etwas ändern. Die Kommission und die in dieser Frage hinter ihr stehenden Staaten geben ihre seit Jahren aufrechterhaltene Politik auf, die Staaten der Visegrád-Länder – Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn – zur Übernahme von Kontingenten von Migranten und Flüchtlingen zu zwingen. In den vergangenen Jahren wurde dieser Druck beständig erhöht. Die Kommission strengte sogar gegen Polen und Ungarn ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof an, um sie so zu zwingen, ihre Haltung zu korrigieren. Vor allem Sozialdemokraten, Grüne und Linke forderten im Europäischen Parlament immer wieder die Bestrafung dieser unbotmäßigen Länder, etwa durch Kürzungen bei den ihnen zustehenden Mitteln für die Agrar- und Regionalpolitik. All das war am Ende vergeblich. Jetzt hat sich sogar Österreich auf die Seite der Visegrád-Länder gestellt. Die Kommission erkennt jetzt an, dass es nun einmal Ausdruck der Souveränität eines jedes Landes ist, auch eines EU-Mitglieds, zu entscheiden, wen es als Migrant oder Flüchtling aufnehmen will. Das ist ein echter Fortschritt des Vorschlags.
- Nun sorgen die stattdessen vorgesehenen „Rückführungspartnerschaften" schon jetzt für viel Empörung in den sozialen Netzwerken. Zu Recht?
Zu solchen „Rückführungspartnerschaften“ soll es nach dem Vorschlag der Kommission dann kommen, wenn ein EU-Land von einer Flüchtlingswelle überrollt wird – wie 2015 geschehen. Dann soll ein „Solidaritätsmechanismus“ ausgelöst werden, der die anderen Mitgliedsländer zunächst verpflichtet, dem betroffenen Land durch Übernahme von Flüchtlingskontingenten zu helfen. Verweigert sich dem ein Land, so soll es zumindest für die Rückführung abgelehnter Asylbewerber verantwortlich sein. Es wird erwartet, dass es die Mittel und das Personal dafür zur Verfügung stellt. Die von der Abschiebung Betroffenen sollen dafür erst einmal im Land ihrer Einreise bleiben. Erfolgt die Rückführung nicht innerhalb einer Frist von acht Monaten, so soll der helfende Staat sämtliche Ausreiseverpflichteten bei sich aufnehmen. Konkret würde das bedeuten: Ungarn muss die Mittel und das Personal zur Verfügung stellen, um in Griechenland befindliche abgelehnte Asylbewerber in ihre verschiedenen Heimatländer zurückzubringen. Gelingt dies nicht, so muss Budapest sie aufzunehmen.
So etwas kann nur weltfremden Kommissionsbürokraten in Brüssel einfallen – denn das wird niemals funktionieren. Ich sehe darin denn auch nur den hilflosen Versuch, die osteuropäischen Visegrád-Staaten nicht ganz ungeschoren davonkommen zu lassen. Man will sie auf irgendeine Weise an den Lasten der EU-Migrationspolitik beteiligen. Das soll ganz offensichtlich all jene ruhigstellen, die immer noch ihre Bestrafung fordern.
- Wie ist die Performance von Ursula von der Leyen und Deutschland innerhalb der EU zu bewerten?
Das Migrationspaket ist das erste große Gesetzgebungswerk, das Ursula von der Leyen als neue Kommissionspräsidentin vorlegt. Das Programm „Next-Generation EU – für einen Wiederaufbau nach der Pandemie“ wurde ja im Juli vom Rat und nicht von der Kommission beschlossen. Und bei dem von ihr groß verkündeten „Green Deal“ blieb es bislang nur bei Absichtserklärungen.
Bei der Konzipierung des Migrationspaktes war von der Leyen sicherlich noch sehr präsent, dass sie im Juli 2019 nur äußerst knapp zur Kommissionspräsidentin gewählt wurde. Es waren die Stimmen der konservativen Regierungsparteien Polens und Ungarns, die den Ausschlag für sie gaben. Auch deshalb versucht sie wohl jetzt, den Druck auf diese Staaten zu lockern.
Mit dem Pakt liegen neun Gesetzestexte und Empfehlungen mit insgesamt rund 450 Seiten vor. Die meisten Texte gibt es bisher nur in englischen Fassungen. Es wird daher noch ein wenig dauern, bis alle Einzelheiten bekannt werden. Anschließend wird sich dann zeigen, wie der Rat, das Gremium der Regierungen der Mitgliedstaaten, darüber denkt. Und dann hat ja auch noch das Europäische Parlament ein Mitspracherecht.