In Folge der Corona-Krise seit Anfang März werden in der Bundesrepublik deutlich weniger Patienten mit anderen Krankheiten behandelt als vorher. Vor allem in den Krankenhäusern sind die Notfallbehandlungen zurückgegangen. Das hat eine Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der Krankenkasse AOK (Wido) ergeben, die am Donnerstag bekannt wurde.
Danach wurde im März und April dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahreszeitraum in den Krankenhäusern der „stärkste Fallzahlenrückgang“ in absoluten Zahlen bei den Notfallaufnahmen sowie bei Kreislauf-Erkrankungen verzeichnet. Den im Vergleich stärksten Rückgang gebe es bei Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems und des Atmungssystems, heißt es in dem Material. Ein ebenfalls starker Rückgang wird bei Herzproblemen und Herzinfarkten verzeichnet.
Die erfassten Zahlen des Materials umfassen den Zeitraum März bis 23. April. Selbst für diesen quasi unvollständigen Monat wird im Vergleich zum selben Zeitraum 2019 bei Notfallaufnahmen verschiedener Art ein Rückgang von 27.355 Fällen angegeben. Dem folgen Kreislauferkrankungen mit 21.521 Fällen sowie Krankheiten des Muskel-Skelettsystems und des Bundesgewebes mit 18.438 Fällen weniger. Bei Krankheiten des Atmungssystems wurde eine Aufnahmerückgang von 11.300 Fällen verzeichnet.
Der verhältnismäßig stärkste Rückgang wurde mit 66 Prozent bei Krankheiten des Muskel-Skelettsystems und des Bundesgewebes verzeichnet. Danach kommen die Erkrankungen des Atmungssystems mit 51 Prozent und die des Verdauungssystems mit 47 Prozent. Laut dem AOK-Institut ging die Zahl der aufgenommenen Fälle wegen Herzstörungen und Herzinfarkten Ende März um über 40 Prozent zurück, um danach wieder leicht anzusteigen.
Das Institut der Krankenkasse, die etwa 26 Millionen Menschen in der Bundesrepublik betreut, verweist auf Unterschiede in den Bundesländern. Den stärksten Rückgang der Fallzahlen im Vergleich von April 2020 zum Vorjahresmonat habe es mit 47 Prozent in Bayern gegeben. Dem folgen Rheinland-Pfalz sowie Saarland und Hessen mit jeweils 43 Prozent. AOK-weit seien die Krankenhausaufenthalte um 41 Prozent zurückgegangen.
Die kleineren Krankenhäuser verzeichneten den Angaben nach einen verhältnismäßig größeren Rückgang, bis zu 46 Prozent. Auch liegen die öffentlich-rechtlichen Krankenhäuser knapp vor den freigemeinnützigen (von Kirchen oder dem DRK zum Beispiel) und den privaten Klinken. Laut dem „Krankenhausreport 2020“ des Wido gab es 2018 bundesweit insgesamt fast 19 Millionen Krankenhaus-Patienten.
Nachdem die Zahlen am Donnerstag in Medien wie der „Bild“-Zeitung und „Focus online“ für Aufmerksamkeit sorgten, erklärte Wido-Geschäftsführer Jürgen Klauber in einer Pressemitteilung vom selben Tag: „Diese Daten sind noch schwer zu interpretieren.“ Es handele sich um eine „veraltete Auswertung“.
Es müsse erst noch herausgefunden werde, „ob wirklich Versorgungsdefizite entstehen, weil Patienten zu spät zum Arzt oder in die Notfallambulanz kommen“. Es seien „noch längst keine Rückschlüsse auf ein tatsächliches Versorgungsproblem bzw. den wirklichen Umfang“ möglich. Der Wido-Geschäftsführer empfahl den Bundesbürgern, bei potenziell bedrohlichen Beschwerden zum Arzt zu gehen.
Auf die Ursachen der Angst offensichtlich Behandlungsbedürftiger und chronisch Kranker, sich in Arztpraxen oder Krankenhäusern mit dem Virus Sars-Cov 2 anzustecken, ging er nicht weiter ein. Doch nicht nur die Betroffenen verzichten selbst auf notwendige Behandlungen, auch aufgrund der medialen und politischen Angstmache um das Virus und die von ihm laut WHO ausgelöste Krankheit Covid-19. Die geht weiter, auch wenn die Bundesregierung selbst auf ihrer Webseite verkündet:
„Covid-19, die Krankheit, die durch das neuartige Coronavirus verursacht wird, verläuft für die meisten Menschen mild.“
Was der Wido-Chef der AOK selbst relativiert, davor haben bereits seit Märze mehrere Fachärzteverbände und die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) gewarnt. Seit dem 16. März wurde das bundesdeutsche Gesundheitswesen auf den Schwerpunkt Covid-19 ausgerichtet: Krankenhäuser richteten neue Intensivbetten ein, Abteilungen wurden freigeräumt und auch Behandlungen und Operationen abgesagt.
Die Folgen: Nichtausgelastete Kliniken melden Kurzarbeit – und Patienten gehen trotz Erkrankung weniger zum Arzt. Die DKG teilte dazu am 15. April mit:
„Viele Krankenhäuser haben planbare, nicht lebensnotwendige Operationen aufgeschoben. Das betrifft beispielsweise Operationen an der Hüfte oder an Kniegelenken. Viele Kliniken melden inzwischen Belegungsrückgänge von 30 Prozent und mehr. Somit haben wir rund 150.000 freie Krankenhausbetten und ca. 10.000 freie Intensivplätze.“
Es gebe einen „einen erheblichen Rückstau von notwendigen Operationen und Behandlungen“, so die DKG. Mehr als 50 Prozent aller bundesweit geplanten Operationen seien nach dem 16. März abgesagt worden, meldete die Zeitung „B.Z.“ am 17. April. Es handele sich um Tausende notwendige Eingriffe.
DKG-Geschäftsführer Gerald Gaß warnte laut der Zeitung: „Es drohen Menschen zu sterben, weil sie wegen Corona nicht rechtzeitig behandelt werden.“ Nach seinen Informationen haben sich seit Mitte März beim Rettungsdienst 30 bis 40 Prozent weniger Patienten mit Herzinfarkt und Schlaganfall gemeldet: „Und zwar nicht, weil es weniger Erkrankte gibt, sondern weil viele Angst vor Corona haben.“
Zuvor hatten bereits mehrere Fachmediziner-Verbände auf die Folgen hingewiesen, wenn das Gesundheitswesen einseitig auf die Covid-19-Fälle ausgerichtet wird. So warnte die Deutsche Diabetes-Gesellschaft, dass Diabetiker nicht mehr ausreichend versorgt würden, wie die „Ärztezeitung“ am 20. April berichtete. Es gebe einen starken Rückgang der Patientenzahlen in Praxen, Ambulanzen sowie Notambulanzen. Mancherorts seien Diabetes-Abteilungen der Krankenhäuser sogar geschlossen worden.
„Der gesundheitspolitische Fokus hat sich in den vergangenen Wochen so sehr auf die Covid-19-Patienten gerichtet, dass nun chronisch und akut Erkrankte Gefahr laufen, unter die Räder zu geraten“, mahnte DDG-Präsidentin Monika Kellerer laut der „Ärztezeitung“.
Wichtige Arzttermine würden nicht mehr wahrgenommen, Patienten blieben bei akuten Beschwerden zu Hause – „aus Rücksicht auf das Gesundheitssystem, aufgrund falsch verstandener Ausgangsbeschränkungen oder aus Angst vor Ansteckung mit dem Coronavirus“.
Andreas Zeiher ist Direktor der Klinik für Kardiologie, Angiologie und Nephrologie am Universitätsklinikum Frankfurt und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK). In einem Interview auf der DGK-Website berichtete er am 15. April: „An meiner Klinik in Frankfurt kommen 20 bis 25 Prozent weniger Patienten mit akutem Koronarsyndrom notfallmäßig in die Klinik als sonst.“ Das sei ein dramatischer Rückgang, „und dies in einer Zeit, in der man eigentlich aus den Erfahrungen vergangener Influenza-Epidemien eine Zunahme an Herzinfarkten erwarten würde, deren sofortige Behandlung ohne jeden Zweifel lebensrettend ist“.
Gerd Nettekoven von der Deutschen Krebshilfe hatte am 7. April im Sender „Deutschlandfunk Kultur“ von verschobenen und abgebrochenen Therapien sowie abgesagten Rehabilitationsmaßnahmen berichtet. Vor allem würden die Erkrankten während und nach den Behandlungen kaum noch psychisch betreut.
Martin Scherer ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (Degam). Er verwies in seinem Podcast auf der Webseite der „Ärztezeitung“ am 8. April auf die „paradoxe Situation, dass gleichzeitig Arztpraxen im Moment leer stehen, viele Menschen aber medizinisch oder pflegerisch nur schwer betreut werden können“. Scherer warnte vor den „Kollateralschäden“ der Anti-Corona-Maßnahmen.
Der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) Andreas Gassen hatte in einer Online-Pressekonferenz am 16. April erklärt, dass Covid-19 zwar zurzeit das alles beherrschende Thema sei, aber: „Aus ärztlicher Sicht ist das aber nicht die Hauptkrankheitslast.“ Die Behandlung anderer schwerer Erkrankungen wie Schlaganfälle, Herzinfarkte oder Krebs dürfe nicht in den Hintergrund treten. Während diese unbehandelt „fast immer tödlich“ enden, verlaufe eine Infektion mit Sars-Cov 2 in 80 Prozent der Fälle glimpflich.
Der Marburger Bund (MB), der Verband aller angestellten und beamteten Ärztinnen und Ärzte, hatte am Mittwoch eine Umfrage unter 8.707 Medizinern zur Situation veröffentlicht. Zu den Ergebnissen gehört: „Die weitaus meisten angestellten Ärztinnen und Ärzte (57,2 Prozent) geben an, dass ihr Arbeitsaufkommen seit Beginn der Corona-Krise im März 2020 abgenommen hat. Bei etwa einem Viertel (25,1 Prozent) ist es gleichgeblieben und bei 17,7 Prozent der befragten MB-Mitglieder gestiegen.“ Die Anzahl der Covid-19-Patienten in den Kliniken sei niedriger geblieben als zunächst befürchtet.
„Vor allem Ärztinnen und Ärzte, die normalerweise an operativen Eingriffen beteiligt sind, hatten in den zurückliegenden Wochen weniger Arbeit als üblich. In anderen Bereichen, vor allem in der Intensivmedizin, gab es vielerorts ein ganz anderes Bild.“
Mehr als zwei Drittel der angestellten Mediziner würden sich dafür aussprechen, die Regelversorgung in den Kliniken wiederaufzunehmen. Rund zehn Prozent der Befragten hätten angegeben, dass in ihrer Klinik Kurzarbeit eingeführt worden sei. Das sei vor allem in Rehakliniken erfolgt, wo der Kurzarbeit-Anteil bei 54 Prozent liege. Dem folge der ambulante Sektor (32 Prozent) und private Kliniken (12 Prozent). Die Arbeitszeit der Betroffenen wurde den Angaben nach meist bis zu 50 Prozent reduziert.