von Jens Woitas
Wir werden 2024 den Anfang vom Ende einer jahrzehntelang gewohnten Stabilität erleben. Beginnen wir mit den gegenwärtigen Bauern- und Unternehmerprotesten. Diese haben mit der beeindruckenden Berliner Demonstration des 15. Januar keineswegs ein Ende gefunden, sondern fangen vielleicht erst richtig an. Die etablierte Politik hat auf sie weitgehend mit Ignoranz reagiert, sodass ihre Anlässe unverändert fortbestehen. Es haben sich Protestnetzwerke gebildet, die mit den althergebrachten Interessenverbänden nur noch wenig gemeinsam haben. Was wir vom 8. bis zum 15. Januar gesehen haben, war sehr wahrscheinlich nur ein Vorzeigen von Folterwerkzeugen in Gestalt von Traktoren und Lastwagen, die bis jetzt überwiegend öffentlichkeitswirksam geparkt wurden.
Damit verbunden ist aber die Macht, Logistiksysteme zu blockieren und lahmzulegen, von deren Funktionieren unsere hochkomplexe Gesellschaft völlig abhängig ist. Im klassischen Industriezeitalter waren es die einfachen Arbeiter, welche Unternehmen und Staatsmacht mittels Streiks sehr deutlich machen konnten, dass in letzter Konsequenz fast alles von ihnen abhing: „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.“ Heute haben Spediteure eine ähnliche Macht, die ihnen – wie einst der Arbeiterbewegung – langsam, aber sicher bewusst wird. Wenn sich zu Blockaden von Logistikzentren durch Nutzfahrzeuge und dem Ausbleiben von LKW-Transporten noch ein Streik der Lokführer von Güterzügen hinzugesellt, kommt es zu einem Absturz ins Chaos, mit dem sich praktisch jede Forderung durchsetzen ließe.
Obwohl ich in meinem Leben fast immer revolutionärem Denken und Handeln zugeneigt war, will ich eine solche Entwicklung hier nicht herbeijubeln. Der Nachteil der Bauern- und Unternehmerproteste besteht darin, dass hier letzten Endes nur Gruppen für ihre eigenen Interessen kämpfen, denen es (noch) nicht wirklich schlecht geht. Es können dabei nur einseitige Vorteile erpresst werden, die den wirklich Armen und Unterprivilegierten in unserer Gesellschaft nichts nützen. Diese Gruppen werden derzeit noch durch eine Kombination aus relativ auskömmlichen Sozialleistungen und Massenunterhaltung („Brot und Spiele“) vom Staat ruhig gehalten. Erst wenn fehlgeleitete Politik den materiellen Spielraum für immer weitere soziale Umverteilung vollständig ruiniert hat, wird es zu einer wirklichen sozialen Revolution kommen. Diese wird dann aber mit hoher Wahrscheinlichkeit mangels politischer Programmatik einen rein destruktiven Charakter mit Gewaltausbrüchen und Plünderungen annehmen und ebenfalls einen Absturz ins Chaos verursachen.
Kommen wir nun zum nächsten innenpolitischen Konfliktherd, nämlich dem Streit um Rechtsextremismus und AfD-Verbot. Hinter der Fassade einer vorgeblich liberal-konservativen Partei erscheinen bei der AfD immer deutlicher hässliche Fratzen von genereller Fremdenfeindlichkeit, Sozialdarwinismus und einem Wunsch nach autoritärer Herrschaft. Gleichzeitig gibt es aber keine glaubhafte „Alternative zur Alternative“, sodass Oppositionellen – ich selbst eingeschlossen – kaum etwas anderes übrigbleibt, als die AfD zu wählen. Der polit-mediale Mainstream reagiert auf die zunehmende Rechtsradikalisierung mit Methoden, die letzten Endes zum Schutze der Demokratie eben jene Demokratie massiv gefährden: Bespitzelung privater Treffen durch mit Steuergeld finanzierte „Faktenchecker“, parteiische Kampagnen in eigentlich zur Ausgewogenheit verpflichteten öffentlich-rechtlichen Medien und immer lautere Rufe nach einem Parteiverbot, das ein Viertel bis ein Drittel der Wähler ihres Stimmrechtes und ihres Anspruches auf parlamentarische Repräsentation berauben würde. Diese Wähler würden dann praktisch dazu gezwungen, als Ersatz für die AfD Parteien wie „Die Heimat“ (ehemals NPD) zu wählen, womit die Regierung immerhin imaginäre durch echte Nazis ersetzt hätte.
Diese verfehlte Politik gegen die AfD erreicht derzeit dadurch eine neue Qualität, dass die Regierung dazu aufruft, gegen die einzig wirkliche parlamentarische Opposition zu demonstrieren. Hier tun sich bei näherer Betrachtung wahre Abgründe auf: Glaubt die Bundesregierung selbst nicht mehr an ihre eigene demokratische Legitimation durch Wahlen und muss sich deshalb diese Legitimation auf der Straße beschaffen? Welche positiven Inhalte sind eigentlich mit diesen Demonstrationen verbunden? Es drängt sich bei mir der Eindruck auf, dass hier mit Massenprotesten eine autoritäre Herrschaftsform legitimiert werden soll, die entsprechenden Phantasien aufseiten der AfD in nichts nachsteht. Demokratie verachtende Äußerungen gibt es nicht nur von der politischen Rechten, sondern auch im Mainstream. Sie verstecken sich dort nur hinter der Vorstellung, dass die „Massen“ zu dumm seien, um selbst über ihre Angelegenheiten zu entscheiden und dies besser „Eliten“ überlassen sollten, an deren Berufung zu einer solchen Rolle aber – gelinde gesagt – erhebliche Zweifel bestehen.
Dieses ganze Szenario erinnert immer mehr an jenen Wettlauf in die Diktatur, welcher die letzten Jahre der Weimarer Republik prägte. Heute wie damals haben zum Dauerzustand gewordene Notstände die Demokratie ausgehöhlt. Man kann die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten von 1933 nicht ohne Berücksichtigung des Umstandes verstehen, dass die Weimarer Republik durch die Inflation von 1923 und das Elend der Weltwirtschaftskrise nach 1929 ihre Legitimation weitgehend verspielt hatte. Hitler kam weniger deshalb an die Macht, weil „die Demokraten“ zu wenig „gegen rechts“ gekämpft hätten, sondern weil im Vorfeld des 30. Januar 1933 zwei Möglichkeiten einer besseren Entwicklung entweder nicht erkannt oder leichtfertig nicht genutzt worden waren. Die eine bestand in der Erkenntnis, dass ein Ausweg aus der wirtschaftlichen Depression nicht durch Austeritätspolitik, sondern nur durch radikale ökonomische Expansion möglich war. Was nach 1933 “die Nazis“ intuitiv richtig erkannten und praktizierten, hätten auch die Präsidialkabinette der letzten Weimarer Jahre tun können. Die andere Möglichkeit wäre ein Zusammenwirken von SPD und KPD gegen die NSDAP gewesen. Beide Arbeiterparteien hatten bei jeder freien Reichstagswahl zusammen mehr Stimmen erhalten als die NSDAP.
Statt eine parlamentarische und außerparlamentarische Koalition zu bilden, verdammten sie sich gegenseitig als „Faschisten“. Ähnlichkeiten zu unserer Gegenwart sind unübersehbar. Die 2007 begonnene Weltfinanzkrise wurde genauso wenig jemals bewältigt wie die 2010 begonnene Eurokrise. Mit der Hochrisikostrategie des “Great Reset” ist dieser Dauernotstand seit dem Beginn der Corona-Krise nur in eine noch schlimmere Phase eingetreten. Auch die gegenseitige Beschimpfung potentieller Bündnispartner als „Faschisten“ beziehungsweise „Marxisten“ tritt in unserer Gegenwart wieder auf. Sie wird zuverlässig eine Zusammenarbeit der AfD mit Sahra Wagenknechts BSW verhindern, die vielleicht die einzige Chance für eine Rückkehr zur Vernunft in Deutschland darstellt. Dies ist übrigens kein Widerspruch zu meiner weiter oben geäußerten Kritik an der AfD. Ein Links-Rechts-Bündnis, das seinem Wesen nach in Wirklichkeit das deutsche Volk gegen seine selbsternannten Eliten einigen würde, müsste meiner Meinung nach quasi von selbst zu einer wohltuenden Entradikalisierung der an ihm beteiligten Kräfte führen.
Statt einer solchen Entwicklung endlich Raum zu geben, wird von Tag zu Tag mehr an den tragenden Balken unserer Demokratie gesägt. Die AfD ist daran keineswegs unschuldig, aber den größeren Teil der Verantwortung tragen autoritär agierende Mainstream-Politiker und eine Linke, die sich jeglichen sozialen Impulses entledigt hat. Der Wettlauf in die Diktatur beginnt aber nicht erst in diesen Tagen, sondern hatte seinen Anfang spätestens Anfang 2020 mit Angela Merkels „Thüringenschlag“ und der weitgehend anlasslosen Ausrufung der Corona-Krise. Seit diesen Ereignissen existieren Demokratie, Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit in der Bundesrepublik nur noch nach dem Gutdünken der jeweils Regierenden, also faktisch überhaupt nicht mehr. Das deutsche Volk nahm dies alles – bis auf die gewaltigen, aber letztlich erfolglosen Querdenker-Demonstrationen des August 2020 – mit stillschweigender bis offener Zustimmung an, hatte also selbst auch kein Interesse an wirklicher Demokratie mehr. Seitdem gibt es im Grunde genommen nur noch zwei gleichermaßen schlechte Alternativen: Den regierungsamtlichen Linksautoritarismus, der in diesen Tagen sein wahres Gesicht zeigt, oder aber einen Autoritarismus von rechts, der zwar im Namen des „Volkes“ agieren würde, aber dieses Volk nicht wirklich repräsentieren könnte. Wir sehen ein Vorbild dafür in Viktor Orbáns Ungarn. Dort haben die Rechtsnationalen genau die Rolle inne, die bei uns das polit-mediale Establishment der selbsternannten Mitte spielt. Sie herrschen mit den Mitteln von Korruption, Medienkontrolle, regierungsnahen NGOs und sozialer Ausgrenzung der Opposition, nur die Rollen von Herrschern und Beherrschten haben sich gegenüber Deutschland vertauscht. In Russland ist ein ähnlicher Zustand seit dem Beginn des Ukraine-Krieges immer mehr zur totalitären, faschistischen Diktatur eskaliert.
Die Problematik geht in Deutschland über den Hang von Regierung wie Opposition zum Autoritären hinaus: Beide Seiten stehen sich völlig unversöhnlich und kompromissunfähig gegenüber, aber keine besitzt die kritische Masse, um sich wirklich durchzusetzen. Die Regierungspropaganda kann die Umfragewerte der AfD trotz aller Diffamierungen nicht drücken, aber gleichzeitig steigen diese Werte trotz der allgemeinen Unzufriedenheit auch nicht mehr an. 45,7 Prozent für den AfD-Kandidaten Uwe Thrum bei der Landratswahl im thüringischen Saale-Orla-Kreis sind angesichts der „Remigrations-Affäre“ ohne Zweifel ein Spitzenergebnis. Es gab aber in Thüringen innerhalb der letzten zwölf Monate vier solche Wahlen (Landrat oder Oberbürgermeister), bei denen AfD-Kandidaten im ersten Wahlgang immer um 45 Prozent der Stimmen erhielten. Dies ermöglicht eine gute Prognose für Björn Höckes Potential bei der kommenden Landtagswahl, aber es scheint zugleich eine Obergrenze des AfD-Wählerpotentiales zu sein, das in anderen Bundesländern – vielleicht mit Ausnahme Sachsens – niedriger liegen dürfte als in Thüringen. Für absolute rechte Mehrheiten wird es also 2024 kaum reichen. Andererseits hat auch der ausgelaugte polit-mediale Machtkomplex nicht wirklich die Stärke für die Etablierung einer autoritären Herrschaft. Hier liegt auch der entscheidende Unterschied zu 1933. Das Wettrennen in die Diktatur wird in unseren Tagen sehr wahrscheinlich keinen Sieger hervorbringen, sondern mit einem Absturz der Demokratie in innenpolitisches Chaos enden.
Man kann dieses Bild noch erweitern: Im Grunde genommen kämpfen hier zwei Zwerge miteinander, während daneben ein Riese lauert, nämlich der (politische) Islam. Letzterer besitzt im Übermaße das, was sowohl dem linksgrünen Establishment als auch der rechten Opposition fehlt: Eine starke religiöse Fundierung politischer Inhalte, ein hohes Gewaltpotential und eine kohärente Ideologie. Trotzdem könnte er eine Islamisierung Deutschlands nicht aus eigener Kraft erzwingen. Sie wäre nur möglich, wenn die Mehrheit der Stammdeutschen aus schierer Verzweiflung über die tiefe Sinnkrise der westlichen Moderne und auch auf der Suche nach einem Ausweg aus dem Chaos schließlich das politisch-juristische System des Propheten Mohammeds als Ordnungsfaktor akzeptieren würde. Ich halte solch ein Szenario keineswegs für ausgeschlossen. Ob es wünschenswert wäre, ist eine andere Frage.
Natürlich gibt es auch noch außenpolitische Faktoren, die zu einem Absturz ins Chaos beitragen können: In der „Bild“ war kürzlich zu lesen, dass im Bundesverteidigungsministerium ein Angriff Russlands auf NATO-Gebiet und damit auch auf die Bundesrepublik schon zur Jahreswende 2024/25 für möglich gehalten wird. Angesichts der praktisch nicht vorhandenen Verteidigungsfähigkeit nicht nur der Bundeswehr, sondern fast aller europäischer NATO-Armeen wäre ein solcher Angriff das Ende aller Stabilität, denn auch ein siegreiches Russland wäre nicht stark genug, um für ganz Europa als Ordnungsfaktor zu wirken. Die Sowjetunion war im Kalten Krieg schon mit einer solchen Rolle für Ostmitteleuropa hoffnungslos überfordert. Natürlich müsste man bei einem russischen Angriff auch mit einer US-amerikanischen Reaktion rechnen, welche das Ganze für Deutschland noch schlimmer machen würde und sogar in seiner nuklearen Verwüstung enden könnte. Die USA könnten auch schon sehr bald der Versuchung erliegen, auch ohne einen russischen Angriff auf die NATO mit Luftangriffen auf die russischen Invasionstruppen in der Ukraine einen Befreiungsschlag aus der Krise der Biden-Administration zu wagen, die sich gegenüber dem wiedererstarkten Donald Trump in einer ähnlich misslichen Lage befindet wie die deutsche Bundesregierung gegenüber der AfD. Unabhängig von all dem geht auch der Zustrom von Asylmigranten in ein ausgelaugtes Deutschland unvermindert weiter. Er wird sich aller Voraussicht nach 2024 sogar drastisch steigern und könnte im Falle eines jähen Zusammenbruches der Ukraine, einer Massenvertreibung von Palästinensern aus dem Gazastreifen oder sogar einer militärischen Zerschlagung des Staates Israel durch den Iran und seine Verbündeten dramatische Formen annehmen. Auch auf diesem Feld droht ein Absturz Deutschlands ins Chaos.
Es stellt sich abschließend die Frage nach möglichen Auswegen aus dem Chaos oder noch besser nach dessen Vermeidung. Ein oppositionelles Rechts-Links-Bündnis zur Rettung der Bundesrepublik wäre eine solche Möglichkeit. Wie ich aber weiter oben schon ausgeführt habe, erscheint dies als unwahrscheinlich. Denkbar wäre auch ein Befreiungsschlag aus der politischen Mitte heraus. Man hätte dann wirklich aus der Geschichte von 1933 gelernt, eben nicht nur „gegen rechts“ zu kämpfen, sondern die dem Aufstieg der Rechten zugrunde liegenden Probleme zu lösen. Es sieht aber nicht so aus, als ob der polit-mediale Machtkomplex noch zu einer solchen Erkenntnis in der Lage sein könnte. Vielleicht fehlen ihm aufgrund äußerer Zwänge, welche der Öffentlichkeit verborgen bleiben, auch die Handlungsmöglichkeiten dazu. Die Regierung könnte zwar auf einige zentrale Forderungen der Opposition eingehen. Dies käme aber höchstwahrscheinlich viel zu spät und würde nur einem Triumph der Rechten den Weg ebnen. Ich rechne mit einem anderen Szenario, das die Probleme zwar abmildern, aber nicht wirklich lösen würde: Regierung und CDU/CSU werden sich auf eine Abschaffung der Schuldenbremse des Grundgesetzes verständigen und dann zu einer altbekannten Strategie zurückkehren, die aus ihrer Sicht als alternativlos erscheint, nämlich dem Zukleistern politischer und sozialer Widersprüche mit künstlich erschaffenem Geld. Auf diese Weise könnte der Absturz ins Chaos noch eine Zeitlang vermieden werden. Dauerhaft aufhalten ließe er sich aber nicht.