Stimmzettel zur Bundestagswahl wird zerknüllt
Von Tom J. Wellbrock
Eindrucksvolle (oder erschreckende, je nach Perspektive) 40 Prozent der Wahlberechtigten in Niedersachsen gingen entweder nicht zur Wahl oder entschieden sich, ungültig zu wählen. Damit toppen die Nichtwähler die Ergebnisse des Wahlsiegers SPD um Längen. Und es ist noch schlimmer. Laut einer Umfrage waren Ende September 60 Prozent der in Deutschland Wahlberechtigten der Meinung, dass keine der wählbaren Parteien die Probleme des Landes lösen könne. Am 4. Oktober, eine Woche später, war die Zahl schon auf 63 Prozent gestiegen. Der Umfrage zufolge rechnen lediglich neun Prozent der Bundesbürger überhaupt noch damit, dass sich die wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland in den nächsten Jahren verbessern werden.
Normalerweise müssten diese Zahlen Politiker sämtlicher Parteien in einen Panikmodus versetzen. Aber was ist heute schon normal?
Die Linke als repräsentative Ignoranz-Instanz
Nur 2,7 Prozent der Stimmen in Niedersachsen erhielt die Partei Die Linke. Das müsste man als desaströs bezeichnen und Konsequenzen ziehen, sicherlich in personeller, aber in erster Linie inhaltlicher Ausrichtung. Doch davon merkt man nichts, im Gegenteil. Heidi Reichinnek (Landesvorsitzende Niedersachsen) frohlockte sogar, dass die Partei Zugewinne verbuchen konnte:
"Ich möchte auch einen Punkt nennen, den ich sehr positiv finde, und das ist der bei den Erstwähler*innen, bei denen wir im Vergleich zu den sonstigen Stimmen ziemlich gut abgeschnitten haben. Also, die weiblichen Erstwähler*innen haben uns zu sieben Prozent gewählt, die Menschen zu sechs Prozent, das freut mich als kinder- und jugendpolitische Sprecherin natürlich besonders."
"Weibliche Erstwähler*innen" und "Menschen" also … ich wage kaum die Frage zu stellen, ob es auch männliche Erstwähler*innen gibt oder ob das nicht "Männer" wären. Aber vermutlich würde mich die Antwort auf diese Frage bloß verunsichern, also stelle ich sie besser gar nicht erst.
Allein dieser eine Satz verrät viel über das Selbstverständnis der Linken. Die Partei ist von ihrem Klientel so weit entfernt wie Philipp Amthor von der Fähigkeit, einen guten Witz zu erzählen. Damit kommen wir zum grundsätzlichen Problem der Politik.
Bundes- oder Landespolitik? Egal, Hauptsache am Wähler vorbei!
Laut ARD waren die wichtigsten Themen der Wähler: Energieversorgung (27 Prozent), Preissteigerungen (19 Prozent) und das Klima (17 Prozent). Bildung brachte es auf 13 Prozent und – Karl Lauterbach muss jetzt sehr tapfer sein – Corona auf 1 Prozent.
Wirklich überraschen kann diese Gewichtung nicht, immerhin geht es für viele Menschen um nicht weniger als die Existenz. Wie bereits weiter oben erwähnt, glaubt ein Großteil auch nicht daran, dass sich in wirtschaftlicher Hinsicht in den nächsten Jahren etwas verbessert.
Der Druck, der auf die Bevölkerung seit Beginn der Corona-Episode aufgebaut wurde, hat eine Intensität und Kontinuität entwickelt, die ihresgleichen suchen. Niemand in den entsprechenden Positionen hat den unbedingten Willen, daran etwas zu ändern. Stattdessen wird weiter verheerende Politik gemacht, das Gesundheitssystem droht einmal mehr (oder besser: diesmal wirklich), in sich zu zerbröckeln, weil die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung etliche Kliniken dem betriebswirtschaftlichen Aus bedrohlich näherbringt. Kleinere Unternehmen und Privatleute sehen sich der Insolvenz näher als dem nächsten bezahlbaren Urlaub, für Unternehmen, die es können, ist der Gang ins Ausland oft der einzig verbliebene Weg, ihre Existenz zu retten.
Der Eid, Schaden vom deutschen Volke abzuwenden, ist inzwischen – und dieser Abstieg geschah in Rekordgeschwindigkeit – so wertlos wie eine an die Wand geworfene Pfandflasche. Was folgt daraus? Nicht etwa nur ein "Weiter so", sondern gleich ein "Wir machen's noch schlimmer!". Sehenden Auges steuern wir dank unserer verantwortlichen, pardon, verantwortungslosen Politik auf den Status eines wirtschaftlichen Entwicklungslandes zu, die es kategorisch ablehnt, sich für die Belange der Bevölkerung einzusetzen.
Thematisiert wird nichts von diesen wenigen Themen, die die Nichtwähler hoffentlich auf die Straße bringen, aber sehr wahrscheinlich von den Wahlurnen ferngehalten haben. Womöglich reicht inzwischen schon die bloße Erwähnung des Wortes "Urne", um suizidale Assoziationen zu erzeugen, von denen man sich aber als Wesen, das leben möchte, lieber fernhalten will.
Systembedingtes Nichtwählen
Nichtwähler gab es schon, seit es Wahlen gibt. Doch zwei Aspekte sollten der Politik zu denken geben:
Politik, die sich dem Wohle des Volkes verpflichtet sieht, müsste erkennen, dass sie – wie im Falle Niedersachsens – 40 Prozent davon nicht erreicht. Damit ist die eigene Existenz als Politiker faktisch nahe der Bedeutungslosigkeit, zumindest was das Empfinden der Bevölkerung betrifft. Umso vielsagender ist es, dass es kaum thematisiert wird, wenn beinahe die Hälfte der Menschen, deren Wohl man sich theoretisch verpflichtet fühlen müsste, nur noch die kalte Schulter im Angebot hat.
Noch dunkler wird die Aussicht, wenn man sich über die Gründe der Nichtwähler Gedanken macht. Und die liegen auf der Hand: Wenn tatsächlich 60 Prozent der Bundesbürger (Tendenz: steigend) nicht der Meinung sind, dass die wählbaren Parteien die Kompetenz besitzen, die Probleme lösen zu können, führt das zur logischen Annahme, dass nicht die Parteien das Problem sind, sondern das System.
Es gab Zeiten – die Älteren, die ganz Alten und die, die nicht mehr unter uns weilen, werden sich erinnern –, da gab es im Profil von SPD und CDU erhebliche Unterschiede. Sie standen für Arbeiter und Besserverdienende, die FDP für ihre Unternehmensnähe, die Grünen für Umweltschutz und Frieden, die Linken für den Fokus auf die soziale Frage.
Davon ist nichts mehr geblieben. SPD und Union versuchen verzweifelt, sich voneinander abzugrenzen, was krachend scheitert, weil da nichts mehr ist, wovon man sich gegenseitig abgrenzen kann. Die FDP dümpelt – bereit für jeden Deal mit der Wirtschaft, der gerade noch als "Klüngelei" und noch nicht ganz als "Korruption" bezeichnet werden kann – vor sich hin. Die Grünen täten gut daran und würden sich endlich einmal ehrlich machen, wenn sie sich vor Panzern fotografieren lassen würden, und Die Linke erschöpft sich in ihren sozialen Aktivitäten auf die sozialen Medien, fühlt sich "weiblichen Erstwähler*innen" verbunden und kennt Begriffe wie "Fabrik" oder "Fließband" nur aus Filmen, die abends bei Rotwein und französischem Käse auf dem Großbildschirm im heimischen Wohnzimmer angeschaut und bis ins letzte Detail anschließend gesellschaftspolitisch analysiert werden.
Da ist nichts mehr zum Wählen
Die Nichtwähler haben recht! Es mag sein, dass sie durch ihre Entscheidung keinen Einfluss mehr darauf nehmen können, wer unser Land regiert. Aber wenn sie ohnehin zum Ergebnis kommen, dass es keinen Unterschied macht, wer uns regiert, ist ihre Entscheidung, sich von der Urne fernzuhalten, schlüssig.
Das Fatale daran ist die ignorante Reaktion der Politik. Sie schiebt diese Wirklichkeit einfach beiseite, nimmt auf den Stühlen Platz, die für sie vorgesehen sind und erfreut sich an der Zeit bis zur nächsten Wahl. Selbst Wahlverlierer wie die FDP oder Die Linke sehen keinen Grund zur Sorge. Auf der Entscheidungsebene sind die Posten vorerst sicher, ein paar Bauernopfer in den niederen Gefilden der Parteien (Die Linke hält nicht einmal das für nötig) schmerzen nicht wirklich, sondern erwecken den Eindruck der Selbstkritik.
All das ist geheuchelt und gelogen! Das System der Parteien ist stabil, es wird von Wirtschaft und Lobbyisten gehegt und gepflegt, sodass jeder bekommt, was er will.
Jeder? Nein, natürlich nicht jeder. Die Wähler und die Nichtwähler, die bekommen nicht, was sie wollen. Sie erhalten inzwischen nicht mal mehr, was sie unbedingt brauchen und werden stattdessen von Waschlappen in der Politik auf das richtige Duschen hingewiesen.
Und mal ehrlich: Wenn Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen) Ihnen großväterlich zu erklären versucht, was Sie tun müssen, um Ihre Heizung auszumachen: Haben Sie dann noch große Lust, ihm bei der nächsten Wahl Ihre Stimme zu geben?