Symbolbild aus dem Jahr 2017: Professor Dr. Hans-Werner Sinn, Nationalökonom und Finanzwissenschaftler beim Neujahrsempfang von ZEISS in Jena.
Gerade erst hatte Finanzminister Lindner die Bürger bereits für die nahe Zukunft auf Jahre der Entbehrungen und eine "ernstzunehmende Wirtschaftskrise" eingeschworen, da prophezeite nun auch der ehemalige Präsident des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, Hans-Werner Sinn, sehr schwierige Zeiten.
Sorgen um die Zukunft seien für die Deutschen schon ohne den Krieg in der Ukraine berechtigt. Im Interview mit dem Merkur warnte der Wirtschaftswissenschaftler – wie vor ihm bereits zahlreiche unterschiedliche Stimmen – vor den unterschätzen Folgen eines noch immer debattierten Gasembargos. Es würde Deutschland zumindest kurzfristig in massive Schwierigkeiten bringen.
"Die Rechnungen, die da gemacht werden bezüglich eines nur geringen Einbruchs des Bruttoinlandsprodukts, sind nicht zielführend, weil das Bruttoinlandsprodukt gar keine Importe erfasst, also auch nicht den unmittelbaren Schaden durch fehlende Gasimporte. Wenn wir frieren, weil das Gas fehlt, taucht das in diesen Rechnungen nicht auf."
Dass in einem solchen Fall, ähnlich wie bei der Corona-Pandemie, der Staat für einen gewissen Ausgleich sorgen könnte, sieht der Top-Ökonom als keine reelle Option. Mit Finanzhilfen könnten in diesem Fall Zusammenbrüche nicht verhindert werden, da damit kein Gas herbeigeschafft werden könne.
"Es fehlen Terminals für LNG, also Flüssiggas. Die ersten werden 2026 betriebsbereit sein. Und das schwimmende Terminal, das eventuell Ende des Jahres verfügbar sein wird, hat eine viel zu kleine Kapazität."
Während Finanzminister Lindner gerade – beinahe zeitgleich mit der Ankündigung bald bevorstehender Entbehrungen – noch betont hat, "Putin hat uns nicht in der Hand", erklärte Sinn, dass uns eine einseitige "Abhängigkeit von Russland (...) in eine Falle bugsiert" habe.
"In dieser Falle zappeln wir jetzt herum."
Laut dem Wirtschaftswissenschaftler wäre es auch nicht richtig gewesen, gänzlich auf russische Energieimporte zu verzichten – aber es sei ein Fehler gewesenen, sich derart abhängig zu machen.
"Unsere Energiequellen sind zu wenig diversifiziert."
Nach Ansicht von Sinn gelte das auch für einen plötzlichen Ausstieg aus Atomkraft nach dem bis heute ungelösten Desaster im japanischen Fukushima im Jahr 2011. Demnach sollten mindestens fünf bis sechs Atomkraftwerke in Betrieb gehalten oder genommen werden. Allerdings musste der quasi-staatliche Konzern Électricité de France (EDF) in Frankreich, das zu einem Großteil auf Atomkraft setzt, zuletzt mehr als ein Fünftel seiner 56 Atomkraftwerke wegen technischer Probleme vom Netz nehmen. Energie aus Kohle könne uns "keiner nehmen", so Sinn, betonte aber, dass diese "CO₂-schmutzig" ist, was auch für den Ausbau von Fracking gelte.
Die Forderungen anderer Regierungen, Berlin solle auf russisches Gas verzichten, seien sehr leicht zu äußern, für Länder, die weniger von russischen Energielieferungen abhängen.
Sinn erinnerte daran, dass Deutschland schon mit der Sowjetunion – "bei allen Krisen und Kriegen, die es gab" – stets stabile Lieferbeziehungen hatte.
"Darauf aufbauend hat man sich auf die Gaslieferungen verlassen, und es wird ja auch weiter geliefert."
Weiter kritisierte Sinn, dass die Art von Sanktionen, die auf den Verzicht russischer Energie abzielen, weniger Russland als "vor allem uns selbst" schaden würden, während China bereits jetzt größere Abnahmemengen und die dafür notwendige Infrastruktur in Form der neuen Gas-Pipeline "Power of Siberia II" plane, die die bestehende Pipeline "Power of Siberia" ergänzt.
"Seine Embargopolitik treibt Russland in die Arme Chinas und stärkt gerade dasjenige Land, das die USA in der Zukunft am meisten werden fürchten müssen. Solange wir China nicht im Boot haben, können wir Russland mit Sanktionen nicht niederringen."
Anders als Lindner, der "drei bis vier, vielleicht fünf Jahre der Knappheit" vorhersagte, meinte Hans Werner Sinn, dass "die guten Jahre" für mehr als 15 Jahre vorbei seien. Das hänge einerseits mit dem politisch vorangetrieben Ende der billigen Energie zusammen und andererseits mit demografischen Problemen, die eintreten werden, wenn die Boomer in Rente gehen.
Die Frage, ob wir also erst am Anfang einer negativen Wohlstandsentwicklung stünden, beantwortete Sinn mit einem klaren "Ja, so ist das". Und das sei eigentlich auch nicht neu. Nun müsse man einerseits Familien mehr entlasten und auf die Bildung des vorhandenen Nachwuchses setzen. Vor allem für die vielen Migrantenkinder brauche es eine verpflichtende Vorschulerziehung und die Schulen müssen besser funktionieren.
"Die letzten beiden Jahre waren die reinste Katastrophe. An alle hat man gedacht, nur nicht an unsere Kinder."
Die Bundesregierung hingegen müsse aufhören, für alle möglichen Zwecke massive Schulden zu machen und wieder langfristige Strukturpolitik betreiben.
"Die Regierungen haben in der Pandemie das Geld wie Manna vom Himmel regnen lassen – und gleichzeitig wurden überall Lockdowns verkündet. Das war das Streichholz, mit dem die Inflation entzündet wurde."
Den Bürgern empfiehlt er, selbst für den eigenen Wohlstand Sorge zu tragen, da der Staat "heillos überfordert sein" werde mit den sozialpolitischen Aufgaben. Die sozialen Sicherungssysteme seien künftig nicht in der Lage, die Entwicklung des Lebensstandards so fortzuführen, wie wir es gewohnt sind.
Auch der Bund der Steuerzahler und der Bundesverband mittelständische Wirtschaft warnten die Ampel-Koalition davor, die Schuldenbremse im kommenden Jahr erneut auszusetzen. Sie sei kein beliebiges politisches Symbol, sondern Ausdruck eines fairen Miteinanders der Generationen und einer tragfähigen Haushaltspolitik, sagte Reiner Holznagel, Präsident des Bundes der Steuerzahler, der Funke-Mediengruppe. Er forderte, dass die Koalition wie vereinbart überflüssige, unwirksame und klimaschädliche Subventionen und Ausgaben abbauen müsse. Der Koalitionsausschuss von SPD, Grünen und FDP tagt am Mittwoch. Beraten wird über mögliche Maßnahmen im Kampf gegen Preissteigerungen bei Energie und Lebensmitteln in den kommenden Wochen.