Wer konnte es sich vor einigen Wochen noch vorstellen? Bei Auslandsreisen in Risikogebiete wurde die Barriere wie etwa negativer Corona-Test irgendwie noch als verständlich hingenommen. Doch nun muss auch jener erst die Regeln checken, wer innerhalb Deutschlands reisen will, denn immer mehr Städte werden plötzlich zu Risikogebieten, darunter auch Berlin. Nach dem Beschluss der Bundesländer vom letzten Mittwoch heißt es: Menschen aus solchen Orten dürfen bei innerdeutschen Reisen nur dann beherbergt werden, wenn sie einen höchstens 48 Stunden alten negativen Corona-Test vorlegen.
Zum Risikogebiet wird ein Ort dabei quasi automatisch. Dafür reichen mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen, in der Fachwelt als Inzidenzzahl bekannt. Also nur 0,05 Prozent von der gesamten Bevölkerung müssten nachweislich infiziert sein, wobei andere Faktoren wie etwa die Schwere der Symptome oder die Zahl der Intensivbehandelten keine Rolle beim Treffen der Entscheidung spielen dürften.
Warum hat diese Zahl heute noch so viel Relevanz? „Wir sind deutlich besser gerüstet“, sagte doch Gesundheitsminister Jens Spahn Ende September in der ARD. Spahn weiter: „Wir wissen mehr als vor sechs Monaten.“ Und doch bleibt der Inzidenzwert unflexibel und wird nicht an die aktuellen Corona-Erkenntnisse angepasst. Noch am 6. Mai hatten Bund und Länder diesen Sicherheitsmechanismus vereinbart und am 16. Juli bekräftigt, sofort ein konsequentes Beschränkungskonzept unter Einbeziehung der zuständigen Landesbehörde umzusetzen und das RKI einzubeziehen, sollten sich wieder wenigstens 50 pro 100.000 Menschen infiziert haben. Laut RKI-Angaben waren es letztlich (Stand Samstag) 23 Kreise. Worauf sich die Entscheidung damals bezog, erklärt das Papier aber nicht.
Bisher dominierten die Virologen und die Epidemiologen den öffentlichen Diskurs. Die kritischen „oppositionellen“ Stimmen wie etwa Prof. Hendrik Streeck von der Universität Bonn oder der von der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz emeritierte Prof. Sucharit Bhakdi bieten eben eher einen Forschungshintergrund. Eine besondere Schicht in der Expertenwelt bilden jedoch die Fachärzte und die Leute des Gesundheitswesens, die unmittelbar mit den Infizierten zu tun haben. Und sie werden in diesen Tagen auffällig kritisch.
Unter anderem nimmt der Chef der 175.000 ambulanten Kassenärzte und Therapeuten in Deutschland, Andreas Gassen, in einem am Samstag erschienenen Großinterview mit der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ die „kontraproduktive Regelungswut“ der Länder aufs Korn. 19 von 20 Corona-Patienten werden in den Praxen der Vereinigung versorgt, heißt es.
So meint Gassen, selbst Facharzt, mit Blick auf den „falschen Alarmismus“, Deutschland müsse aufhören, auf die Zahl der Neuinfektionen zu starren „wie das Kaninchen auf die Schlange.“ Hiermit widerspricht er den Äußerungen von RKI-Chef Lothar Wieler, der kürzlich zu den über 4.000 Neufällen gesagt hatte, die Pandemie könne außer Kontrolle geraten. „Selbst 10.000 Infektionen täglich wären kein Drama, wenn nur einer von 1000 schwer erkrankt, wie wir es im Moment beobachten“, sagt der 58-Jährige weiter. Im Frühjahr habe es bei 4.000 Neuerkrankten täglich bis zu 150 Corona-Tote gegeben, und trotzdem sei das Gesundheitssystem nicht überlastet worden.
Auch beobachtet Gassen nach eigenen Angaben keinesfalls Corona-Ansturm in den Praxen bzw. Bettenknappheit in Krankenhäusern. Pauschale Beherbergungsverbote für Menschen aus den Zonen, die einen willkürlichen Grenzwert überschreiten würden, hält er in dieser Hinsicht für absurd. Auf dem Höhepunkt der Reisewelle im Sommer seien nur zehn Prozent aller Neuinfektionen auf Rückkehrer zurückzuführen, so der Arzt weiter. Masseninfektionen habe man nicht im Alltag, sondern etwa bei traditionellen Großhochzeiten, in fleischverarbeitenden Betrieben oder durch unkontrolliertes Feiern. Gassen sagte weiter, die in Berlin ausgesprochene Sperrstunde und die Alkoholverbote seien mehr als fragwürdig: „Bis 23 Uhr darf man sich ins Koma saufen, aber 23.30 Uhr gibt’s nichts mehr? (...) Durch den Wust an nicht nachvollziehbaren Regelungen verlieren wir aber eventuell die Akzeptanz für die Maßnahmen, die wirklich etwas bringen. Also bitte aufhören damit!“ Statt nicht kontrollierbare neue Regeln zu verordnen, wäre es aus seiner Sicht klüger, bei den alten sinnvollen Einschränkungen zu bleiben. Gemeint dürften hier die Hygiene-Konzepte sein.
Im Übrigen forderte der Arzt auf, den Inzidenzwert anzupassen. „Die Zahl 50 stammt aus einer Zeit mit wöchentlich 400.000 Tests“, argumentiert Gassen. Inzwischen liegt man aber seit neun Wochen bei über einer Million. „Anfang Mai waren 2,7 Prozent der Getesteten positiv, heute sind es 1,6. Viel mehr Tests, viel weniger Positive.“ Vor dem Hintergrund schlägt der Experte nach Berechnungen des Zentralinstituts der kassenärztlichen Versorgung vor, die kritische Schwelle auf 136 hochziehen, um das gleiche Risiko abzubilden. Sein Urteil heißt: „Als starrer und alleiniger Indikator für das Ergreifen einschneidender Maßnahmen ist die Zahl eher ungeeignet.“ Dass in Berlin noch einzelne Bezirke zum Risikogebiet erklärt werden, wobei die Menschen die Bezirke mehrfach täglich wechseln würden, sei politischer Aktionismus.
Zuvor hatte auch der Direktor am Institut für Epidemiologie an der Berliner Charité, Stefan Willich, im rbb-Inforadio vorgeschlagen, den „nicht mehr brauchbaren“ Grenzwert von 50 Neuinfektionen zu umdenken – alleine, weil schon viel mehr getestet werde und die Wahrscheinlichkeit, dass der Wert überschritten wird, dadurch höher sei. Damals im Mai habe der Wert noch präzise geschienen, jetzt sei es aber „ein grober Anhaltspunkt“, so Willich. Auch wies der Arzt darauf hin, dass der Bezugsrahmen für den alten Schwellenwert und damit auch für die neuen Beschränkungen fehle. Das RKI beginne erst jetzt mit einer großen deutschlandweit repräsentativen Stichprobe – bisher hätten die festgelegten Werte eine Mischung aus Zufallsbefunden und freiwilligen Testungen widergespiegelt.
Noch weiter gingen der Leiter des Frankfurter Gesundheitsamtes, Prof. René Gottschalk, und seine Ex-Stellvertretende Ursel Heudorf in ihren im„Hessischen Ärzteblatt“ veröffentlichten Analysen von Ende September für Frankfurt am Main. Der Kernpunkt ihrer Empfehlungen: nicht nur Virologen, sondern auch Pandemie-Fachärzte anhören und sich nicht zu sehr auf Ansteckungszahlen fixieren. Aus ihrer Sicht bedarf es „dringend einer breiten öffentlichen Diskussion zu den Zielen und Mitteln der Pandemie-Bekämpfung“.
Übrigens bemängelten die Ärzte, dass im Umgang mit der Pandemie nur eine von drei Strategien betrieben werde – Containment oder Eindämmung. Dafür wären noch „Protection“, also der Schutz der Risikogruppen, und „Mitigation“, die Folgenminderung, von großer Bedeutung. Die sogenannten Infektionszahlen seien kein zuverlässiger Indikator, schließt sich der Leiter des Gesundheitsamtes Aichach-Friedberg in Bayern, Dr. Friedrich Pürner, der Kritik in den Interviews an. „Beherbungsverbote, Sperrstunden, Alkoholverbote und Maskenpflicht werden die Weiterverbreitung von #SARSCoV2 nicht verhindern. Schutz von Risikogruppen, neben einer Folgenminderung der restlichen Bevölkerung, muss im Vordergrund stehen“, schrieb der Mann letztlich auf Twitter, wo er sehr aktiv ist. Parallel ist sein Landeschef Markus Söder gerade derjenige, der auf ein Beherbergungsverbot pocht und 250 Euro Strafe für Maskenverweigerer will.
Testpflicht für Urlauber aus Risikogebieten in Bayern: Wer aus einem Risikogebiet kommt und hier Urlaub machen will, benötigt einen negativen Corona-Test - sonst gilt ein Beherbergungsverbot. Dies betrifft auch Berliner Bezirke, die wegen hoher Infiziertenzahl Risikogebiete sind.
— Markus Söder (@Markus_Soeder) October 7, 2020
Inzwischen wird die Kritik am Beherbungsverbot immer lauter. Mehrere Politiker fordern ein Umdenken bei der umstrittenen Regelung, darunter Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke), Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) oder sogar Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD). Letztgenannter kündigte am Sonntagabend im ZDF an, darüber auch am Mittwoch bei der Ministerpräsidentenkonferenz zu reden. Das Gleiche plant auch NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU). Ob der Inzidenzwert dabei neu definiert wird, bleibt offen. Sputnik hat inzwischen eine entsprechende Anfrage an das RKI gesendet.