Sarah Wagenknecht: In Sorge um die eigene Partei
von Jörg Kürschner
Pünktlich auf die Minute schreitet sie in Begleitung von INSA-Chef Hermann Binkert in Richtung Podium, vorbei an rund 50 Gästen, die sie mit einem warmen Begrüßungsapplaus empfangen. Die bei Politikern notorische Verspätung entfällt, die lästige Warterei erübrigt sich. Gute Stimmung also. Gerade noch hat sie vor der Schlußabstimmung im Bundestag am vergangenen Donnerstag zu dieser „unsäglichen Impfpflicht“ das Wort ergriffen, da schlägt sie in Erfurt die ersten Seiten ihres Bestsellers „Die Selbstgerechten“ auf, ihr „Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt“.
Sahra Wagenknecht, geboren im nahegelegenen Jena, ist in die thüringische Landeshauptstadt gekommen, zu der wegen Corona verschobenen Buchlesung und gern auch zur Beantwortung aktueller Fragen, wie sie lächelnd im Tagungszentrum des Meinungsforschungsinstituts anmerkt.
Doch zunächst liest sie aus ihrem Buch. Die polemischen, provokativen Passagen, wie sie auf Nachfrage freimütig einräumt. Da macht sich die Linke etwa lustig über die moralisierende Sprachpolizei des Berliner Senats, dem ihre Partei angehört. Der Begriff des Zuwanderers galt der Rot-Dunkelrot-Grünen Koalition als politisch zu inkorrekt, da er Traumata auslösen könnte. Also gab es fortan „Menschen mit Migrationshintergrund“, später „Menschen mit internationaler Geschichte“; Ausländer wurden zu „Einwohnende ohne deutsche Staatsbürgerschaft“ und illegale Einwanderer mutierten zu „undokumentierten Migrantinnen und Migranten“. Geht’s noch?
Es ist der Linken-Politikerin unschwer anzumerken, daß sie die von ihr Lifestyle-Linke genannten Linksliberalen gering schätzt, sie wohl intellektuell für nicht satisfaktionsfähig hält. Wer Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft überheblich ignoriere, spalte die Gesellschaft weiter, schreibt sie. Zweifellos zählt die 52jährige zu den Privilegierten unserer Gesellschaft. Umso bemerkenswerter ist ihre analytische Tiefe, in der sie diese durchdringt. Wiederum ein Beispiel.
Menschen aus unterschiedlichen Milieus lebten in verschiedenen Welten, hätten sich folglich immer weniger zu sagen. „Wenn gut situierte Großstadtakademiker den weniger Begünstigten im realen Leben überhaupt noch begegnen, dann in Gestalt preiswerter Servicekräfte, die ihre Wohnungen putzen, ihre Pakete schleppen und ihnen im Restaurant das Sushi servieren“. Noch Fragen? Jedenfalls keine aus der eher konservativ geprägten Zuhörerschaft. Diese registriert, daß Sarah Wagenknecht zunächst neben Thomas Kemmerich Platz nimmt, den Kurzzeit-Ministerpräsidenten Thüringens, der sich im Februar 2020 von AfD, CDU und seiner FDP zum Regierungschef Thüringens hatte wählen lassen.
Damals hatte die spätere Linken-Bundeschefin Susanne Hennig-Wellsow dem demokratisch gewählten Ministerpräsidenten die für Parteifreund Bodo Ramelow bestimmten Blumen vor die Füße geknallt. Was überflüssig war, da Kanzlerin Angela Merkel (CDU) die Wahl rasch „rückgängig“ machte, wie sie entlarvend auf einer Auslandsreise formulierte. Ramelow war bald wieder im Amt, unter Wagenknechts Zuhörern war er nicht. Es sind Welten in der Linkspartei, nicht nur inhaltliche, die trennen. Auch Stilfragen unterscheiden die Genossen, zu spüren während der Diskussion. Der Unternehmer Kemmerich, inzwischen Vorsitzender der FDP-Gruppe im Landtag, stellt eine Frage zur Wirtschaftspolitik, die die promovierte Volkswirtin ohne Polemik beantwortet.
Denn Wagenknecht beklagt, „an die Stelle demokratischen Meinungsstreits sind emotionalisierte Empörungsrituale, moralische Diffamierungen und offener Haß getreten“. Wer wollte da widersprechen? Sicherlich nicht die AfD, der die Linke ein „eklatantes Personalproblem“ bescheinigt. Das sei in Frankreich mit der Macron-Herausforderin Marie Le Pen, der Chefin des Rassemblement National, anders.
SPD und Linke hätten sich auf den „Irrweg des Linksliberalismus eingelassen“, der die Linke theoretisch entkernt habe, mit der Folge, daß sie die AfD „zur führenden ‚Arbeiterpartei‘ gemacht“ hätten, meint die streitbare Linke. Ihr Vorwurf: SPD und Linke hätten die Grünen „auf geradezu unterwürfige Weise als intellektuelle und politische Avantgarde akzeptiert“ und sich somit ihren traditionellen Wählern, etwa der unteren Mittelschicht und den Arbeitslosen, entfremdet.
Ihr Buch habe sie auch aus Sorge um ihre Partei geschrieben, beteuert die Autorin, die ihr ohne Rückbesinnung auf traditionell linke Werte einen „traurigen Untergang“ prognostiziert. Die Linken-Ikone gilt als die populärste Politikerin ihrer Partei, ist sich ihrer öffentlichen Wertschätzung bewußt. Daß sie vier Tage vor dem Angriffskrieg Rußlands gegen die Ukraine noch überzeugt war, „Russland hat faktisch kein Interesse, in die Ukraine einzumarschieren“, diese fundamentale Fehleinschätzung wird während der rund zweistündigen Diskussion nicht weiter thematisiert.
Schade, denn Wagenknecht ist politisch einen weiten Weg gegangen. Beim Mauerfall 1989 hing noch ein Bild von Mauerbauer Walter Ulbricht in ihrer Studentenbude, dem Gründungs-Diktator der DDR. Vor ihrem Auditorium bezeichnet sie sich als „sozial, aber wertkonservativ“ Beim Rausgehen meint ein älterer Zuhörer über Wagenknecht, dem äußeren Anschein nach kein Linkspartei-Anhänger, „die ist viel zu intelligent für die Politik“. Umstehende nicken, lassen sich ein Exemplar des Buches signieren und verschwinden in der Dämmerung. Wagenknechts Heimspiel ist zu Ende.