Das Bundesinnenministerium hat die salafistische Vereinigung "Die wahre Religion" verboten. Am Morgen durchsuchte die Polizei 200 Wohnungen von Sympathisanten. Kritiker lasten den Sicherheitsbehörden jedoch ein unterschiedsloses Vorgehen gegen Muslime an.
Die Polizei hat am Dienstagmorgen gegen mutmaßliche Sympathisanten der Terrororganisation "Islamischer Staat" eine Großrazzia durchgeführt. Während die Beamten rund 200 Wohnungen untersucht haben und das Innenministerium das Verbot der Salafisten-Vereinigung "Die wahre Religion" verkündete, werfen Kritiker der Bundesregierung Doppelmoral und Willkür vor.
"Verfassungsschützer und Staatsschützer wollen nicht länger bei der islamistischen Propaganda zuschauen, die viele junge Menschen radikalisiert und zu Terroristen gemacht hat", titelte die Bild-Zeitung. An dem Einsatz waren hunderte Poizisten beteiligt. Diese durchsuchten zeitgleich um 6.30 Uhr in mehreren Städten Deutschlands Wohnungen vermeintlich gewaltbereiter Islamisten.
Im Fokus standen die Bundesländer Berlin, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Bayern. Anlass für die Aktion ist das Organisationsverbot, das der Bundesinnenminister Thomas de Maiziere heute gegen die umstrittene Vereinigung "Die wahre Religion" (DWR) verkündete. Die Organisation ist durch Gratis-Verteilaktionen des Koran unter dem Motto "Lies!" in deutschen Fußgängerzonen bekannt geworden.
Im Fokus stand dabei der oft als "Hassprediger" bezeichnete Ibrahim Abou-Nagie. Bei der Durchsuchung seines Hauses in Bonn war dieser allerdings nicht zugegen. Gut informierte Quellen vermuten, dass sich der Salafisten-Prediger in Malaysia aufhält. Es ist auch nicht klar, ob Abou-Nagie über den drohenden Zugriff informiert wurde. Offiziell befindet sich der Palästinenser im Ausland, um dort für sein "Lies!"-Programm zu werben. Mittlerweile dürfte er jedenfalls über die Aktion, die am Dienstagmorgen stattgefunden hat, im Bilde sein.
Deutschland ist eine wehrhafte Demokratie. Für radikale, gewaltbereite Islamisten ist kein Platz in unserer Gesellschaft", verteidigte der Innenminister in einer sich an die Razzien anschließende Pressekonferenz das Vorgehen.
Seine Begründung für das Vorgehen lautet: Die salafistische Organisation sei verfassungswidrig und richte sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung.
Erst vergangene Woche hatten die Strafverfolgungsbehörden einen mutmaßlich hochrangigen IS-Islamisten in Deutschland festgenommen. Laut Generalbundesanwaltschaft war der Iraker Abu Walaa der Chefideologe der deutschen Salafisten-Szene. Medien bezeichnen ihn als erster Mann des "Islamischen Staates" in Deutschland.
Der Verfassungsschutz glaubt, dass auch "Die Wahre Religion" für Kriege und Terroranschläge werbe. Das Innenministerium zählt mehr als 2.000 Propagandavideos, die auf "Die Wahre Religion" zurückgehen. Wörtlich heißt es beim Verfassungsschutz:
Die Vereinigung befürwortet den bewaffneten Dschihad und stellt ein bundesweit einzigartiges Rekrutierungs- und Sammelbecken für dschihadistische Islamisten sowie für solche Personen dar, die aus dschihadistisch-islamistischer Motivation nach Syrien beziehungsweise in den Irak ausreisen wollen.
Wie aus RT-Deutsch-Recherchen hervorgeht, rätselten deutsche Verfassungsschützer bereits 2012 über die ominösen Finanzierungsquellen der salafistischen Vereinigung. Die "Lies!"-Aktivisten verteilen bereits damals in mehreren deutschen Städten kostenlos ihre Korane. In einer Erklärung deutete der Vorsitzende des niedersächsischen Landesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Werner Wargel, seinerzeit die Möglichkeit einer ausländischen Finanzierung an, die sich in die arabische Golfregion zurückverfolgen lasse. Er sagte:
Ich gehe davon aus, dass es externe Geldgeber gibt. Wir haben Erkenntnisse, dass in der Vergangenheit Geldströme von der Arabischen Halbinsel an das salafistische Netzwerk in Deutschland geflossen sind.
Im Zusammenhang mit den Anschlägen von Brüssel im März dieses Jahres machten Zeitungen und Zeitschriften auf eine Vereinbarung des belgischen Staates mit der Golfmonarchie Saudi-Arabien aufmerksam. Demnach sicherten die Saudis Belgien günstige Konditionen für den Ölbezug zu, im Gegenzug erhielten sie freie Hand zur Errichtung von Einrichtungen, in denen die radikale wahhabitische Auslegung des Islam gelehrt wurde.
Auch aus den von Wikileaks enthüllten Podesta-Mails geht hervor, dass die gescheiterte US-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton darüber informiert war, dass die Regierung in Riad radikal-islamische Organisationen bis hin zum IS unter anderem im Irak und in Syrien unterstützt.
Die am Dienstag verbotene salafistische Organisation druckte 300.000 Korane in deutscher Sprache. Die dafür anfallenden Kosten in Höhe von 300.000 Euro bezahlte "Die Wahre Religion" problemlos im Voraus an die Ulmer Druckerei Ebner & Spiegel.
Andererseits berichtete das Nachrichtenportal der "Rheinischen Post", dass bei der aktuellen Aktion "keine spektakulären Festnahmen" zu erwarten waren. Das liege nicht zuletzt daran, dass den mutmaßlichen IS-Unterstützern zumindest bis dato noch keine Verdachtsmomente zur Last gelegt werden können, die auf Verbrechenstatbestände hindeuten.
Die Deutsche Presse-Agentur schrieb, dass sich die Behörden darauf konzentrierten, "Vereinsvermögen und Beweismittel" sicherzustellen. Es ginge darum, ein "Zeichen gegen die Aktionen der Radikal-Salafisten" zu setzen.
Für den Journalisten Jan Drebes ist der Fall von vorneherein klar. Er verteidigte in einem Artikel für die "Rheinische Post" unter dem Titel "Der Rechtsstaat setzt ein Zeichen" das Vorgehen des Innenministeriums gegen die islamistische Szene. Dabei befürwortet er es, dass der Staat gern auch mal gegen essentielle Rechte deutscher Bürger vorgehen könne. Er schrieb:
Die groß angelegten Razzien, die heute Morgen mit Schwerpunkten in Nordrhein-Westfalen, Hessen und Bayern abliefen, hatten diese Ausübung der Religionsfreiheit nicht zum Ziel. Dennoch schränken sie die Religionsfreiheit ein, schließlich hat Bundesinnenminister Thomas de Maizière parallel den salafistischen Verein "Die wahre Religion" verboten. Diese Maßnahme jedoch ist richtig und sogar wichtig.
Im Gespräch mit RT Deutsch warnte unterdessen der stellvertretende Bundesvorsitzende der Migrantenpartei BIG, Ismet Misirlioglu, vor einem Schwarz-Weiß-Denken im Umgang mit muslimischen Organisationen. Misirlioglu unterstützt das Vorgehen gegen Terrorunterstützer, doch der Fall sei noch immer völlig unklar. Auch gebe es kaum Beweise für tatsächliche Verbindungen auf Organisationsebene zwischen der Salafisten-Organisation und der Terrormiliz "Islamischer Staat".
Bisher handelt es sich um Vorwürfe, wonach "Die Wahre Religion" Jugendliche systematisch für den Syrienkrieg rekrutiere. Was ist das Ergebnis der Hausdurchsuchungen? Es kursieren nur Vorwürfe, obwohl am Ende sicher rauskommen wird, dass doch keine Straftaten begangen wurden, die ein Verbot dieser Vereinigung rechtfertigen würden. Das hat System", kritisierte der Berliner Politiker.
Auch die Migrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz, mahnte gegenüber dem Fernsehsender Phoenix zur Vorsicht. Bei der Verfolgung von Islamisten bedürfe es des "Augenmaßes". Es dürfe nicht heißen, es werde willkürlich in Moscheen eingedrungen.
Doch genau das befürchtet der Politiker von der BIG-Partei. Misirlioglu bemerkte:
Die Straftat der Gründungsmitglieder besteht darin, die deutsche Übersetzung des Korans auf öffentlichen Straßen an Interessierte legal zu verteilen. Auch wenn De Maiziere der Öffentlichkeit einen anderen Grund vorweist, zeigt uns dies, in welcher Lage sich die Meinungs- und Religionsfreiheit in Deutschland befinden.
Daraufhin stellt der türkischstämmige Politiker eine Reihe von kritischen Gegenfragen an die Adresse der Bundesregierung:
Auch der Politologe Ömer Özkizilcik, der mit RT Deutsch sprach, zweifelt an der Sinnhaftigkeit des rabiaten polizeilichen Vorgehens. "Es ist völlig unsinnig, Anhänger der Vereinigung in Sippenhaft zu nehmen. Das versucht der Verfassungsschutz aus Angst vor einer weiteren Radikalisierung der Anhänger auch bei der NPD zu vermeiden. Es ist doch naheliegend, dass es effizienter ist, Straftäter individuell zu verfolgen", gab der Politologe zu bedenken. "Fragen wirft der Umstand auf, warum die Behörden erst heute reagieren. Die Salafisten-Organisation ist bereits seit Jahren aktiv. Warum ist man nicht früher vorgegangen? Was hat sich plötzlich in der Wahrnehmung verändert?"