Auch in der Mülltonne hinterm Rathaus Charlottenburg wurden zerrissene Stimmzettel gefunden.
von Manfred Ulex
Auch rund vier Wochen nach der Abgeordnetenhaus- und Bundestagswahl in Berlin am 26. September sind alle wesentlichen Fragen zu Rechtsverstößen und offensichtlichen Manipulationen in der Hauptstadt noch offen. Das ergibt sich sowohl aus den Antworten des Senats auf zahlreiche Fragen des Politikers der Freien Wähler Marcel Luthe als auch aus der Sondersitzung des Innenausschusses, deren Wortprotokoll der Redaktion vorliegt. Grundsätzlich erklärte die Berliner Landesregierung gegenüber Luthe, sie könnte die meisten seiner Fragen nicht oder nicht genau beantworten, weil die Prüfung der zahlreichen Unregelmäßigkeiten immer noch andauere. In einer generellen Erklärung des Senats heißt es:
„Damit sind belastbare Angaben häufig noch nicht möglich“
Bisher gebe es nur „Zwischenstände oder erste Einschätzungen“, aber noch keine Ergebnisse, die Luthe mitgeteilt werden könnten:
„Im Interesse einer sachgerechten Erfüllung des Informationsinteresses des Fragestellers und der Öffentlichkeit hat der Senat von einer Beantwortung insoweit abgesehen.“
Bemerkenswert scheint allerdings, was die rot-rot-grüne Berliner Landesregierung nach eigener Darstellung nicht weiß. Bis heute ist offen, warum in etlichen Wahllokalen Stimmzettel fehlten oder viel zu spät angeliefert wurden. Hatte sich die Wahlleitung schlicht verrechnet? Oder waren Wahlbögen beiseite geschafft worden? Das, so der Senat, lasse sich schon deshalb kaum klären, weil sich der Weg der Unterlagen von der Druckerei in Lagerräume und schließlich in die Wahllokale bis jetzt nicht nachvollziehen lasse. Auf eine von Luthes Fragen heißt es laüpidar:
„Über die Lagerung der Stimmzettel in den Bezirken liegen dem Senat derzeit keine detaillierten und belastbaren Erkenntnisse vor“
Und:
„Die Verteilung von Stimmzetteln und die Dokumentation erfolgt durch die Bezirkswahlämter im Auftrag der Bezirkswahlleitungen, die je nach bezirksspezifischer Organisationslösung vorgehen. Es liegen derzeit noch keine detailllierten Erkenntnisse vor.“
Sicher ist laut Senat nur, dass die in einer privaten Druckerei erstellten Wahlunterlagen nicht fälschungssicher waren. Luthe hatte am Wahlabend nach eigenen Angaben selbst beobachtet, wie sich eine Person auch nach 18 Uhr noch an einer Wahlschlange angestellt hatte – was gegen das Wahlgesetz verstößt. Die Landesregierung erklärte dem Politiker lediglich, das werde „üblicherweise“ durch ein Mitglied des Wahlvorstandes unterbunden:
„Die Entscheidung zur Schließung der Wahllokale bzw. über die Zulassung von nach 18 Uhr noch anwesenden Personen trifft der oder die jeweilige Wahlvorstehende. Nach § 60 Satz 2 der Bundeswahlordnung … sind nach Ablauf der Wahlzeit (18 Uhr) nur noch Wahlberechtigte zur Stimmabgabe zuzulassen, die vor Ablauf der Wahlzeit erschienen sind und sich im Wahlraum oder aus Platzgründen davor befinden. Üblicherweise wird dies durch ein Mitglied des Wahlvorstandes sichergestellt, das sich an das Ende der Warteschlage stellt.“
Ob die gesetzliche Regel auch tatsächlich überall angewandt wurde, weiß der Senat nicht – er ließ es offenbar auch nicht überprüfen:
„Es liegen noch keine abschließenden Erkenntnisse vor.“
In der Innenausschusssitzung sagte Innensenator Andreas Geisel (SPD) auch, über die Zahl der Bürger, die wieder weggeschickt wurden, weil es bis zur Schließung der Wahllokale keine Stimmzettel gegeben habe, lägen keine Gesamtzahlen vor. Insgesamt war es laut Senatsverwaltung in 207 Wahllokalen zu dokumentierten schweren Unregelmäßigkeiten gekommen. Die Zahl der tatsächlichen Verstöße könnte angesichts der vielen offenen Fragen also noch deutlich höher sein.
Bisher zählte zudem keiner nach, ob allen Briefwahlunterlagen auch die gesetzlich vorgeschriebene eidesstattliche Versicherung beigefügt war, die von dem Wahlberechtigten ausgefüllt und unterschrieben werden muss. Eigentlich müsste die Zahl dieser eidesstattlichen Versicherungen identisch mit der Zahl der als gültig gewerteten Briefwahlstimmen sein. Auf die Frage Luthes nach diesem Punkt heißt es nur:
„Zur Zahl der vorliegenden eidesstattlichen Versicherungen liegen dem Senat keine Erkenntnisse vor.“
In der Sitzung des Innenausschusses sagte Innensenator Geisel, das Problem falsch gedruckter, abgezählter und zugeordneter Wahlzettel sei dem Senat schon Wochen vor dem Wahltermin bekannt gewesen:
„Falsch gedruckte Wahlzettel beziehungsweise falsch gepackte Kartons mit Wahlzetteln, die falsch beschriftet waren und an unterschiedlichen Stellen in Berlin an unterschiedliche Wahllokale verschickt worden sind sind schon im August dieses Jahres aufgefallen.“
Warum dann trotzdem offensichtlich nichts oder zu wenig unternommen wurde, um das Chaos zu verhindern, konnte Geisel allerdings nicht erklären. Auf Anfrage bestätigte Luthe, er werde in den nächsten Tagen eine Anfechtungsklage beim Landesverfassungsgericht einreichen, und nicht die Veröffentlichung des amtlichen Endergebnisses im Amtsblatt abwarten, die Geisel erst für November in Aussicht gestellt hatte. Dass die Landeswahlleiterin das Endergebnis schon verkündet hatte, so der Politiker der Freien Wähler, halte er nach Diskussionen mit seinen Anwälten für ausreichend, um den formalen Klagevoraussetzungen zu genügen. Auch die AfD-Fraktion im Abgeordnetenhaus und die Landeswahlleiterin selbst hatten angekündigt, die Gültigkeit der Wahl anzufechten.
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