Operationssaal oder Schlachthaus?
Diesen Tag wird Renate Greinert wohl nie vergessen: Nach einem schweren Verkehrsunfall wird ihr Sohn Christian in eine Klinik geflogen. Während sie glaubt, dass ihrem Sohn geholfen wird, gelten die ärztlichen Bemühungen bereits anderen: »Man versuchte, sein Leben zu erhalten, um mit seinen lebenden Organen andere Menschenleben zu retten. Die Untersuchungen und Medikamente galten nicht ihm, sondern den anderen.« Man hinderte ihren Sohn zunächst am Sterben, »da nur die Übertragung von lebenden Organen den erhofften Erfolg für andere bringt«.
Voraussetzung für die Organentnahme ist die rechtliche Konstruktion des »Hirntodes«. Diese Konstruktion soll das Paradoxon auflösen, das darin besteht, dass man einerseits einem lebenden Menschen natürlich keine Organe entnehmen darf, die Organe eines Toten aber in der Regel wertlos sind. Also erfand man den Hirntod, bei dem der Mensch angeblich irreversibel geschädigt, aber noch am Leben ist. Nach dem Motto: »So tot wie nötig, so lebendig wie möglich« (Professor Franco Rest). Der Schlüssel zur Feststellung des Hirntodes ist die Hirntoddiagnostik. Die wichtigsten Voraussetzungen sind zwei klinische Untersuchungen, zwischen denen mindestens zwölf Stunden liegen müssen. Unglaublich, aber wahr: Dazu gehören Tests, die den Patienten umbringen können. »Bei meinem Sohn wurde dreimal die klinische Hirntoddiagnostik vorgenommen«, berichtet Renate Focke, deren Sohn 1997 einen schweren Verkehrsunfall hatte. »Zu einer klinischen Untersuchung gehören Reize mit Instrumenten, das Setzen von Schmerzreizen, indem der Untersuchende mit einer Nadel in die Nasenscheidewand sticht und indem vier Grad kaltes Wasser in die Ohren gespült wird.« Es leuchtet wohl ein, dass solche »Reize« einem Intensivpatienten kaum gut tun und ihn weiter destabilisieren können, erst recht, wenn die Prozeduren zwei bis drei Mal durchgeführt werden.
Vier Grad kaltes Wasser im Gehörgang ist nämlich ein sehr interessanter »Test«. Denn es handelt sich nicht um irgendeinen »Reiz«. Für das Gehirn ist das das Signal, dass der Mensch in eiskaltes Wasser gefallen ist – denn sonst würde ja nicht der Gehörgang volllaufen. Da dies häufig mit dem Verlust des Gleichgewichtssinns und der Orientierung einhergeht, ist dies ein Schock für das Gehirn. Eiskaltes Wasser im Gehörgang ist daher auch an jenem Schock beteiligt, den Menschen erleben, wenn sie in eiskaltes Wasser fallen. Dabei können Menschen mit Vorerkrankungen »bösartige Herzrhythmusstörungen« erleiden, so der Notfallmediziner Professor Manfred Blobner über die Gefahren von Eisunfällen. Und um einen vorgeschädigten Menschen handelt es sich ja bei einem Verunglückten.
Sehr wahrscheinlich kann durch das Wasser im Gehörgang auch der so genannte »Tauchreflex« ausgelöst werden, denn natürlich ist ein wassergefüllter Gehörgang Anzeiger für das Untertauchen. Beim Tauchreflex wird »durch eine Stimulation des Parasympathikus die Atmung zum Stillstand gebracht (›sistiert‹), der Herzschlag verlangsamt und der Blutkreislauf zentralisiert (›Bloodshift‹)«.
Doch ist das noch gar nichts. Das eigentlich Interessante ist der »Apnoe-Test«, der im Zusammenhang mit dem »Waterboarding« das Ertrinkungserlebnis perfekt macht – sozusagen das »Waterboarding« für Schwerverletzte. Kurz: Man »testet« eben mal, ob der Patient auch ohne künstliche Beatmung weiteratmet. »Dabei wird dem hirnverletzten Patienten die künstliche Beatmung für bis zu zehn Minuten entzogen, um feststellen zu können, ob er selbstständig zu atmen beginnt«, berichtet die betroffene Mutter Renate Focke in einer Abhandlung über »die verschwiegene Seite« der Organspende. »Diese Untersuchung beeinträchtigt nach Aussage von Ärzten eindeutig die mögliche Erholung eines hirnverletzten Patienten und kann sogar den Tod des Patienten hervorrufen.« Nun – das ist ja noch sehr vornehm formuliert. Je nachdem, wie diese »Untersuchungen« durchgeführt und konfiguriert werden, bewegen wir uns hier ganz nahe am Mord. Denn bekanntlich erleidet das Gehirn schon nach wenigen Minuten ohne Sauerstoff irreparable Schäden. Wenn man bis zu zehn Minuten wartet, ob nach dem Aussetzen der künstlichen Beatmung eine Spontanatmung einsetzt, heißt das, dass man das Gehirn absterben lässt. Bei einem Patienten, dem man dreimal hintereinander bis zu zehn Minuten die Luft entzogen hat, kann man natürlich leicht einen »Hirntod« diagnostizieren. Ein Hirntod könne »durch Behandlungsfehler entstehen« oder bei »Schwellenpatienten« gar »bewusst herbeigeführt werden«, warnte Dr. Achim Jaeckel vom Deutschen Medizin Forum.
Wird das Gehirn dadurch nicht geschädigt (zum Beispiel, weil die Atmung rechtzeitig einsetzt), fehlt damit unter Umständen eine weitere wichtige Lizenz zum Töten, nämlich die »Nulllinie« auf dem Elektroenzephalogramm (EEG) – also der »Beleg«, dass das Gehirn nicht mehr arbeitet. Neben den oben genannten Untersuchungen ist nämlich vor allem das Elektroenzephalogramm – die Aufzeichnung der Hirnströme – die Lizenz zum Ausschlachten. Das EEG ist zum Beispiel vorgeschrieben, wenn zwischen den beschriebenen klinischen Tests weniger als zwölf Stunden liegen. Aber natürlich kann ein EEG auch unabhängig davon zum Beweis des Hirntodes abgenommen und herangezogen werden. Können die Ärzte im Rahmen der oben dargestellten Torturen (oder danach) ein EEG mit Nulllinie vorweisen, müssen sie im Wesentlichen nur noch die Angehörigen überreden, der Organentnahme zuzustimmen. Meistens ist es ziemlich leicht, die unter Schock stehenden Hinterbliebenen zu »bequatschen« und mit moralischen Argumenten unter Druck zu setzen. Wobei es natürlich heißen muss: »die mutmaßlichen Hinterbliebenen«. Denn noch ist der Mensch ja nicht tot. Getötet wird er erst durch die Organentnahme: »Der Organismus stirbt während der Operation (Explantation) im Rahmen der Kochsalzdurchspülung des Kreislaufsystems ab«, sagte einst der Hirnforscher Prof. Dr. Detlef Linke aus Bonn. »Es gibt Philosophen, die dies als Mord bezeichnet haben.« Nicht nur Philosophen. Auch namhafte Ärzte wie der britische Kardiologe und Dozent Dr. David Evans sagen klipp und klar: »Organentnahme ist Mord.« Und zwar, weil 60 Prozent der angeblich Hirntoten wieder zu Bewusstsein kommen könnten.
Das Spannende ist nun, dass immer wieder EEGs verschwinden. »Irgendwann wurden wir aus dem Zimmer geschickt, man wollte ein EEG ableiten«, erinnerte sich hinterher die betroffene Mutter Renate Greinert (die übrigens ein Buch über die Organspende und den Tod ihres Sohnes geschrieben hat). »Außerdem wartete man auf ein Team von Neurochirurgen. Die 20-minütige Hirnstrommessung dauerte anderthalb Stunden«. Wobei die Frage ist, warum die Angehörigen für die Abnahme eines EEGs das Zimmer verlassen müssen. Und siehe da: »Dieses EEG existiert nicht mehr, dafür befindet sich in Christians Akte ein schnell aufgezeichnetes EKG.«
Ein Einzelfall? Keineswegs: Etwas Ähnliches hat auch Renate Focke erlebt. Ihr Sohn Arnd hatte im Herbst 1997 wie gesagt einen schweren Unfall und musste noch am Unfallort beatmet werden. In der Klinik wurde angeblich »ein schweres Schädel-Hirn-Trauma« festgestellt. Erst mehrere Jahre nach der Organentnahme und Hunderte von Albträumen später hatte Frau Focke die Kraft, von der Klinik die Akten anzufordern und sie durchzuarbeiten: »In vielen Träumen durchlebte ich, dass er nicht richtig begraben war, dass seine Leiche in einem Aquarium trieb oder dass sein Leichnam aus dem Grab verschwunden war.« Bei der Aktendurchsicht stellte sie fest, dass die beiden erwähnten klinischen Untersuchungen nicht im Abstand von zwölf, sondern von knapp drei Stunden vorgenommen worden waren. Aufgrund der zu geringen Wartezeit hätte es nun eine »apparative Untersuchung« (in der Regel ein EEG) geben müssen. Zwar sei in einem Bericht der Klinik auch von einem Nulllinien-EEG die Rede, »das angeblich bei meinem Sohn vorgenommen wurde«, so Focke. »Im entscheidenden Dokument, dem Hirntodprotokoll, ist jedoch kein Nulllinien-EEG aufgeführt. Auch in den Akten fanden sich keine EEG-Aufzeichnungen.« Die Organentnahme hätte nach dem Hirntodprotokoll demnach »gar nicht durchgeführt werden dürfen!«
Das heißt aber: Ohne ordentlichen Nachweis des »Hirntodes« ist der Mensch nicht einmal nach der umstrittenen Definition des »Hirntodes« tot. Einem lebenden Menschen die Organe zu entnehmen, kann man aber wohl kaum anders denn als Mord bezeichnen.
Aber Focke entdeckte noch weitere Unregelmäßigkeiten. So hatte ihr Sohn einem Gutachten zufolge nach einer ersten (kurativen) Operation noch zu viel Narkosemittel im Blut. Da das Narkosemittel die Gehirnfunktionen verändert, ist eine Beurteilung des Hirntodes noch nicht möglich. Die Organentnahme wurde aber dennoch ohne weitere Beurteilung vorgenommen. Dem so genannten »Narkoseprotokoll« von der Explantation durfte die schockierte Mutter schließlich entnehmen, dass ihr Sohn zwar Mittel zur »Muskellähmung« bekam, aber keine Betäubung und keine Schmerzmittel erhielt – und das, obwohl der »Hirntod« offenbar nicht ausreichend dokumentiert worden war. Wobei auch dann niemand wüsste, ob das Gehirn nicht noch schwerste Schmerzen empfinden kann. »Bei Organentnahmen wurden immer wieder Hautrötungen, Schwitzen, Blutdruckanstieg und Abwehrbewegungen beim Einschnitt in den Körper festgestellt«, berichtet Frau Focke. »Das sind bei anderen Operationen Anzeichen für Schmerz, nur bei ›hirntoten‹ Organspendern werden sie als bedeutungslose Reaktionen angesehen. Die Vorstellung, dass mein Sohn bei lebendigem Leib ohne Rücksicht auf noch mögliche Schmerzempfindungen ohne Vollnarkose explantiert wurde, ist unerträglich.« Die Muskelrelaxanzien bewirken lediglich, dass sich der Patient bei Schmerzen nicht mehr bewegen kann – denn das stört schließlich beim »Schnippeln«.
Natürlich ist es nur logisch, dass es in der Transplantationsmedizin nicht nur Unregelmäßigkeiten auf der Empfängerseite gibt. Ein Medizinbetrieb, der auf der Empfängerseite manipuliert, manipuliert natürlich auch auf der Spenderseite. Und das ist häufig gleichbedeutend mit glattem Mord. Denn entweder wird beim »Hirntod« ein wenig nachgeholfen. Oder ein Mensch, der in Wirklichkeit gar nicht »hirntot« ist, wird zur Tötung durch Organentnahme freigegeben. Was aber ergibt es für einen Sinn, einen Patienten sterben zu lassen oder zu töten, um einen anderen zu retten? Medizinisch natürlich gar keinen. Den Unterschied macht allein das Geld: Die horrenden Summen, die für Transplantationen fließen: »Der Markt der Transplantations- und Pharmaindustrie ist Milliarden von Euro schwer«, schreibt der Sachbuchautor Richard Fuchs. Allein der Markt für so genannte »Immunsuppressiva«, die die Abstoßung des fremden Organs unterdrücken, umfasse jährlich 1,6 Milliarden Euro. Die Fallpauschalen für Transplantationen hätten 2011 je nach Organ und Aufwand zwischen 18.000 und 215.000 Euro gelegen. »Nicht selten kommt es wegen Abstoßung zu weiteren Transplantationen.«
Kurz und gut: Die Organspende, zu der neuerdings immer mehr Bundesbürger gedrängt werden sollen, ist für die Spender und ihre Angehörigen nichts weiter als ein Albtraum. Sie sind der Transplantationsmedizin weitgehend wehrlos ausgeliefert. Jeder Spender ist potenzielles Schlachtvieh.