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„Da wird nicht gemeckert“: Ist das deutsche Grundgesetz an Corona-Toten schuld?

swaine1988
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Autor: Von Andrej Iwanowski
Quelle: https://de.sputniknews.com/deu...
2020-11-30, Ansichten 956
„Da wird nicht gemeckert“: Ist das deutsche Grundgesetz an Corona-Toten schuld?

Der „Corona-Wellenbrecher“ hat versagt. Deutschland bewegt sich nun weiter in einem Stop-and-Go-Lockdown-Modus, eine langfristige Strategie der Epidemie-Bekämpfung bleibt aus. Bei „Anne Will“ wurde das Musterbeispiel Fernost ins Spiel gebracht, wo Corona so gut wie bekämpft ist. Ein geeignetes Vorbild auch für Deutschland?

„Lockdown light war ein Versuch wert, es wäre super gewesen, wenn es geklappt hätte“, meinte die Physikerin Viola Priesemann, die sich im Max-Planck-Institut mit Modellrechnungen für Corona-Szenarien in Deutschland beschäftigt. „Es hat nicht geklappt.“ 

„Ich möchte jetzt alles, was wir haben, einsetzen, damit die Fallzahlen runtergehen“, betonte sie am Sonntagabend bei „Anne Will“.

„Damit danach die Freiheiten wieder da sind … Es ist erreichbar, es ist machbar.“

„Wir streiten uns zu viel“

Priesemanns Modellrechnungen besagen nämlich: Die Zahl der Neuinfektionen pro Tag sollen von den jetzigen etwa 20.000 Fällen auf 2.000 bis 5.000 gedrückt werden. „Dann sind wir in zwei, drei, maximal vier Wochen auch wirklich durch.“

In den Modellrechnungen mag das auch stimmen. Problem: In diesen Rechnungen fehlt die politische Komponente, nämlich: Deutschland betrachtet sich als eine liberale Demokratie mit als unantastbar geltenden Grundrechten. Frau Priesemann ist nunmal keine Politikerin, politische Wege zur Umsetzung ihrer Modellrechnungen kann sie nicht vorschlagen.

Die Politik war am Sonntagabend durch die regionalen Politiker Markus Söder und Michael Müller sowie den Oppositionspolitiker Christian Lindner (FDP) vertreten. Bayerns Ministerpräsident würdigte zwar Priesemanns Berechnungen als „brillant“, versuchte aber zugleich der Expertin sanft nahezulegen, warum das mathematische 2+2 im realen Leben schwer umsetzbar ist.

„Wir streiten uns zu viel“, formulierte Söder das Haupthindernis auf dem Weg zur Umsetzung der „brillanten“ Modellrechnungen. Immerhin realisiere Deutschland momentan „den mildesten Lockdown in Europa“, aber selbst um diese „mildesten“ Bedingungen müsse stets hart gekämpft werden. Bei den nun regelmäßig gewordenen Ministerpräsidentenkonferenzen mit der Kanzlerin gelinge es nicht, eine einheitliche Strategie für das gesamte Land zu vereinbaren, weil einzelne Bundesländer stets „nach einem Schlupfloch suchen“.

„Was ist die längerfristige Strategie?“

Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller pflichtete Söder bei: Wenn Frau Priesemann härtere Lockdowns als einen Weg zur radikalen Drosselung der Fallzahlen meinte, so sollte sie in Richtung Frankreich, Spanien oder Italien schauen: Diese Länder hätten bereits wesentlich strengere Einschränkungen umgesetzt, deren Wirkung auf das Infektionsgeschehen allerdings nur von kurzer Dauer gewesen sei.

Christian Lindner übte sich in der Talk-Runde in seiner Rolle als Oppositionspolitiker, begnügte sich aber zunächst nur auf kleinliche kritische Stiche: Die vom „Lockdown light“ vorgesehene Kontaktbeschränkung sei zwar nachvollziehbar – warum mussten aber die Gastronomen und die Museen mit deren außerst detaillierten Hygiene-Vorkehrungen ebenfalls schließen? Die Begründung für diese Entscheidung – „In 75 Prozent der Fälle kann der Ursprung der Infektionsketten nicht nachverfolgt werden, deshalb wurden auch potentielle Infektionsquellen vorsorglich unterbunden“ – sei für ihn nicht akzeptabel. Einen prinzipiellen Vorwurf an die deutsche Corona-Politik hatte Lindner allerdings auch: „Wie ist eigentlich die längerfristige Strategie?“ Und: wo liege „der zeitliche Horizont“ der Corona-Maßnahmen?

„Man schränkt sich freiwillig ein“

Die ganze Diskussion hätte sich dann wieder im gewohnten Kreise gedreht – dank einem weiteren Gast nahm sie aber eine völlig neue Richtung. Vanessa Vu, Tochter von Einwanderern aus Vietnam und heute Redakteurin von „Zeit Online“ mit dem Schwerpunkt-Themenbereich Ostasien, formulierte zwar das Problem fast wortwörtlich genau wie Lindner: „Was ich vermisse, ist eine klare politische Strategie, wo ich als Bürgerin sehe: Das machen wir jetzt und da kommen wir hin.“ Als Antwort darauf brachte sie aber das Beispiel Vietnam ins Spiel: Die Heimat ihrer Eltern zähle fast 100 Millionen Einwohner, in der ganzen Corona-Geschichte hätte das Land aber lediglich 1.300 Infektionsfälle registriert. Momentan würden täglich fünf bis 20 Neuinfizierte gezählt.

„Da wird nicht gemeckert und gesagt, ich brauche aber Böller, ich brauche meine Fußballspiele, und ich brauche dies und jenes“, so die Ostasien-Expertin. „Es gibt kollektive Anstrengungen im Verständnis, dass jeder einzelne Mensch wichtig ist. Und wir müssen gemeinsam etwas tun, um diese Pandemie zu bekämpfen. Man schränkt sich freiwillig ein, um eine freiheitlichere Situation für alle zu ermöglichen.“ Als Folge sei „das Leben in Vietnam heute ganz, ganz anders als hier.“

Vanessa Vu beließ es nicht bei ihren Feststellungen und ging zu Schätzungen über: Die deutschen Debatten um die Lockerungen und Einschränkungen finde sie „ein bisschen zynisch“, wo es heißt, „wir haben es ganz gut geschafft“ – dabei sterbe, statistisch berechnet, alle dreieinhalb Minuten ein Mensch an bzw. mit Corona.

In Deutschland „stolpern wir von einem Bund-Länder-Gipfel in den nächsten“, so Vu. Dies verursache aber „eine wahnsinnige Verwirrung der Bevölkerung“.

„Gibt es Querdenker in Japan?“

Anne Will vermied es taktvollerweise, Vietnam als „autoritär“ zu bezeichnen, sie charakterisierte es als einen „Ein-Parteien-Staat“. Deutschland hat, wie man weiß, eine etwas andere politische Struktur. Deshalb fand es Lindner am Platze, der deutschen Expertin mit vietnamesischen Wurzeln das politische ABC ihrer deutschen Heimat kurz beizubringen: Deutschland sei „ein Staat des Grundgesetzes“.

Dieser Staat „hat eine Verpflichtung für den Gesundheitsschutz, aber wir sind als Entscheidungsträger gebunden an das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Der Gesundheitsschutz ist nie das alleinige Ziel, sondern es misst sich an der Frage der Verhältnismäßigkeit.“

„Wir streiten uns zu viel“ – lautete eben die Formel von Söder, mit der er den Unterschied Deutschlands zu Ostasien charakterisierte. Jede Einzelheit von der Maskenpflicht bis hin zu Kontaktbeschränkungen müsse monatelang diskutiert werden. „Ich weiß nicht, ob es Querdenker beispielsweise in Japan gibt“, so der bayerische Ministerpräsident. Die Querdenker und sonstige „Verschwörungstheoretiker“ mit ihren „hunderten von WhatsApp“-Gruppen seien es aber, die „die Bereitschaft, mitzumachen, untergraben“.

Am Ende schien es auf den ersten Blick den „Anne Will“-Zuschauern überlassen, was sie als Bundesbürger vorziehen würden – „zu meckern“ und dabei mehrere hundert Corona-Tote am Tag in Kauf zu nehmen, oder „kollektive Anstrengungen“ zu unternehmen, die „der Ein-Parteien-Staat“ vorschreiben würde. Oder aber bestand die eigentliche Absicht der Redaktion darin, den Bundesbürgern zu suggerieren, sie sollten langsam doch aufhören, zu „meckern“?  


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