Gegen die Räumung des Hausprojekts "Liebigstraße 34" protestieren am Vortag des Gerichtstermins auch einige Demonstranten in der benachbarten Revaler Straße.
Nach monatelangem Rechtsstreit wurde am Mittwoch der Räumungsklage des Hausbesitzers stattgegeben. Zudem soll das sogenannte Projekt "Liebig34" rund 20.000 Euro an den Hausbesitzer zahlen und die Gerichtskosten tragen. Der Anwalt des Bewohner-Vereins kündigte bereits an, Einspruch gegen das Urteil einzulegen. Das Projekt gilt als eines der wenigen verbliebenen Symbole der autonomen Szene in Berlin.
Das seit mehr als 20 Jahren betriebene gemeinschaftliche Bewohner-Projekt in der Liebigstraße 34, das sich als "anarcha-queer-feministisches Hausprojekt Liebig34" bezeichnet, hatte sich nach einer Kündigung geweigert, das Haus zu verlassen. Der Hauseigentümer hatte im November 2018 Räumungsklage eingereicht, kurz bevor ein im Jahr 2008 ausgehandelter zehnjähriger Pachtvertrag auslief und vom Vermieter, der Siganadia Grundbesitz GmbH & Co. KG., nicht verlängert wurde.
Vor dem Verhandlungstag im Januar wurde ein Anschlag mit stinkender Buttersäure auf das Auto eines Rechtsanwalts des Hausbesitzers verübt. Der Anschlag wird der linksradikalen Szene zugeschrieben. In einem Bekennerschreiben, das auf der Szene-Internetseite Indymedia veröffentlicht wurde, hieß es dazu, der Anwalt mache die "Drecksarbeit für eines der größten Immoarschlöcher der Stadt." Schon beim Prozessauftakt im November 2019 war es zu tumultartigen Szenen im Landgericht gekommen. Mehrfach verübten radikalere Gegner des neuen Hausbesitzers Sachbeschädigung an Büros von Firmen, die mit dem Unternehmer zusammenarbeiten.
Mit öffentlichen Geldern geförderte Sanierungen
Das Gebäude in der Liebigstraße 34 wurde von der Siganadia Grundbesitz GmbH & Co. KG erworben, welche zum nicht sehr leicht überschaubaren Firmenkonglomerat des Immobilienunternehmers Gijora Padovicz gehört. Ein Zusammenschluss der "Geschädigten der Unternehmensgruppe Padovicz", darunter 230 Mieter, bezeichnet den Unternehmer als "Häusersammler und Menschenzerstörer ganz besonderer Art", da er sich besonders perfider Mittel bedient habe, um bezahlbaren Wohnraum zu vernichten.
Dazu zählten "überhöhte Betriebskostenabrechnungen, Ignorieren von angezeigten Mängeln und fehlende Instandhaltung und willkürliche Mieterhöhungen" sowie langfristiger Leerstand zu Spekulationszwecken. Padovicz habe demnach – mit politischer Unterstützung des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg – in den 1990er Jahren gut 100 sanierungsbedürftige Häuser günstig erworben und zudem auch noch Fördermittel des Landes und Kredite der Investitionsbank zur Instandsetzung erhalten. In diesem Zusammenhang habe es bereits Proteste von nicht bezahlten Handwerkerfirmen vor seinen Geschäftsräumen gegeben, auch seien mehrere Verfahren wegen Fördermittelbetrug anhängig gewesen, so die Mieter.
Laut Mieterverein hat der Immobilienunternehmer auch in den folgenden Jahren Gebäude in Berlin erworben und Sanierungen durch Programme wie "Soziale Stadterneuerung" fördern lassen, die Mieter dann aber entgegen den geltenden Programmgrundsätzen übergangen. Padovicz verlangt laut Medienberichten auch nach Inkrafttreten des in Berlin beschlossenen Mietendeckels, dass Bewohner in neuen Mietverträgen selbst unterzeichnen, dass sie den Mietendeckel für verfassungswidrig halten und im Falle des Scheiterns des Gesetzes vor dem Bundesverfassungsgericht automatisch eine weitaus höhere Miete zu zahlen bereit sind.
Einige der betroffenen Mieter sowie Mitglieder der Berliner Mieterbewegung klagen an, dass der Unternehmer mit seinen zahlreichen Immobilienfirmen nicht nur das Anmieten einer Wohnung für Normal- und Geringverdiener in der Hauptstadt praktisch unmöglich mache und mehrere tausend Menschen in der Stadt existenziell bedrohe, sondern dass auf diese Weise Berlin seinen Charakter und die "politische und experimentelle Kultur" sowie "alternative Lebensräume, Clubkultur und Kleingewerbe verlieren" werde, darunter Projekte wie eine Demenz-WG oder Kiez-Musikkneipen.
Andere betroffene Mieter in anderen Stadtteilen Berlins zeigten sich offen solidarisch mit den Bewohnern von "Liebig34".
Wir sind dankbar an alle Unterstützer*innen der @Liebig34Liebig die heute mit dabei waren. Als wir 08.2018 recherchierten, dass unser Käufer mit #Padovicz zusammen arbeitet, wurde uns übel. Zu sehen,dass andere schon lange dagegen ankämpfen gab uns Kraft.
— ElWe bleibt !! (@elbeeckeweigand) June 2, 2020
Zu dem vom Projekt "Liebig34" eingerichteten "Dorfplatz" im Stadtteil Friedrichshain kamen am Dienstagvormittag Menschen von mehr als 30 Projekten und Initiativen aus der Umgebung zusammen, um so Solidarität zu zeigen und "Verteidigungsbereitschaft" zu signalisieren. "Wir stehen hier als ein lebendes Schutzschild", sagte eine langjährige Anwohnerin der Zeitung Neues Deutschland. Am Dienstagabend kam es bei einer Demonstration für den Erhalt des Wohnprojekts laut Polizei zu 160 Festnahmen, mehr als 300 Menschen sollen protestiert haben.
Während des Prozesses am Mittwoch versammelten sich auf dem "Dorfplatz" vor der Liebigstraße 34 erneut rund 150 Menschen. Das Hausprojekt hatte zu einer alternativen Gerichtsversammlung und einem Theaterstück geladen, weil "wir uns schlicht und einfach weigern, mit diesem bürokratischen Akt zu kooperieren".
Moritz Heusinger, der Anwalt der "L34", wie das Projekt kurzerhand in Friedrichshain auch genannt wird, kündigte an, Einspruch gegen das Urteil vom Mittwoch einzulegen, da das Gerichtsurteil gegen den falschen Verein ausgesprochen worden sei. Zur Räumung verurteilt wurde der Verein Raduga e.V., dieser habe das Haus aber im Jahr 2018 verlassen und an den Verein Mittendrin e.V. übergeben. Im Haus ansässig ist demzufolge ein anderer Verein als der Beklagte, und der müsse separat herausgeklagt werden, so der Anwalt. Allerdings wäre es nicht der erste Fall einer Räumung, bei der erst im Nachhinein Rechtswidrigkeit festgestellt wurde. Somit sei er nur bedingt zuversichtlich, die Räumung noch verhindern zu können.
Der Eigentümer kann laut Gerichtsentscheid einen Gerichtsvollzieher beauftragen, wenn die Bewohner nicht freiwillig gehen. Bei der Räumung kann er auf die Hilfe der Polizei zurückgreifen.