„Mit großer Empörung habe ich gestern die unangemeldete Demonstration einer rechtsextremen und verschwörungstheoretischen Mischpoke in unserer Stadt wahrgenommen“, schrieb die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Recker auf Twitter zu den Corona-Protesten in ihrer Stadt am Samstag. Hier wollten „Trittbrettfahrer“ Ängste in der Bevölkerung für die Verbreitung ihres gesellschaftlichen Gifts nutzen, so Recker.
Am vergangenen Wochenende nahmen die seit Wochen andauernden, aber bisher eher lokalen Proteste gegen die Corona-Maßnahmen in mehreren Städten ihren Lauf. In Berlin versammelten sich unangemeldet etwa 1200 Teilnehmer der sogenannten „Hygiene-Demos“ rund um den Alexanderplatz, in Stuttgart und in München waren es schätzungsweise mehrere Tausende. In Köln zogen laut dem obersten Polizisten Uwe Jacob im Kern bis zu 500 bürgerliche, konservative Klientel durch die Innenstadt, dazu noch Links- und Rechtsextreme. Protestiert habe man ohne Abstände und Masken etwa gegen die Impfpflicht oder generell gegen den Staat. Nochmal würden die Stadt und die Polizei solche Vorgänge nicht hinnehmen, warnte Recker in dieser Hinsicht - und wurde sofort verbal in die Ecke gedrängt. „Sie sollten nicht alle, die eine andere Meinung zu den Grundrechtseingriffen vertreten, als Rechtsextreme und Verschwörungstheoretiker desavouieren. Das verträgt sich nicht mit der Neutralitätspflicht Ihres Amtes, Frau Recker“, konterte der Nutzer Andreas Schwartmann. „Ja, für die Herrschenden ist der Pöbel von der Straße, manchmal das Volk genannt, ein Ärgernis“, legte der Nutzer Hans Zwitscher nach.
Der Sprecher der Bundesregierung, Steffen Seibert, meldete sich am Montag wohl zum ersten Mal zu den Demos, indem er die Protestler aufforderte, die Verantwortung für die Mitbürger zu tragen bzw. Hygiene- und Abstandsregelungen einzuhalten. Angriffe auf Polizisten und Journalisten wie etwa auf das ZDF-Team am Samstag in Berlin verurteilte er scharf. Schließlich vertritt der Regierungssprecher nicht die Auffassung, dass die Stimmung einzelner Empörter sich auf alle Deutschen hochrechnen lasse. Laut einer Studie des Allensbach-Instituts im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung liegt das Vertrauen der Deutschen in die Bundesregierung trotz der Corona-Proteste bei einem Rekordwert seit 1999 von 49 Prozent. Auch das Image der Bundeskanzlerin hat von der Corona-Politik offenbar nur profitiert. Ob es sich für die regierenden Parteien lohnt, die Botschaften der unzufriedenen Mitte - abgesehen von den tatsächlichen Radikalen - überhaupt ernst zu nehmen?
So sagte die SPD-Chefin Saskia Esken den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Montag), wer die Pandemie leugne und zum Verstoß gegen Schutzvorschriften aufrufe, nutze die Verunsicherung der Menschen schamlos dafür aus, die Gesellschaft zu destabilisieren und zu spalten. Man müsse gegenhalten und sich als streitbare Demokraten erweisen. Die innenpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion Ute Vogt nannte gegenüber der „Welt“ die Proteste ein „gefundenes Fressen“ für Rechtsradikale.
Auch der CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak äußerte sich am Montag vor dem CDU-Präsidium gegenüber der „Augsburger Allgemeinen“, man lasse nicht zu, dass Extremisten die Corona-Krise als Plattform für demokratiefeindliche Propaganda missbrauchen würden. Seine Partei nehme die Sorgen der Bürger zwar ernst, klar sei aber auch, dass man konsequent gegen diejenigen vorgehe, die die Sorgen der Bürger mit Verschwörungstheorien anheizen und Fake-News in Umlauf bringen würden, so Ziemiak. Für den Grünen-Fraktionsvizen Konstantin von Notz ist es legitim, Maßnahmen infrage zu stellen und Unmut zu äußern. Den Fokus verlegte er aber eben auf diejenigen, die das System grundsätzlich infrage stellen und Politiker für Marionetten von etwa Bill Gates halten würden. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) verurteilte seinerseits in der TAZ eine „toxische“ Vermischung der Pegida und AfD mit den bürgerlichen und Existenzsorgen. Und es war überraschungsweise sein missglückter Vorgänger Thomas Kemmerich, der seine Teilnahme an einer Demo in Gera damit entschuldigte, dass er „Teile der Mittelschicht“ mit ihren Sorgen nicht von der AfD vereinnahmen lassen wolle.
Die AfD weiß von dem wachsenden Protestpotenzial zumindest lokal zu profitieren. In Baden-Württemberg hat die Landespartei für den Tag des Grundgesetzes, den 23. Mai, eine Großdemo gegen die Corona-Auflagen angemeldet. In kleineren Städten organisieren die Rechten schon längst die Proteste mit, ob am 1. Mai in Magdeburg oder am 6. Mai im sächsischen Pirna. Auch in Gera machte die Partei Anfang Mai mit einem Infostand am „Spaziergang“ mit, wobei der AfD-Bundestagsabgeordnete Stephan Brandner den „Freiheitsspaziergang in der Gewinnerstadt“ lobte. Zugleich beharrt die neu gegründete Bewegung „Widerstand 2020“ hartnäckig darauf, weder rechts noch links zu sein. Folgt man den Bewegungsforschern wie dem emeritierten Soziologen Dieter Rucht, lasse sich der Wunsch der Unzufriedenen nach einem breiten Widerstand gegen die Regierung nicht so schnell erfüllen. Auch die Demos hätten wenig Überlebenschancen und würden mit der Lockerung abflauen, es sei dann, es kommt die zweite Welle der Pandemie.
Ob diese tatsächlich kommt, lässt sich nicht leicht vorhersagen: Während die Bundesregierung davor warnt und die Reproduktionszahl des Virus kürzlich auf 1,13 gewackelt war, lehnen die Hausärzte und Virologen wie Dr. Ernst Zimmer aus Saarland solche Szenarien ab. Schon jetzt ist die Gründerin von „Widerstand 2020“, die Hannoveranerin Victoria Hamm, die die „Mitmachpartei“ vor drei Wochen gründete, zurückgetreten - es heißt, wegen Überlastung.