Die Automobilbranche ist eine der letzten in Europa verbliebenen Schlüsselindustrien. Deutschland ist als Exportchampion ein wesentlicher Autocluster. Ähnlich verhält es sich für wichtige Zulieferwerke in Österreich und andere Staaten in Mitteleuropa. Bratislava, die Hauptstadt der Slowakei, ist in den letzten Jahrzehnten zu einem Zentrum der Exzellenz europäischer Mobilität geworden. Die großen Werke von VW, Audi und Škoda haben dem Stadtteil Devínska Nová Ves den Vergleich mit Detroit schon öfter beschert. Als ich Anfang 2018 meinen ersten Auslandsbesuch als Ministerin in die Slowakei unternahm, fragte ich mich während der Termine mit meinen Gesprächspartnern, ob es sich wohl um das Detroit der Boom Jahre in den 1950ern oder jenes der späten 1980er handle, als die asiatische Konkurrenz Ford und Chrysler zunehmend Sorgen bereitete. Aus so mancher Autofabrik, ob Fiat in Turin oder Ford in Detroit, wurde ein Museum. Diese Gebäude symbolisieren den Abzug der Industrie und damit die Entleerung der Städte.
Die aktuellen Probleme, vor allem der deutschen Automobilindustrie, lauten: Hausgemachte Vorgänge wie Dieselskandal, Fahrverbote sowie mögliche US-Strafzölle und der weiterhin schwelende Handelskonflikt zwischen den USA und China. Diese Ursachen plus Einbruch der Konjunktur und Emissionsbeschränkungen ergeben eine brisante Mischung. Antriebstechnologien stehen nicht zuletzt wegen der Klimadebatte auf dem Prüfstand. Die Konkurrenz wächst. Für das Auto der Zukunft könnte es heißen „designed in China, assembled in Africa“, das wäre eine gewagte Paraphrase der Produktionsnotiz auf dem I-Phone, nämlich „designed in California, assembled in Africa“. Denn auf dem afrikanischen Kontinent ist die Nachfrage nach Mobilität und dem PKW groß, um einiges größer als in vielen gesättigten Märkten.
Das letzte Jahr war bereits für die Autobranche von Unsicherheiten gekennzeichnet. Zwischen dem von der Europäischen Kommission mittels „Green Deal“ vorgeschriebenen Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor, den neuen Antriebstechnologien und weltweiten Umsatzeinbrüchen, trafen ständig die Gewinnwarnungen ein. Die Pandemie Covid-19 trifft nun die Autoindustrie in Zeiten einer umwälzenden Technologietransformation. Ein annus horribilis, also ein Ausnahmejahr an Problemen könnte angebrochen sein. Denn hinzu kommt infolge des globalen Lockdown eine bis dato nie da gewesene Form der Immobilität. Letztere führt zu einem gewaltigen Einbruch der Erdöl-Nachfrage. In welcher Form Transport, Luftfahrt und Individualverkehr noch im Laufe dieses Jahres zu Aufholeffekten führen, ist fraglich. Vielmehr ist mit einem sehr niedrigen Grad an Mobilität und den damit verbundenen Folgen für den Automarkt zu rechnen.
Die aktuelle Rezession, die laut Weltwährungsfonds mit jener von 1929 vergleichbar sei, wird die Autoindustrie schwer treffen und damit für viele Regierungen zum Testfall werden. Autokonzerne entwickeln sich seit Jahren zunehmend zu Mobilitätsunternehmen, wobei die Zukunft des Antriebs und des Vertriebs (car sharing) neu entsteht. Es verändert sich das Geschäftsmodell Autobranche von der Produktion, den erforderlichen Rohstoffen bis zum Autohändler grundlegend. Die De-Industrialisierung ist weit fortgeschritten, Arbeitsplätze in anderen Branchen zu finden, wird schwierig werden. Doch inmitten dieser Pandemie wird nun auch in Europa wie zuvor schon in den USA der Ruf immer lauter, Produktion und Lieferketten zu überdenken. Backshoring als Kontrastprogramm zum Offshoring, das mit dem Siegeszug der Globalisierung zur Auslagerung wesentlicher Industriebranchen in Billiglohnländer in Asien führte, ist das neue Credo.
Die Staats- und Regierungschefs der EU hatten vor wenigen Tagen die EU Kommission beauftragt, ein Programm für den Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft nach der Coronakrise zu erarbeiten. Ein Gesamtpaket von 1,5 bis zwei Billionen Euro soll geschaffen werden. Der EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton hat hierbei der Autoindustrie große Unterstützung aus Brüssel zugesagt: rund zehn Prozent, also 150 bis 200 Milliarden, sollen der Automobilindustrie zufließen; aber auch in Richtung Bahn und Schiffswerften, die zuletzt nur mehr nach Asien abgezogen wurden. Die Mobilität soll neu erfunden werden, was auch die Luftfahrt betrifft. Auch hier bestimmen Regierungen, die Konzerne wie Lufthansa oder Air France KLM retten, die zukünftige betriebswirtschaftliche Ausrichtung. Der Staat als Manager ist ein altes Thema, um das herum Revolutionen und Kriege stattgefunden haben. Wie wird es sich mit der Umsetzung des EU Green Deal und den Vorgaben zum Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor verhalten? Primat der Wirtschaft oder doch Primat des Staates, das sind alte Fragen, die wieder neu beantwortet werden wollen.
Der Erdölpreis und die Autoindustrie bilden zwei Seiten derselben Medaille. Stieg der Rohölpreis massiv an, so u.a. 1973 und 1979, folgten effizientere Autoflotten aus dem asiatischen Raum. Die damals dominante US-Produktion musste den neuen Mitbewerbern aus Japan und Korea weichen. Die europäische Autoindustrie erfand sich neu. Sank hingegen der Preis, so vorallem in den 1990ern, wurde der SUV zum Stadtauto. Die Automessen sind Gradmesser für Stimmung und Stand des Autos. Die Industrie reagiert meist sehr schnell auf Entwicklungen des Erdölpreises und der Nachfrage. Die Autosalons 2019 waren sehr schlecht besucht; jene von 2020 wurden infolge der Pandemie abgesagt,
Die Erdölindustrie wird zunehmend ihre Umbrüche erleben, aufgrund einer Nachfragespitze – peak in demand. Denn bevor uns allenfalls die Erdölvorräte ausgehen, wird die Nachfrage nach Erdöl sinken. Wesentliche Agenda der Umweltbewegungen seit den 1970ern war die Erschöpfung der Erdölvorräte, die oft zitierte Angebotsspitze „peak oil“. Tatsächlich erleben wir aber bereits seit Jahren eine Nachfragespitze, die in den letzten Wochen zu gewaltigen Verwerfungen auf dem Erdölmarkt geführt hat. Die Pandemie zwingt uns in die Immobilität, damit werden über 30 Millionen Fass Rohöl pro Tag weniger gebraucht. Szenarien für die Nachfrage in der zweiten Jahreshälfte zu erarbeiten, ist hohe Wissenschaft. Denn Preisanstiege bei Wiederaufnahme der Industrie und vor allem der Mobilität sind nicht auszuschließen.
Nunmehr steht aber der Verbrennungsmotor infolge der Emissionsbeschränkungen auf der Kippe. Fraglich ist aber, ob in einer lang anhaltenden Krise die Menschen an neue Automodelle denken. Kaum eine Firma, die mit dem Überleben kämpft, wird ihren Fuhrpark auf das Leasing von Elektroautos umstellen. Das Auto ist eng mit der Gesellschaftspolitik verknüpft. Heute so eng, dass die soziale Frage mit der Leistbarkeit individueller Mobilität verbunden ist. Riefen die Menschen vor einer Revolte einst „Wir wollen Brot“, so begannen die Proteste der Gelbwesten in Frankreich im Herbst 2018 infolge einer zusätzlichen Besteuerung der Mobilität.
Die Probleme von gestern wirken angesichts von Massenarbeitslosigkeit und drohender Verarmung vieler Teile der Bevölkerung geradezu wie Luxusprobleme. Wie sich 2020 noch entwickelt, ob es um gesundheitliche Trends oder große wirtschaftliche Verwerfungen geht, werden wir hoffentlich alle erleben. Die Gefahr mutierender Viren ist gegeben ebenso wie jene der antibiotikaresistenten Keime, die bei fast jedem Spitalsaufenthalt zur Ansteckung führen können, und das bereits lange vor der Corona Krise.
Die Geschichte wird weitergehen, Menschen werden sich an neue Umstände anpassen, und wir werden die Sehnsucht haben, mobil zu sein. Das Automobil, also selbstständig mobil zu sein, hat die Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts und dann nochmals nach 1945 revolutioniert. Ein Henry Ford machte aus dem Luxusobjekt Auto einen Gebrauchswagen. Ob das Auto nun wieder zum Luxus wird?
Dr. Karin Kneissl, Analystin und Autorin. Im Sommer erscheint ihr Buch „Die Mobilitätswende“ im Braumüller Verlag in Wien. Die Autorin war bis Juni 2019 Außenministerin von Österreich, seither ist sie wieder freischaffend, u.a. in der Lehre tätig. Für Ria Novosti und andere russische Agenturen hat sie in den letzten Jahren immer wieder Experteninterviews gegeben. Auf Einladung von Sputnik schrieb sie diesen Text.