Zwar wollte der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet, Ende März schon die Exit-Strategien aus den Ausgangsbeschränkungen ansprechen, die Bundeskanzlerin Angela Merkel blieb aber standhaft: zu früh. Im Hintergrund werden Hunderttausende auf Kurzarbeit umgestellt, große und kleine Firmen befürchten schon jetzt Pleite, sollte die staatliche Hilfe nicht rechtzeitig ankommen.
In der Medienwelt sind Virologen längst neue Influencer. Auf die einflussreichsten wie Christian Drosten von der Charite hört vor allem Merkel. Ende Februar meinte Drosten, es würden sich bis zu 70 Prozent der Deutschen infizieren. Sollte das Infektionsgeschehen in komprimierter, kurzer Zeit auftreten, so der 48-Jährige, wären die Behörden aufgefordert, alles dagegen zu tun. Rechnet man die durchschnittliche Sterberate der Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf die dann nach Drosten 56 Millionen Infizierten in Deutschland um, heißt es, 1,9 Millionen würden alleine in Deutschland sterben. Auch musste ein Kollaps im Gesundheitswesen mit Blick auf Italien mit allen Mitteln verhindert werden. Gefragt ist Solidarität - und zwar nicht nur im Sinne der Vorsichtigkeit und gegenseitige Hilfe. Wer es wagt, die strenge Verbotspolitik in ihrer Wirksamkeit bei der Corona-Eindämmung sowie die Schädlichkeit für die Wirtschaft und die darauf angewiesenen Menschenleben zu hinterfragen, wird entweder millionenfach aufgerufen oder als „Verunsicherer“ angeprangert.
So warf der FAZ-Autor Markus Wehner den russischen staatlich finanzierten Medien in einem Artikel das angebliche Ziel vor, durch „alternative Fakten“ Verunsicherung erzeugen und so „das Vertrauen in die westlichen Regierungen“ erschüttern zu wollen. Es ging unter anderem um den Sputnik-Artikel zu den wahrscheinlich fehlerhaften Daten, die als Grundlage weitreichender politischer Entscheidungen dienen würden. Ganz emotionalisiert nahm sich Wehner vor, neben den nüchternen Hinweisen die westlichen Regierungen in Schutz vor dem Kreml zu nehmen - auch wenn Moskau und ganz Russland jetzt selbst harte Ausgangsbeschränkungen einsetzen. Folgt man aber seiner Logik, dann wären alle Kritiker von Verbotspolitik „von Moskau gesteuert“.
Auch in wissenschaftlichen Kreisen lässt sich die Spreu vom Weizen trennen. So sorgte der in den professionellen Kreisen weit zitierte, derzeit schon emeritierte Professor am Institut für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene der Universität Mainz, Sucharit Bhakdi, mit einem Videointerview - und einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Merkel für viel Wirbel.
So will Bhakdi von Merkel wissen, ob bei den Hochrechnungen zwischen symptomfreien Infizierten und tatsächlichen, erkrankten Patienten unterschieden wird. Sypmtomfreie und damit nicht wirklich „erkrankte“ Infizierte müssten nach Bhakdis Logik nicht in die angenommenen fünf Prozent aller Infizierten eingeschlossen werden, die dann ein Krankenhausbett benötigen und das Gesundheitssystem im Übermaß belasten würden. Auch bezweifelt Bhakdi, dass das COVID-19 Virus ein bedeutend höheres Gefahrenpotenzial hat als die bereits kursierenden Coronaviren. Die derzeitigen Maßnahmen findet Bhakdi „grotesk, überbordend und direkt gefährlich“, denn die Lebenserwartung älterer Menschen werde verkürzt und es gebe schon Engpässe bei der medizinischen Versorgung aller anderen Patienten - ganz zu schweigen von den wirtschaftlichen Folgen. Sein Fazit: Die Gesellschaft, die den bestehenden Maßnahmenplan unterstützt, begeht einen kollektiven Selbstmord.
Bhakdi ist nicht alleine. Auch der Direktor des Bonner Instituts für Virologie, Hendrik Streeck, mahnte in einem „Handelsblatt“-Interview, weiter steigende Neuinfektionen sollten nicht zu Aktionismus oder Panik verleiten. Was im Moment unternommen werde, sei schon drastisch. In einem früheren FAZ-Interview versicherte Streeck, dass das neuartige Virus zwar ansteckender, aber nicht gefährlicher sei als die älteren Coronaviren. Auch wies er darauf hin, dass die Corona-Infizierten unter älteren Leuten auch dann in die Statistik aufgenommen werden, wenn sie z.B. am Herzversagen und nicht an einer Lungenentzündung sterben würden. „Die Frage ist aber, ob er nicht sowieso gestorben wäre, auch ohne Sars-2.“ Der deutsche Radiologe und Ehrenpräsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, weiter: Ein Lockdown sei eine politische Verzweiflungsmaßnahme. „Wer so etwas verhängt, muss auch sagen, wann und wie er es wieder aufhebt. <...> Italien hat einen Lockdown verhängt und hat einen gegenteiligen Effekt erzielt <...> Virusausbreitung innerhalb des Lockdowns überhaupt nicht verlangsamt.“
Weiter meinte der rennommierte Ostschweizer Infektiologe Pietro Vernazza vom Kantonsspital St. Gallen in einem Interview, er habe verlässliche Zahlen aus Italien bekommen, woraus deutlich werde, dass rund 85 Prozent aller Infektionen erfolgt seien, ohne dass jemand die Infektion bemerkt habe. 90 Prozent der verstorbenen Patienten seien nachweislich über 70 Jahre alt, 50 Prozent über 80 Jahre alt. Wenn man Schulen schließe, verhindere man, dass die Kinder schnell immun werden. Seine Nachfrage beim Bundesamt für Gesundheit habe gezeigt, dass die Entscheidung nicht auf wissenschaftlicher Basis erfolgt sei, sondern am Beispiel an anderen Ländern. „Mindestens sollten wir die wissenschaftlichen Fakten besser in die politischen Entscheidungen einbinden“, mahnt Vernazza.
Auch Michael T. Osterholm, US-amerikanischer Epidemiologe für Infektionskrankheiten und Direktor des Zentrums für Forschung und Politik im Bereich Infektionskrankheiten an der University of Minnesota, mahnt: Der Lockdown ohne absehbares Ende könnte nicht nur zu einer Depression, sondern zum völligen Zusammenbruch der Wirtschaft führen, bei dem viele Arbeitsplätze dauerhaft verloren gehen würden, lange bevor der Impfstoff da sei. Als Alternative schlägt er vor, Menschen mit einem geringen Risiko für schwere Krankheiten zu ermöglichen, weiter zu arbeiten, Unternehmen und Industrie zu bedienen und die Gesellschaft zu „verwalten“, während Menschen mit einem höheren Risiko besser in Schutz genommen und die Kapazitäten im Gesundheitswesen verstärkt werden könnten.
Jetzt liegt die durchschnittliche weltweite Sterberate bei Covid-2019 laut den Daten der privaten US-amerikanischen Johns Hopkins University bei 5,2 Prozent. Der Direktor der WHO, Tedros Ghebreyesus, Anfang März von 3,4 Prozent gesprochen. Auch das Robert-Koch-Institut (RKI) meinte: Sterberate ist bei Coronavirus höher als bei Grippe. Die Sterberate bei der Influenza variiert sich dabei laut der WHO saisonabhängig von 0,1 bis 0,2 Prozent. Ein Argument für die Relativierer? Auch das RKI geht davon aus, dass die Zahl der tatsächlichen Corona-Fälle etwa vier- bis elfmal höher als die registrierten ist. Irgendwie schrieb auch der Professor für Medizin an der Stanford University, Dr. John Ioannidis, in seinem Artikel für Stat News unter Verweis auf seine statistischen Berechnungen, die reale Sterberate bei Corona liege etwa für die US-Bevölkerung zwischen 0,05 und einem Prozent. Hätte man von dem neuen Virus nicht gewusst und auf das Virus nicht getestet, wäre die Anzahl der Todesfälle von einer „grippeähnlichen Krankheit“ in diesem Jahr nicht ungewöhnlich - wahrscheinlich nur etwas höher.
Wer hat Recht? Diejenigen, die die aktuelle Corona-Politik kritisieren, ohne die Gefahr durch das Virus grundsätzlich abzulehnen, oder die „Dramatiker“, die auf den Fall Italien immer wieder verweisen, Fotos von überfüllten Krankenhäusern posten und vor mehreren Millionen Toten warnen? Kann sich jemand als falscher Experte, Alarmist, Scharlatan herausstellen? Viele davon sind doch Fachleute mit einem langjährigen Ruf, den sie für einen kurzfristigen Hype kaum geopfert hätten.
In einem anonymen Brief an Sputnik beschwerte sich kürzlich eine Krankenschwester aus den Hamburger Asklepios Kliniken über Mangel an Schutzausrüstung, wodurch das Personal zusätzlich bedroht wird. In den sozialen Netzwerken tauchen in den letzten Tagen mehrere verzweifelte Posts auf, die das Problem mit dem Fachkräftemangel noch akuter machen. „Durch Sparmaßnahmen wurden wir auf ein Minimum reduziert, so dass uns eine adäquate Patientenversorgung in den meisten Fällen nicht möglich war“, schrieb ein Krankenpfleger in einem offenen Brief an Gesundheitsminister Jens Spahn, der sofort viral ging.
Ein sehr guter Freund von mir ist Krankenpfleger und hat einen offenen Brief an Jens Spahn geschrieben. Da er selbst kein Twitter hat, teile ich das hier für ihn. Ich bettle selten um Retweets, aber in diesem Fall würde mich (und Carl) das SEHR freuen! Bleibt gesund! pic.twitter.com/CRI9YPzcvp
— Komodowaranin (@komodowaranin) March 30, 2020
„Warnungen wurden überhört, Überlastungsanzeigen blieben unbeantwortet. <...> Wir müssen in einem heruntergewirtschaften, maroden System alle verbleibenden Kräfte mobilisieren und werden gezwungen, Entscheidungen über Leben und Tod zu treffen, die wir vielfach nicht hätten fällen müssen.“ Seine Frage an Spahn ist: Wieviel mehr hätte man retten können, wenn die Arbeit nicht seit Jahrzehnten durch die Diktatur des Kapitals unmöglich gemacht worden wäre?
Dazu schreibt unter anderem der russische Polittechnologe Waleri Prochorow, es gehe nicht darum, was die Virologen und Ärzte hervorheben würden, sondern worüber die Gesundheitsämter und alle Verwickelte lieber schweigen würden.
„Es besteht die Gefahr von Pandemien auf der Welt, die moderne Gesundheitssysteme mit rein medizinischen Maßnahmen nicht bewältigen können.“
Die Gesundheitsbürokraten, so Prochorow, würden den Menschen erklären, dass der Teufel im Detail stecke und Optimierung heiße. Statistikdaten, die die erforderliche Anzahl von Betten, Ärzten, Beatmungsgeräten und anderen notwendigen Geräten berechnen würden, seien „posthum“: sie würden also die Epidemien beschrieben, die die Menschheit bewältigt hat. Eine verlängerte Inkubationszeit einer neuen Virusinfektion um einige Tage setze alle Berechnungen vergangener Perioden zurück und schaffe eine andere Realität, in der eine Person später behandelt und ebenso später von den Gesunden isoliert werde, als es bei der Planung der antiepidemischen Kapazitäten im Gesundheitssystem der Stadt X vorhergesehen worden sei. „Der Zusammenbruch mehrerer kommunaler Gesundheitssysteme kann auf nationaler Ebene zu einer Katastrophe wie in Italien führen.“
In seiner nüchternen Expertise ist Prochorow nicht alleine. Der bekannte US-Forscher in den Bereichen Statistik, Zufall, Epistemologie und ehemalige Finanzmathematiker Nassim Nicholas Taleb schrieb kürzlich über die Corona-Epidemie, sie hätte so oder so passieren sollen.
„Die Unvermeidlichkeit der globalen Pandemie ist eine Folge der Struktur der modernen Welt, ihrer übermäßig erhöhten Konnektivität und ihrer übermäßigen Optimierung.“
Taleb weist einen darauf hin, dass Länder wie Singapur - China ist auch dabei - schon seit 2010 einen Aktionsplan für solch ein Szenario parat gehabt hätten. Eine Risikoanalyse unter dem Titel „Pandemie durch Virus Modi-SARS“ hatte auch die Bundesregierung schon 2012 zur Verfügung, entwickelt vom RKI und zahlreichen Bundesämtern. Es war jedoch ein Maximalszenario mit etwa etwa sechs Millionen Erkrankten in Menschen in Deutschland nach 300 Tagen und einer Sterberate von 10 Prozent - im Sinne der Epidemiologie also ein falsches. Aktuell entspricht die deutsche Sterberate mit 1.158 Gestorbenen nach den Angaben des Instituts etwa 1,3 Prozent.
Eigentlich hatte auch die neoliberale US-Stiftung „The Rockefeller Foundation“ samt der Beratungsfirma „Global Business Network“ seit 2010 eben vier unterschiedliche „Szenarien für die Zukunft der Technologie und der internationalen Entwicklung“ im Blick. Eine davon ist der sogenannte „LOCK STEP“, eine Weltgemeinschaft mit dem höchsten Grad an „Antiglobalismus“ und dem Mindestmaß an globaler „Anti-Fragilität“. Ein günstiger Boden für Verschwörungstheoretiker jeder Art, jedoch wird einem bei der Lektüre sofort klar, dass die Autoren der Studie dieses Szenario lieber um jeden Preis verhindern würden, denn es wäre auch ein Szenario einer gespaltenen Welt, in der die Kontrolle durch die Regierung und die autoritäre Herrschaft verschärft, Innovationen und Bürgerrechte und -freiheiten begrenzt würden.