Peter-Michael Diestel und Joachim Gauck in der Volkskammer (1990)
Am 23. März 2012 wurde der Ex-DDR-Pfarrer Joachim Gauck als elfter Bundespräsident vereidigt. Zu diesem Zeitpunkt war es erst wenige Wochen her als man Gaucks Vorgänger, Christian Wulff, zum Ketzer erklärte und ihn unter Zuhilfenahme eines medialen Sturmtrupps aus dem Amt hetzte. Von den meisten Vertretern ebendieser Medienhäuser wird uns Joachim Gauck bis heute als charismatischer Bürgerrechtler, diplomatisch versierter Versöhner, erfolgreicher Stasi-Jäger und moralisch integrer Verfechter der Freiheit präsentiert. Mitnichten!
Im Juni 2013 gab der Bundespräsidentendarsteller Joachim Gauck dem ZDF ein längeres Interview, unter anderem zur NSA-Affäre. Gewohnt pastoral drückte sich Gauck um eine definitive Aussage herum. Auf Snowdens angesprochen, bat er – nach wochenlanger ausufernder Berichterstattung! – um „noch mehr Informationen“ und psalmodierte „Sympathie (…), „wenn eine Regierung dabei ist, das Recht zu beugen“ und es einen gebe, „der sich aufgerufen fühlt, diese Rechtsbeugung öffentlich zu machen“. „Für puren Verrat“ indes, so die Keule im Anschluß, „habe ich kein Verständnis.“ „Verrat“ – wenn es um die Aufdeckung von Geheimdienstbespitzelung geht? Kann so einer formulieren, der angeblich „gefangen in der DDR“ gewesen war und damals als „Bürgerrechtler“ gegen die Schergen der Staatssicherheit opponiert haben will?
Buchtipp zum Thema: Joachim Gauck. Der richtige Mann? von Manfred Manteuffel und Dr. Klaus BlessingJoachim Gauck 2013 im ZDF-Sommerinterview
Das es mit Gaucks Anti-Stasi-Engagement doch nicht so weit her war, legen Dokumente nahe, die Klaus Blessing und Manfred Manteuffel in dem gerade erschienenen Buch »Joachim Gauck – Der richtige Mann?« vorgelegt haben. Blessing war Staatssekretär im DDR-Wirtschaftsministerium gewesen, da könnten Kritiker unken, es gehe um eine politische Abrechnung mit SED-Kritikern. Doch die Autoren haben solide gearbeitet und ihre Aussagen profund mit Quellen belegt. Vor allem aber: Manteuffel war von 1984 bis 1990 Referent für Kirchenfragen beim Rat der Stadt Rostock – und damit in ständiger Tuchfühlung mit Gauck, der zur selben Zeit in der Hansestadt Pfarrer war.
Das Autorenduo erinnert daran, daß auch die bundesdeutschen Eliten kurz nach der Wiedervereinigung nicht so ungeteilt auf die Integrität des ostdeutschen Gottesmannes vertrauten, wie es heute der Fall scheint. Spektakulär war etwa eine kritische Dokumentation über das Wirken von Gauck als Beauftragter für die Stasi-Unterlagen, die das ZDF unter der Moderation von Bodo H. Hauser am 17. April 1991 sendete. Der Spiegel und Kennzeichen D warfen nach der Sendung die Frage auf, ob Gauck als Leiter der Behörde nach diesen Enthüllungen noch tragbar sei. Kein Wunder: Gauck hatte bei der Aufnahme des Interviews Wirkung gezeigt. Es mußte zweimal abgedreht werden, da die erste Fassung nicht sendefähig war und gelöscht werden mußte. Der Grund: Gauck war ausgerastet und hatte dem Interviewer angedroht: „Für Ihre Fragestellungen möchte ich Ihnen am liebsten eine knallen.“
Bodo H. Hauser resümierte den Recherchestand seiner Redaktion: „Joachim Gauck hat durch sein Verhalten selbst dazu beigetragen, daß man auch seine Vergangenheit aufarbeitet. (…) Joachim Gauck hat über mehrere Stunden unkontrolliert seine eigene [Stasi-]Akte eingesehen. Trotz seiner, schon vor dieser Sendung heute abgegebenen Erklärungen beantwortet er nicht die Frage, warum er alleine und unkontrolliert Einsicht nahm.“ Hatte Gauck als „Herr über alle Akten“ seine eigene frisiert? Warum musste Gauck 1991 seinen Dienststellenleiter nach Rostock schicken, um ihn in seine Akte einsehen zu lassen? Und warum betonte er, daß diese zu jenem Zeitpunkt „noch versiegelt“ war? Er hatte die Akte doch längst selbst entsiegelt und am 2. und 3. August 1990 mehrere Stunden allein mit seinen persönlichen Stasi-Unterlagen zugebracht, wie in der erwähnten ZDF-Sendung durch Zeugen und Dokumente belegt worden war.
»Der Fernsehsender ZDF – so meldete die Hamburger Welt am 23. April 1991 – verbreitete, ›Gauck habe die vom MfS über ihn angelegten Akten mehrfach und über längere Zeit ohne Beisein anderer Personen eingesehen‹. Es fanden sich dennoch hinterher Papiere, die belegen, dass der „Inquisitor“ Kontakte mit jenem Amte gepflegt hatte, das nicht nur in den Neu-Fünf-Ländern, sondern vor allem in Bonn und seinen Medien gern mit dem Leibhaftigen verglichen wurde. Am 19. September 1995 publizierte der Tagesspiegel den Artikel einer Regina Mönch über Gauck, und die kam auf die ›böse Vokabel‹ zurück: ›Angegriffen wird Gauck vor allem aus den Reihen der PDS. Auf dem letzten Parteitag wurde ein Büchlein vertrieben, in dem Gauck als Großinquisitor vorkommt. Zum Vergleich für Gaucks Rolle heute dient der Fall eines Pariser Advokaten aus dem 17. Jahrhundert, der durch üble Nachrede und Inquisition auf dem Scheiterhaufen endete, nicht ohne zuvor grausam gefoltert worden zu sein. Ein Ex-Hauptmann von der Stasi brüstet sich im folgenden mit banalen Kenntnissen über den damaligen Pfarrer, und er bedauert, dass sie Leuten wie Gauck nicht auf die Sprünge gekommen sind.‹« (Der Tagesspiegel, 19.9.1995)
Gauck war allein mit seiner seiner Akte
Dies war eine schlichte Lüge, die nur so zu erklären war, daß Regina Mönch das Buch nie gelesen hatte. Denn wiedergegeben worden war in dem Buch eine »Stasi-Akte« und zwar eine, die Herrn Gauck betraf. Schon 1991 hatte der Spiegel (17/1991) vermeldet: »Was seit Wochen blubbert und schwelt, erfährt am Mittwoch voriger Woche im ZDF ein Millionenpublikum. Der Leiter von ›Studio 1‹, Bodo H. Hauser, meldet ›schwere Zweifel‹, daß der ›Herr der Stasi-Akten‹ integer genug ist. Als Kernstück eines Potpourris, in dem der schneidige Kommentarton Skandalöses unterstellt, wirft der Magazinmacher dem Behördenchef vor, seine persönlichen Unterlagen im Rostocker Stasi-Bezirksarchiv stundenlang allein eingesehen zu haben. Daß er Grund genug zur Diskretion gehabt haben könnte, schwingt dabei mit: Schließlich sei Gauck als Organisator des DDR-Kirchentages 1988 für den ›störungsfreien Ablauf‹ von der Staatssicherheit höchstselbst belobigt worden. Der Angeklagte bemüht sich um Gelassenheit. Seine Auffassung, die einzelnen Fallgeschichten möglichst unaufgeregt zu erörtern, soll jetzt auch für ihn selber gelten. ›Ich bin nie IM gewesen‹, sagt er milde und lächelt dabei.«
Der Spiegel hatte es damals nicht dabei belassen, sondern konstatiert: »So hängt ihm denn nun vor allem die Dummheit an, die Dokumente letzten Sommer ohne Begleitung geprüft zu haben. Sich dafür zu rechtfertigen, fällt ihm sichtlich schwer, und der FAZ scheint das zu reichen, ihr Gauck-Bild umzumalen.« Klartext: Joachim Gauck hatte sich im Sommer 1990 – also noch vor dem »Beitritt« – in die Räumlichkeiten begeben, in denen das MfS die Akten aufbewahrte, hatte dort mutterseelenallein in den Akten gewühlt – einleuchtend, daß er vor allem seine in den Händen hatte –, und niemand weiß, ob er sie an Ort und Stelle liegen ließ oder mitnahm. In dem schon zitierten Wochenpost-Interview hatte ihn ein Leser gefragt: »Warum spielen Sie Ihre eigene Stasi-Affäre runter?«, und Gauck hatte geantwortet: »Ich hatte keine. Ich habe eine Stasi-Akte, einen operativen Vorgang, das ist eine klassische Opferakte.« Doch Gauck konnte sich nie von dem Verdacht befreien, belastendes Papier beiseite geschafft zu haben. Wieder und wieder wurde die Frage in den Medien gestellt und erörtert.
Im November 1995 war das Thema erneut in die Schlagzeilen geraten und wurde auf allen Fernsehkanälen diskutiert. Einer der renommiertesten TV-Rezensenten, Peter Hoff, machte sich die Mühe, verschiedene Sendungen zu verfolgen und schrieb für das Neue Deutschland auf, was ihn bewegt hatte: »Dieser Mann lässt frösteln. Ich bin wahrlich kein Sensibelchen, das verbietet mein Beruf. Bei Joachim Gauck versagte meine Kaltblütigkeit. Am Montag (dem 6. November 1995 – K. H.) saß er in der Runde um Lea Rosh beim ›Talk vor Mitternacht‹ (N 3), am Dienstag (dem 7. November 1995 – K. H.) war er Hauptperson bei ›Gespannt auf‹ (WDR). Es ist die schreckliche Selbstgerechtigkeit, die Gauck ausstrahlt, die das Gefühl der Kälte erzeugt, das mich früher auch bei seltenen Begegnungen mit den Teilhabern der Macht in der DDR beschlich, mit Schabowski beispielsweise. Eine Haltung, die dem Selbstzweifel nicht den geringsten Raum lässt und zu in jedem Fall definitiven Aussagen und Urteilssprüchen führt. Gauck hat seiner Biographie den entscheidenden Schliff gegeben, die sie nun von der seiner Generationsgenossen unterscheidet. Will man ihm glauben, so hat er nie unsere Zweifel gehabt, war er nie auch nur in Versuchung geraten, den Sozialismus als gesellschaftliche Alternative zu akzeptieren. Man könnte dem beurlaubten Pfarrer vorhalten, daß sich Festigkeit im Glauben erst in der Anfechtung erweist. Aber es ist fraglich, ob ihn ein solcher Vorwurf noch träfe. Gauck hat in seiner Biographie geschwärzt, was nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist.
Ein Beispiel: Am 17. April 1991 war ein Beitrag der ZDF-Sendung ›Studio 1‹ einer unbewiesenen Behauptung seitens der Superillu gewidmet, Joachim Gauck sei Stasi-Spitzel gewesen. Bei dieser Gelegenheit bestätigte der Rostocker Pastor im Interview, ein Hauptmann des MfS habe ihm nach dem Kirchentag 1988, ›seinen Dank (…) ausgesprochen‹ für die reibungslose Durchführung dieser Veranstaltung. Im gleichen Beitrag spielte auch die MfS-Akte ›Rostock/I 533/83‹ eine Rolle. Darin, so wurde im Beitrag dargelegt, bescheinigt ein MfS-Hauptmann dem Pastor, nach der erlaubten Ausreise seiner Söhne in den Westen und einer ihm genehmigten Westreise sei von Gauck ›kein Konfrontationskurs mit dem Staat mehr zu erwarten‹. Ralf Merkel, Abteilungsleiter im Komitee zur Auflösung des MfS/AfNS, erklärte in der Sendung: ›Am 2. August 1990 erschien Gauck im Archiv in Rostock. Es wurde die Bereitstellung seiner Unterlagen verlangt. (…) bei der Durchsicht seiner Akten war keine weitere Person zugegen.‹ In der WDR-Sendung behauptete Gauck ohne Zögern, es seien seinerzeit ›viele Leute‹ dabeigewesen, als er für wenige Minuten in seine Akte Einsicht nahm. Dem widerspricht nicht allein das Statement von Ralf Merkel, der eindeutig sagte: ›Herr Gauck hat sich mehrere Stunden allein im Archiv aufgehalten‹ und sei hinterher nicht untersucht worden; auch ein Aktenvermerk, in der gleichen ZDF-Sendung zitiert, besagt, es sei am 2. August ›keine Person anwesend‹ gewesen.
Das bestätigte Gauck im Mai 1991 auf einer Pressekonferenz im IPZ Berlin, von der die nächste Sendung von ›Studio 1‹ berichtete. Woran sich Gauck heute nicht mehr erinnern kann, wusste er damals noch genau, nämlich ›dass ich die Akten in einem auch den anderen Archivmitarbeitern zugänglichen Raum allein eingesehen habe‹ und fand dies ›nicht ungewöhnlich‹. Peter Michael Diestel, damals Innenminister der Regierung de Maizière, nannte Gaucks Handeln ›eindeutig illegal‹ und ›rechtswidrig‹. Lüge, Verdrängung – oder Arroganz der Macht, die auf die Vergesslichkeit der Zeitgenossen baut und sich damit das Recht herausnimmt, die Geschichte und darin auch die eigene Biographie gemäß den aktuellen Opportunitäten zu ›korrigieren‹? – Menschliche Schicksale scheinen Joachim Gauck nicht zu interessieren.
Dass der PDS-Bundestagsabgeordnete Gerd Riege mit Stasi-Vorwürfen in den Selbstmord getrieben wurde, lag seiner Meinung nach nur daran, dass Riege die Gauck-Behörde nicht hatte wissen lassen, dass er sich von ihr ungerecht eingeschätzt fand. Und gab es nicht auch in der DDR Selbstmorde politisch Verzweifelter? – In beiden aktuellen Sendungen zeigte sich Joachim Gauck, um keine Antwort verlegen und den geborenen Demokraten herausstellend, als ein Mensch, dem die wichtigsten Tugenden eines Christen abgehen: Gnade und Barmherzigkeit. Und vielleicht neben der Liebe zu anderen Menschen auch die Liebe zur Wahrheit.« So Peter Hoff im Neuen Deutschland am 10. November 1995. […]
23 April.1991 – „DIE WELT“ Gaucks MfS-Akte wird veröffentlicht
Der Streit um die Frage, ob da eine Akte existierte, ob es eine »Opferakte« war – wie Gauck behauptete –, war längst entschieden: Es gab eine! Die Welt hatte sie am 23. April 1991 abgedruckt, und ich habe diesen bis dahin von niemandem zitierten Nachdruck sowohl in meinem Buch »Neufünfland-Pitaval« (1993) als auch in »Der Fall Gauck« (1996)5 veröffentlicht. Der sonst oft und gern Rechtsanwälte bemühende Bundesbeauftragte hatte weder den Abdruck in der Welt noch in beiden Büchern moniert oder Rechtsmittel eingelegt. Ich hatte im »Fall Gauck« die Akte durch sich mir aufdrängende Fragen – 66 an der Zahl – »erweitert«. Nun, da er sich als Kandidat für die Wahl zum Bundespräsidenten nominieren ließ, kamen noch einige hinzu. Und um einmal mehr Fehldeutungen zu begegnen: Es geht nicht darum, dass Gauck mit dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR zusammengearbeitet hat, sondern um seine persönliche »Wende« in dieser Frage. Als er sich entschlossen hatte, für das Amt des Bundespräsidenten zu kandidieren, hatte er auf einer Pressekonferenz eine Rede gehalten und auch gesagt: »Als ich geboren wurde, war Krieg, und es herrschte eine finstere braune Diktatur. Und danach, zeit meiner Jugend und des Erwachsenenalters, da herrschte eine auch finstere, aber wieder andere Diktatur.« Wie er mit dieser Diktatur kooperierte, offenbart die Akte! Noch einmal: Sie war erstmalig in Die Welt vom 23. April 1991 mit einer Einleitung gedruckt worden. Die mir notwendig erscheinenden Fragen habe ich gleich eingefügt:
»Der Sonderbeauftragte für die personenbezogenen Akten des MfS, Joachim Gauck, ist in die öffentliche Diskussion geraten. Die Hauptkritik richtet sich gegen die Tatsache, daß frühere MfS-Angehörige in der Behörde arbeiten und auch jetzt, wenn es um die Wertung von Akten geht, erneut ›Berichte‹ schreiben. So soll es bei der Beschuldigung gegen Lothar de Maizière gewesen sein. Inzwischen wurde auch bekannt, daß das MfS Kontakt zu Gauck hatte. Zugleich meldete das ZDF, Gauck habe die vom MfS über ihn angelegten Akten mehrfach und über längere Zeit ohne Beisein anderer Personen eingesehen. Daraus war der Verdacht entstanden, Gauck könnte für seine jetzige Arbeit, so oder so, befangen sein. Der Welt liegt der Bericht über ein 90 Minuten dauerndes Gespräch vor, das der MfS-Hauptmann Terpe am 28. Juli 1988 mit Gauck geführt hat. Beim MfS war Gauck der Deckname ›Larve‹ gegeben worden. Die Welt veröffentlicht diesen Bericht als Beitrag zur Diskussion; aus Gründen der Authentizität ohne Korrektur der orthographischen und Zeichensetzungsfehler. (ms.)« Sodann folgten die Aktenauszüge.
Schwer belastet wird Gauck durch Peter-Michael Diestel, dem letzten Innenminister der DDR in der Regierung von Lothar de Maizière. Am 28.04.2000 veröffentlichte Peter-Michael Diestel, in der Zeitung „der Freitag“, einen Artikel über Joachim Gauck. Darin schrieb er:
Seitdem ich die Demaskierung Gaucks in der Welt vom 23. April 1991 gelesen habe, weiß, sage und schreibe ich: Das Terpe-Papier reicht aus, ihn wie Tausende andere aus dem Öffentlichen Dienst zu verbannen. Gauck mit dem Stasi-Namen „Larve“ ist nach Maßstäben seiner Behörde ein Täter. Ein von der Stasi überprüfter Täter, wie Stasi-Berichte über Gauck belegen. Daß Gauck im Öffentlichen Dienst verbleibt, wird im Osten als Ungerechtigkeit gewertet und missbilligt. Sonderschutz für einen willigen Vollstrecker ist eine noch harmlose Beschreibung dieses Umstandes.
Anmerkungen eines Ostlers und als letzter DDR-Innenminister sicher auch eines Kenners der Materie zum Dossier von MfS-Hauptmann Terpe über seine Begegnung mit „Larve“ alias Joachim Gauck am 28. Juli 1988:
Gauck erklärte nach der Wende in der FAZ, die auch für ihn zuständige mecklenburgische Kirchenleitung habe vor der Wende jegliche Kontakte zur Stasi untersagt. Über eine ihn betreffende Ausnahmeregelung teilte er nichts mit. Fand sein Treffen mit dem Stasi-Offizier also ohne Zustimmung seiner vorgesetzten Kirchenbehörde, demzufolge konspirativ statt? Der Stasi-Mann hatte sich am Abend vor dem Treffen telefonisch gemeldet – informierte Gauck sofort seine Kirchenleitung, den Landesbischof? Gauck hat dem MfS-Mann weitere Gespräche in Aussicht gestellt. War sein freundliches Anerbieten von der Kirchenbehörde gedeckt? Gauck kündigte an, er werde von dem Gespräch mit Terpe den Landesbischof informieren. Fand dies statt? Wenn ja, mit welcher Erwiderung vom Landesbischof? Existiert ein kirchliches Papier, das Auskunft über das Treffen Gauck-Terpe gibt?
Warum fand das Treffen in Gaucks Wohnung und nicht in einem Dienstzimmer der Kirche statt? Pastor Gauck erklärte dem Hauptmann Terpe, er sei nicht gewillt, „mit nicht kompetenten Mitarbeitern des MfS Gespräche zu führen“, er würde sich von vornherein verbieten, „mit einem kleinen Leutnant des MfS zu sprechen“. – Das scheint mir nicht die Sprache eines Widerständlers zu sein, sondern die eines Mitmachbereiten. Mit „kleinen Mitarbeitern“ lassen sich „große Dinge“ nicht besprechen. Bei vielen MfS-Mitarbeitern glaubt Gauck neurotische Züge zu erkennen, klärt er Terpe auf. Mit wie vielen Stasi-Leuten pflegte der Pastor Umgang, um sich ein solches Urteil bilden zu können?
Ausführlich sprach Pastor Gauck über den Kirchentag in Rostock – mit Billigung seiner Kirche, seines Bischofs? Hatte Gauck in Vorbereitung des Kirchentages mit der Stasi zu tun? Mit Zustimmung der Kirche und des Bischofs? Existiert darüber bei der Kirche ein Papier? Weitere bei der Stasi?
Pastor Gauck rühmte den Dialog zwischen Christen und Marxisten, wie er mit Vertretern des Bereiches Marxismus/Leninismus auf dem Rostocker Kirchentag stattfand, und sprach sich für dessen Weiterführung aus. Er bedauerte, dass der SED-Chefideologe Reinhold daran nicht teilgenommen hatte. – Da wird kein standfester Bürgerrechtler oder Dissident erkennbar, vielmehr einer, der sich der anderen Seite anbiedert.
Pastor Gauck wünschte sich für die DDR stabilisierende Veränderungen Gorbatschowscher Art. Er befürchtete, dass sich die positiven Zielsetzungen der DDR sonst nicht realisieren lassen. Gauck als DDR-Stabilisator.
Gauck führt seine BRD-Reisen an – Warum und wofür erhielt er diese Vergünstigung durch die DDR-Behörden? Millionen wollten reisen und durften nicht. Großen Raum nahm im Gedankenaustausch Gauck-Terpe das Problem DDR-Übersiedler ein. Terpe: „Gauck äußerte, dass er selbst in seiner Gemeinde dahingehend wirksam werden will, dass er die ihm dort bekannten Übersiedlungsersuchenden durch Gespräche, mehrmalige Gespräche beeinflussen will, damit sie in der DDR bleiben.“ Terpe dankte dafür. – Deutlicher kann man eine Zusammenarbeitsbereitschaft kaum formulieren. Pastor Gauck nahm im Sinne des MfS, der SED, des Staates Ausreisewillige an die Brust.
Pastor Gauck beschimpfte ausreisewillige junge Angehörige der Intelligenz wie auch Ärzte und Jugendliche, sie besäßen „nur eine Unterentwicklung im Punkt Heimatgefühl“. Das Verschweigen politischer Gründe kann als Demutshaltung gegenüber dem MfS-Hauptmann gewertet werden.
Hauptmann Terpe dankte Pastor Gauck „für seine Initiativen und für seine langfristig gute Zusammenarbeit“. Ausdrücklich verwies der Stasi-Mann darauf, dass er nicht nur persönlich dankt, sondern dass der Dank vom Ministerium für Staatssicherheit insgesamt kommt. – Wofür, Herr Gauck? Allein eine Passage dieser Art hat ausgereicht, Tausende Menschen aus ihrer Berufs- und Lebensbahn zu werfen.
Pastor Gauck erklärte, das Gespräch mit Hauptmann Terpe habe ihn angenehm überrascht, es habe ihm viel gegeben. Er glaube, „dass das MfS einen echten positiven Beitrag zur Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft einbringen wird“ – Auch diese Passage wäre anderen zum Verhängnis geworden.
Gauck bot dem MfS-Mann die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Ökologie an. Dies war für die Partei- und Staatsführung der DDR ein besonders sensibler politischer Bereich, in dem der gefürchtete Einfluss der Grünen aus der BRD vermutet wurde. Gaucks Anerbieten dürfte vom MfS zur Kenntnis genommen worden sein.
MfS-Hauptmann Terpe teilte Pastor Gauck mit, dass ihn seine in die BRD übergesiedelten Kinder ab sofort besuchen dürfen. – Solch ein Privileg vergab der Staat nicht ohne Gegenleistung. Ein Klient von mir, der als Jugendlicher die DDR verlassen hatte, wurde verhaftet, als er seine Mutter in Ost-Berlin besuchen wollte. Er wurde anderthalb Jahre ins Gefängnis gesteckt, bis ihn dann die Bundesrepublik mit Hilfe von Professor Vogel freikaufen durfte. Geldleistung der BRD – welche Leistung bot Gauck?
Pastor Gauck fragte den Stasi-Mann Terpe, ob er etwas dagegen habe, wenn er – Gauck – den Landesbischof über das Gespräch informiert – Gauck servil. Wer vorhat zu unterrichten, fragt nicht, der teilt mit: Ich informiere.
Abschließend bat Pastor Gauck, Kontakt zu MfS-Hauptmann Terpe halten zu dürfen. Der Stasi-Mann gewährte die Bitte. – Notiz des Hauptmanns zur Auswertung des Gesprächs: „Es wird vorgeschlagen, den OV ›Larve‹ zu archivieren und einen IM-Vorlauf anzulegen.“ Klartext: Stasi-Hauptmann Terpe war nach dem Gespräch davon überzeugt, Pastor Joachim Gauck bald als Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) in den Reihen des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR zu haben. Als willigen, fähigen Mitarbeiter, als Marxismus/Leninismus-Sympathisanten. Was nach Lektüre des Dossiers zu verstehen ist.
Inzwischen ist Gauck mit meinen für ihn brisanten Fragen konfrontiert worden. Keine einzige davon beantwortet er. Stattdessen wiegelt er ab und versucht, sich zu entlasten. Es läge ein Operativer Vorgang über ihn vor, der weise ihn als Opfer und nicht als Täter aus. Damit reagiert Gauck so, wie es IM gemeinhin tun: Er leugnet seine enge Stasi-Verbindung. Zudem erklärt Gauck, er werde gegen meine Aussagen über ihn keine juristischen Schritte unternehmen. Wie sollte er auch. Wenn die Stasi-Akten bei ihm genauso wenig oder genau so viel lügen, wie bei anderen, dann muss er sich das gefallen lassen.
Wie immer rechnet Gauck damit, dass vor allem westliche Leser vieles aus dem Ost-Leben nicht entschlüsseln können. Deshalb einige Erläuterungen zum Operativen Vorgang, auf den Gauck zu seinem vermeintlichen Schutz erneut verweist. Dabei stütze ich mich – für Gauck pikanterweise – auf Unterlagen aus seiner Behörde!
MfS-Chef Mielke erklärte im Zusammenhang mit der Aufgaben bezogenen Suche, Auswahl, Überprüfung und Gewinnung von IM: „Es geht also insgesamt darum, die Anstrengungen wesentlich zu erhöhen, um unter operativ bedeutsamen Personen bzw. Personenkreisen Werbungen durchzuführen“. Folgerichtig wurde in der Richtlinie Nr. 1/79 für die Arbeit mit Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) und Gesellschaftlichen Mitarbeitern für Sicherheit (GMS) in § 4, Abs. 1 festgelegt: „Zur Erarbeitung von Ausgangsmaterial für die Gewinnung neuer IM sind alle politisch-operativen Arbeitsprozesse und deren Ergebnisse planmäßig und zielstrebig zu nutzen, insbesondere die Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge …“
Hauptmann Terpe schloss den Operativen Vorgang, nachdem die Stasi zu Gauck ein „gutes Verhältnis“ hergestellt und seine Bereitschaft zur weiteren engen Mitarbeit festgestellt hatte. Der MfS-Hauptmann schlug vor, einen IM-Vorlauf über Gauck anzulegen. Dazu stellt der § 1 (Grundsätze) der 1. Durchführungsbestimmung zur erwähnten Richtlinie Nr. 1/79 fest: Personen, die als IM-Kandidaten ausgewählt werden, sind IM-Vorläufe. Pastor Gauck, der sich als Widerständler und Bürgerrechtler feiern lässt, ein IM-Kandidat der Stasi!
Der IM-Vorlauf hatte nach Richtlinie 1/79, § 4, Abs. 1 u. a. „die Erarbeitung des Werbungsvorschlages“ zur Aufgabe und sollte nach § 2, Abs. 2 in einer Akte „den Prozess der Gewinnung als IM“ darstellen und festlegen, welche Aufgaben „mit der vorgesehenen Gewinnung“ gelöst werden sollen, welche „Einsatzmöglichkeiten zur Lösung von Aufgaben des MfS“ bestehen. Schließlich soll die IM-Vorlauf-Akte den „Bericht über die erfolgte Verpflichtung“ enthalten. „Die Laufzeit der IM-Vorlauf-Akte wird auf neun Monate begrenzt.“
Man lasse sich also auch nicht von Gaucks Ablenkungsmanöver täuschen, die Stasi habe so und so viele IM auf ihn angesetzt. Eine solche Überprüfung des IM-Kandidaten gehörte zu den Pflichtübungen des MfS!
Eine weitere Überlegung zum Spannungsfeld „Täter-Opfer“, in dem sich Gauck als „Opfer“ sieht. Schauen wir ins Stasi-Unterlagengesetz (StUG), in die heutige Bibel von Gauck. Wer „Betroffener“ und „Dritter“ (mithin „Opfer“) bzw. „Mitarbeiter“ und „Begünstigter“ (folglich „Täter“) ist, erläutern die Begriffsbestimmungen dieses Gesetzes im § 6. Ob Personen Mitarbeiter, Begünstigte, Betroffene oder Dritte sind, ist nach § 6, Abs. 8 gesondert festzustellen. Maßgebend für diese Feststellung ist, mit welcher Zielrichtung die Informationen in die Unterlagen aufgenommen wurden. Mit anderen Worten: Allein die Sichtweise des MfS als aktenführende Stelle ist für die Zuordnung maßgebend. Die Stasi wollte – siehe Terpe – die Zusammenarbeit mit Gauck intensivieren und ihn deshalb zunächst in den Status eines IM-Kandidaten erheben, um ihn schließlich als IM zu werben.
Das bedeutet nach StUG: Herr Gauck kann nicht – jedenfalls nicht ausschließlich, wie er es tut – den Status eines „Betroffenen“ („Opfers“) für sich in Anspruch nehmen.
Übrigens schließt das StUG aus der „Betroffenen“-Kategorie „Begünstigte“ (folglich „Täter“) aus. Nach § 6 Abs. 6 StUG zählen zu den „Begünstigten“ auch Personen, die vom MfS wesentlich gefördert worden sind. Nicht nur sein vorgesehener IM-Einsatz klassifiziert Pastor Gauck mindestens als „Begünstigten“ im Sinne des StUG. Mithin ist Gauck nach diesem Gesetz der „Täter“-Seite zuzuordnen. Kurzum: Der Einsatz von Gauck als IM war von der Stasi innerhalb einer überschaubaren Frist vorgesehen. Eine Kleinigkeit kam dazwischen: die Wende!
28 April.2000 – „der Freitag“ Peter-Michael Diestel über Gauck
Gauck widersprach diesem Artikel heftig, es kam zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung, beide Seiten bemühten Zeugen und eidesstattliche Erklärungen. Auf Grund der widersprüchlichen Aussagen resümierte Die Welt: „Einer lügt. Schnur (einschließlich sieben weiterer Zeugen) oder Gauck (einschließlich Vater und Söhnen) .“ Schließlich entschied das Landgericht Rostock am 22. September 2000. Gemäß Antrag der Anwälte von Diestel wird „die einstweilige Verfügung vom 9.6.2000 aufgehoben und der ihr zugrundeliegende Antrag [der Gauck-Anwälte] zurückgewiesen“. Die Urteilsbegründung ist bemerkenswert: „Wegen dieser – im Widerspruch zu den Angaben des Verfügungsklägers [Gauck] stehenden Angaben des Wolfgang Schnur – hat sich die Kammer nicht die erforderliche Gewissheit verschaffen können, dass der Verfügungskläger [Gauck] in der Ausreiseangelegenheit seiner Kinder nicht von dem damaligen Rechtsanwalt Schnur unterstützt worden ist und insoweit kein Mandat erteilt hatte. ( . ..) Der Verfügungskläger [Gauck] hat gegen den Verfügungsbeklagten [Diestel] (. . . .) keinen Anspruch auf Unterlassung der Äußerung, er sei ,Begünstigter‘ i. S. d. Stasi-Unterlagengesetzes.“
Gauck nahm das Urteil nicht ohne Widerspruch hin. Er klagte erneut beim Landesgericht und Oberlandesgericht Rostock. Zu einem neuerlichen Urteil kam es indes nicht, da Diestel eine außergerichtliche Einigung initiierte, was Gauck nach seinen eigenen Worten „voll zufriedenstellte“. Doch seine Genugtuung kann nur die Maske von Galgenhumor sein: Mit dem Verzicht auf eine weitere juristische Klärung hat Gauck das oben zitierte Urteil des Landgerichtes Rostock rechtskräftig werden lassen. Er darf seither „im Sinne des Stasi-Unterlagengesetzes“ gerichtsfest als ein „durch die Staatssicherheit Begünstigter“ bezeichnet werden.