Sokrates meinte einst, er "weiß, dass er nichts weiß", die EU zeigt sich in Bratislava "einig, sich nicht einigen zu können". Man weiß nur, dass man gegen den "Populismus" ist, ohne den die europäische Integration so einfach wäre.
von Pierre Lévy, Paris
Aufgrund von Sicherheitsmaßnahmen war Ende letzter Woche die slowakische Hauptstadt komplett lahmgelegt. Der Grund: Es fad jenes Treffen des Europäischen Rates statt - informell, da das Vereinigte Königreich nicht eingeladen wurde -, das unmittelbar nach der britischen Abstimmung über den Austritt aus der Europäischen Union am 23. Juni vereinbart wurde. Die Entscheidung für den Brexit versetzte die europäische Führungsriege buchstäblich in Panik.
Drei Monate später geht es dieser nicht viel besser. Die EU-Elite bemüht sich immer noch, die Auswirkungen des Erdbebens abzuschätzen, das zu nichts Geringerem als zum Untergang der EU führen könnte.
Erst kürzlich stellte der Erste Vizepräsident der Kommission, der Niederländer Frans Timmermans, daher fest:
"Zum ersten Mal kommt mir der Gedanke, dass das Projekt tatsächlich scheitern könnte".
Für Enrico Letta, den Vorgänger von Matteo Renzi an der Spitze der italienischen Regierung, ist "Europa bedroht… oder noch schlimmer", da der Brexit eine Katastrophe darstelle, die "die Idee des [Europäischen] Projektes an sich gefährdet".
Die implizite Tagesordnung des Rates könnte vor diesem Hintergrund auch einfach in der Frage zusammengefasst werden: Kann der "Zerfall" der Union verhindert werden?
Zu allem Überfluss machte auch die Symbolik den Organisatoren einen Strich durch die Rechnung: Die Kreuzfahrt auf der Donau in jener Ecke, da der Fluss mit Österreich, der Slowakei und Ungarn gleich drei Länder entlang einer Strecke von nur 50 Kilometern verbindet, musste gekürzt werden, da der Wasserstand des Flusses zu niedrig war. Mit einem gewissen Sinn für Selbstironie in Bezug auf europäische Niederwässer kommentierte der maltesische Premierminister Joseph Muscat: "Wir sitzen alle im gleichen Boot". Zur Krönung des Ganzen fuhr der angemietete schwimmende Palast ausgerechnet unter deutscher Flagge.
Im Rahmen dieser – laut Jean-Claude Juncker - "existenziellen Krise" der EU fanden in den letzten Wochen zahlreiche Treffen statt, die zur Herausbildung manchmal gegensätzlichen Untergruppen führten.
So hatte zum Beispiel der griechische Premierminister Alexis Tsipras die südlichen Länder – Frankreich eingeschlossen – am 9. September in Athen empfangen. Mit den erklärten Prioritäten: mehr politische Integration, mehr "Solidarität" bei der Aufnahme der Flüchtlinge – die immerhin zum großen Teil in Griechenland erfolgt -, weniger Stabilitätspakt. Am 25. August hatte der französische Präsident seinerseits die sozialdemokratischen Regierungschefs in Europa, Alexis Tsipras eingeschlossen, der dieser Kategorie von nun an angehört, zu ähnlichen Themen eingeladen.
In der Visegrád-Gruppe aus Polen, Ungarn, der Slowakei und Tschechien, die während des Gipfels ihre 16 Forderungen vorstellte, zeichnet sich ein eher gegensätzliches Stimmungsbild ab: keine verpflichtenden Quoten für die Aufnahme von Flüchtlingen, kein Europa der zwei Geschwindigkeiten und die Wiedererlangung der an die Kommission übertragenen Rechte durch die Mitgliedstaaten. Die Mitglieder der flämischen Regionalregierungen versuchten ihrerseits, eine Ländergruppe der Nordseestaaten einzurichten und der luxemburgische Außenminister hatte einige Tage zuvor noch gefordert, Ungarn aus der EU auszuschließen.
Angesichts dieser als dramatisch eingeschätzten Lage stellte Jean-Claude Juncker fest, dass er in seinem Leben noch nie eine "solche Fragmentierung" oder eine Situation mit "so wenig Gemeinsamkeiten" zwischen den Mitgliedstaaten erlebt habe. Daher wäre bereits ein Minimum an Einheit "ein gutes Ergebnis" des Gipfels, teilte ein hochrangiger Mitarbeiter in Brüssel mit.
Nachdem jedoch Ratspräsident Donald Tusk kurz zuvor die Schlussfolgerungen des Treffens öffentlich mitgeteilt hatte, wies Matteo Renzi ebendiese zurück, da weder eine Lockerung der Budget-Regeln noch eine verstärkte Vergemeinschaftung der Aufnahme von Flüchtlingen erwähnt worden wären.
Aus ganz anderen Gründen distanzierte sich auch der ungarische Premierminister vom Text: Die Flüchtlingspolitik der EU, die er für nicht streng genug hält, bleibt unverändert.
Schließlich brachten auch die irischen und schwedischen Ministerpräsidenten ihre Vorbehalte in Bezug auf eine weitere Ankündigung im Rahmen des Gipfels zum Ausdruck: die Beschleunigung der militärischen Integration. Die beiden Staatschefs erinnerten an die Neutralität ihrer jeweiligen Länder. Auch ihre litauische Kollegin gab ihren Widerstand gegen die geplante gemeinsame Europäische Verteidigung bekannt, die ihrer Meinung nach eine Konkurrenz zur NATO sei. Aus London erklärte die britische Regierung, dass auch sie sich, solange sie noch Teil der EU sei, dieser Entwicklung entgegenstellen werde.
Der "Fahrplan von Bratislava" stützt sich auf drei Säulen. Die erste stellt laut Donald Tusk die "absolute Priorität" dar und zielt darauf ab, eine Flut von ankommenden Flüchtlingen wie 2015 zu vermeiden.
Die zweite betrifft die "externe Sicherheit", also die Beschleunigung der erwähnten "Europäischen Verteidigung", wie sie von Paris und Berlin vorgeschlagen wird, und die „Innere Sicherheit“. Die dritte Säule soll zu einer Belebung der „wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung“ führen und beinhaltet die Verdopplung des „Juncker-Fonds“, der öffentliche finanzielle Unterstützung für private Investoren sicherstellt, von 315 auf 650 Milliarden.
"Bratislava ist der Beginn eines Prozesses" heißt es in den Schlussfolgerungen, in denen auch ein weiterer informeller Gipfel, da wieder ohne London, im Februar 2017 auf Malta vereinbart wird. Nur wenig später soll es danach bereits einen weiteren Gipfel in März in Rom geben, bei dem die Staatschefs den 60. Jahrestag des Gründungsvertrages der Gemeinschaft und möglicherweise auch in nicht zu knappem Ausmaß sich selbst feiern werden.
Die Aussichten für die Feierlichkeiten sind jedoch düster und die gemeinsame Pressekonferenz von Angela Merkel und François Hollande nach der Kreuzfahrt auf der Donau will die Stimmung nicht umschlagen lassen. Jenseits der Inszenierung erscheint der deutsch-französische Motor zu stottern, zumal sich beide Führer 2017 jeweils einer Wahl stellen müssen.
Der Élysée-Meister hat für seinen Teil den neuen Feind bereits ausgemacht: den "Populismus". Dieser Begriff beschreibt mittlerweile jedwede Form der Zurückhaltung gegenüber der europäischen Integration. Im Kampf gegen diese furchtbare Hydra verpflichten sich die europäischen Staatschefs nun, wie es in der "Erklärung von Bratislava" zu lesen ist, "unseren (sic!) Bürgern eine attraktive Vision der EU zu bieten, die sie unterstützen können".
Viel Glück…
RT Deutsch bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.