Die Reform der deutschen Streitkräfte ist nach Einschätzung des Wehrbeauftragten Hans-Peter Bartels nicht wirklich vorangekommen:
Für die enormen Kosten, die Deutschlands Steuerzahler für ihre Streitkräfte aufwenden, ist die Bundeswehr als Ganzes bemerkenswert wenig einsatzfähig. Andere Armeen vergleichbarer Größe haben ein besseres Verhältnis von 'tooth to tail' – sprich, zwischen kämpfenden und unterstützenden Einheiten", schreibt der SPD-Politiker in seinem am Dienstag veröffentlichten Jahresbericht.
Er höre immer wieder die gleichen Sorgen aus der Bundeswehr: zu wenig Material, zu wenig Personal, zu viel Bürokratie. Bei einer Pressekonferenz in Berlin warnte er:
Ohne innere Reformen werden die Trendwenden trotzdem scheitern.
Weiter seien mehr als 20.000 Dienstposten oberhalb der Mannschaftsebene nicht besetzt. Zur Materiallage melde das Verteidigungsministerium selbst, es sei "bisher nicht gelungen, die materielle Einsatzbereitschaft der Hauptwaffensysteme deutlich zu verbessern", so Bartels weiter. Kummer mache auch das nach wie vor schleppende Beschaffungswesen. Das liege nicht am Engagement des Bundeswehrpersonals, sondern an "offensichtlich dysfunktional gewordenen Strukturen auf der Amtsseite" – und nicht selten auch an Know-how und Personaldefiziten aufseiten der Industrie.
Ursachen, Probleme und Lösungsansätze seien allerdings bekannt, so der Wehrbeauftragte. Er verwies auf eine Untersuchung zum Thema "Innere Führung – heute", die als Abschlussbericht vom 1. Februar 2019 intern vorliege, jedoch nur als ein vom Ministerium "ungebilligter Entwurf". Beklagt werde darin ein Mangel an Vertrauen, zu viele Querzuständigkeiten und zu hohe Regelungsdichte. "Es fehlten die notwendige Robustheit, Klarheit in den Zuständigkeiten und Durchhaltefähigkeit für militärische Großorganisation", gibt Bartels den Bericht wieder.
Auf die Frage in der Bundespressekonferenz, ob die Bundeswehr derzeit in der Lage sei, Deutschland im Falle eines Angriffs zu verteidigen, erklärt der Wehrbeauftragte bezeichnenderweise:
Die Bundeswehr als Ganzes wäre heute nicht aufgestellt oder gerüstet für kollektive Verteidigung.
Heute wurde #BPK Jahresbericht des Wehrbeauftragten vorgestellt. 1. Frage von ÖR-Journalistin, ob #Deutschland gegen Angriff gerüstet ist. Antwort: '#Bundeswehr noch nicht gerüstet für Verteidigungsfall. Aber ist ja sowieso fiktives Szenario.' - Was wohl die Kalten Krieger sagen? pic.twitter.com/Ms42SoDDbW
— Florian Warweg (@FWarweg) January 28, 2020
Die Problemfelder der Bundeswehr im Einzelnen:
PERSONAL:
Ende vergangenen Jahres hatte die Bundeswehr 183.667 Soldaten, darunter 175.330 Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit. Das vom Ministerium selbst gesteckte Ziel sei erreicht, so Bartels. Bei der Zahl der Bewerbungen gebe es aber das zweitschlechteste Ergebnis seit Aussetzung der Wehrpflicht 2011. Immer stärker ist die Bundeswehr also darauf angewiesen, dass Zeitsoldaten bei der Stange bleiben. In der Folge ist das Durchschnittsalter von 30,3 Jahren (2012) auf 32,3 im vergangenen Jahr gestiegen und nun ähnlich hoch wie in Großbritannien (32 Jahre) und Frankreich (33 Jahre). In Kanada liegt es bei 35 Jahren, in Belgien – europäischer Rekord – sogar bei 44 Jahren.
Klagen zum Nachwuchs kommen aus der Bundeswehr selbst:
Bei Truppenbesuchen wird nicht selten von Vorgesetzten, Kompaniefeldwebeln oder Ausbildern bemängelt, die 'Qualität' der Soldaten sei schlechter geworden, vereinfacht gesagt, sie seien 'dicker, schwächer und dümmer' als früher", schreibt Bartels.
Das Verteidigungsministerium räumt ein, dass wegen der anhaltenden Nachwuchssorgen weniger Bewerber ausgemustert werden als früher, insbesondere in Bezug auf Übergewicht und früheren Drogenkonsum.
BESCHAFFUNGSWESEN:
Das zentrale Erfordernis für eine moderne und vollständig ausgerüstete Bundeswehr bleibe eine schnellere Beschaffung. Bartels hält einen "Paradigmenwechsel" für nötig. "Das meiste, was unsere Streitkräfte an Ausrüstung brauchen, vom Rucksack bis zum leichten Verbindungshubschrauber, muss nicht immer wieder erst in umständlichen "funktionalen Fähigkeits-Forderungen" abstrakt definiert, dann europaweit ausgeschrieben, neu erfunden, vergeben getestet, zertifiziert und dann in kleinen Tranchen über 15 Jahre hinweg in die Bundeswehr "eingeführt" werden", schreibt der Wehrbeauftragte:
Man kann es auch einfach kaufen. Das heißt, weg vom Grundsatz, dass für deutsches Militär immer alles 'Design' sein muss, weil es sonst nichts taugt, hin zum 'IKEA-Prinzip': aussuchen, bezahlen, mitnehmen!
Für das obere Ende modernster Technik – vom Kampfpanzer bis zur Raketenabwehr – müsse es dann die Design-Lösung geben.
AUSRÜSTUNG:
Nicht zu verstehen ist, dass es bisher nicht einmal gelungen ist, die Soldatinnen und Soldaten komplett mit neuer persönlicher Ausrüstung auszustatten, etwa mit Schutzwesten.
Laut Bartels Darlegung sehen sich viele Soldaten gezwungen, aus eigener Tasche moderne Ausrüstung zu finanzieren, da das Standardmaterial nicht zufriedenstellend sei. "Fast alle Soldaten kaufen Dinge selbst", erklärte der Wehrbeauftragte auf der Bundespressekonferenz. Er schilderte den Fall eines Panzergrenadiers, der ihm bei einem Truppenbesuch detailliert darlegte, dass er bisher für mehr als 3.000 Euro Ausrüstung selbst finanzieren musste.
EXTREMISMUS/KRIMINALITÄT:
Im Bereich Rechtsextremismus gab es im vergangenen Jahr 197 "meldepflichtige Ereignisse" – eine Steigerung gegenüber den Vorjahren (2018: 170, 2017: 167). Die Bundeswehr habe 45 Soldaten wegen extremistischer Verfehlungen vorzeitig entlassen. Zu einer Entlassung führte der Satz eines Unteroffiziers: "Alle Juden müssten vergast werden." Eine Disziplinarmaßnahme wurde für die Worte eines Oberstabsgefreiten verhängt: "Der soll kellnern, der ist schwarz."
Gestiegen ist auch die Zahl "meldepflichtiger Ereignisse" wegen Verdachts auf Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Im Jahr 2019 wurden 345 Vorfälle registriert (2018: 288, 2017: 235). Der Wehrbeauftragte stellt dazu fest: "Die Bundeswehr toleriert keine Form der sexuellen Belästigung und geht entsprechenden Vorwürfen ernsthaft und gründlich nach."
FINANZEN:
"Licht und Schatten" sieht der Wehrbeauftragte bei der finanziellen Ausstattung. Zwar sei der Verteidigungsetat von 32,4 Milliarden Euro im Jahr 2014 auf 43,2 Milliarden im Jahr 2019 gewachsen – zuletzt sogar so kräftig wie nie zuvor binnen eines Jahres. Doch nicht alles fließe in die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte. So überweise die Bundeswehr allein 2,6 Milliarden Euro als Miete für Liegenschaften – Kasernen und Flächen – an den Bund. Seit 2006 sind auch die Pensionsleistungen ehemaliger Soldaten im Verteidigungsetat enthalten. Im vergangenen Jahr seien das allein 6 Milliarden Euro gewesen – "Tendenz steigend".
/(rt/dpa)
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