von Zlatko Percinic
Die US-Regierung hat Benjamin Netanjahu und Benny Gantz nach Washington eingeladen, um dort über den seit Monaten angekündigten politischen Teil des "Jahrhundertdeals" zu sprechen. Der wirtschaftliche Teil wurde bereits im vergangenen Juni in Bahrain vorgestellt, fand aber wenig Zustimmung in der Region. Es wollte niemand die berühmte Katze im Sack kaufen, bevor nicht klar ist, in welche Richtung der politische Teil gehen soll.
Wenn es nach den Worten des israelischen Ministerpräsidenten und seinem Herausforderer geht, dann wollen sie das Jordantal oder sämtliche Siedlungen im Westjordanland annektieren, je nachdem, wen von beiden man fragt. In Wahrheit aber wollen sie es beide nicht. Das mag für viele überraschend sein, aber die Tatsachen sprechen nun mal eine eigene Sprache.
Als Gantz in dieser Woche gesagt hat, dass er das Jordantal annektieren würde, wenn er denn aus den nächsten Wahlen im März siegreich hervorgehen sollte, fügte er einen entscheidenden Satz hinzu, der oft untergeht. Die Einverleibung soll nach vorangegangenen "national abgestimmten Schritten" erfolgen. Und viel wichtiger noch, in Koordination mit der internationalen Gemeinschaft. Damit baute Gantz gleich zwei Optionen ein, um von diesem Schritt Abstand zu nehmen: ein mögliches Referendum, dessen Ausgang längst nicht als sicher gilt, und falls sich doch eine Mehrheit dafür findet, dann sollte der Schritt mit der internationalen Gemeinschaft koordiniert werden.
Das wird allerdings nicht geschehen. Nicht einmal die USA scheinen zu solch einem Schritt bereit zu sein, geschweige denn die Vereinten Nationen, die EU, Russland oder China, die die Siedlungen allesamt für illegal halten.
Es geht um den Wahlkampf und Stimmenfang. Auch bei Netanjahu. Hätte er die Annexion gewollt, dann hätte er sie auch umgesetzt. Was ihn davon abhält, ist der gegenwärtige Status quo, der aus Israels Sicht viel zu gut ist, als dass man ihn gefährden wollte.
Israels Status quo in den besetzten Gebieten Palästinas
Noch bevor es Israel überhaupt gab, stand für die zionistische Führung im britischen Mandatsgebiet Palästina fest, dass sie die palästinensische Bevölkerung in dem erst noch zu gründenden Staat nicht haben möchte. David Ben-Gurion, der später der erste Ministerpräsident Israels werden sollte, schrieb bereits 1937:
Ein Transfer (gemeint war eine Vertreibung/Anm.) ganz anderer Größenordnung wird jetzt ausgeführt werden müssen. In vielen Teilen des Landes werden neue Siedlungen nicht möglich sein, ohne die arabischen Fellachen (Bauern/Anm.) zu transferieren. (…) Die jüdische Stärke, die beständig wächst, wird auch unsere Möglichkeiten erhöhen, diesen Transfer in großem Maßstab durchzuführen.
Damit nahm Ben-Gurion bereits vorweg, was zehn Jahre später mit dem "Plan Dalet" der zionistischen Hagana-Miliz in die Tat umgesetzt wurde, als Hunderttausende Palästinenser systematisch vertrieben wurden. Die in Theodor Herzls "Judenstaat" übrig gebliebenen "Araber" standen unter Generalverdacht und galten nicht als Bürger des neuen Staates Israel, sondern standen bis Ende 1966 unter Militärherrschaft.
Der sogenannte Sechstagekrieg im Juni 1967, im modernen Sprachgebrauch ein Präventivschlag, brachte nicht nur einen enormen Gebietsgewinn (Sinai, Gaza, das Westjordanland und die syrischen Golanhöhen) mit sich, sondern auch die Herrschaft über die Menschen, die man rund 20 Jahre zuvor vertrieben hatte. Israel wurde zu einer militärischen Besatzungsmacht, mit allen rechtlichen Konsequenzen und Verpflichtungen eines Besatzers.
Erst der sogenannte "Friedensprozess", der während der Ersten Intifada (wobei es bereits von 1936 bis 1939 einen großen Aufstand gab) in Madrid in Gang gesetzt wurde, brachte eine neue Dynamik in die beiderseitige Beziehung. Plötzlich interessierte sich die internationale Gemeinschaft dafür, was im Westjordanland und Gaza geschieht. Mit der gegenseitigen Anerkennung Israels und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) wurde der Weg für das sogenannte Oslo-Abkommen geebnet, in dem eine Selbstverwaltung der Palästinenser in Teilen der besetzten Gebiete vereinbart wurde.
Für Israel war das ein strategischer Sieg, der seinesgleichen sucht. Durch die Übertragung einiger Verwaltungsaufgaben an die neu gegründete Palästinensische Autonomiebehörde (PA) entledigte sich die Regierung in Jerusalem ihrer Pflichten und Verantwortung als Besatzer. Es wurde die Illusion geschaffen, dass die Palästinenser nun tatsächlich selbst die Geschicke ihres Volkes in die Hände nehmen und am Ende einen eigenen Staat ausrufen könnten.
Doch die Realität war und ist eine ganz andere. Das musste sogar Schlomo Ben Ami feststellen, Israels Außenminister von 2000 bis 2001. In seinem 1998 erschienenen Buch "Ein Platz für alle" nannte er das Resultat der Oslo-Abkommen "eine Zementierung der kolonialen Beziehungen".
Auch wenn die PA in begrenztem Umfang verwaltungstechnische Verantwortung übernahm und sogar über offizielle Polizeikräfte in der sogenannten "Area A" verfügt, dem laut Abkommen ausschließlich von Palästinensern verwalteten Gebieten des Westjordanlandes, so ist es am Ende trotzdem das israelische Militär, das die vollständige Kontrolle ausübt. Nur muss Israel nicht mehr für die Kosten der Besatzung aufkommen, da dieser Teil an die internationale Staatengemeinschaft und Nichtregierungsorganisationen ausgelagert wurde.
Eine Annexion aller Siedlungen des Westjordanlandes, wie sie nun auch Verteidigungsminister Naftali Bennett fordert, würde die sogenannte Zweistaatenlösung endgültig und offiziell beenden. Noch kann die internationale Staatengemeinschaft, allen voran die Europäische Union, die Augen vor der Realität verschließen und die Illusion einer solchen Lösung aufrechterhalten. Israelis und Palästinenser müssten sich nur selbst am Verhandlungstisch einigen, lautet etwa das Mantra der deutschen Bundesregierung.
Doch nach einer erfolgten Annexion bleibt kein zusammenhängendes Territorium mehr übrig, über das man verhandeln müsste. Yariv Oppenheimer, Politiker und ehemaliger Direktor der israelischen Organisation "Peace Now", machte visuell deutlich, wie das künftige Staatsgebiet Israels und das palästinensische Gebiet in so einem Falle aussehen würde.
תכירו, כך תראה מפת ישראל לאחר סיפוח על ההתנחלויות. 167 איים פלסטינים בתוך שטח המדינה. כיבוש, אפרטהייד- תחליטו בעצמכם. pic.twitter.com/mWygFyTlOF
— Yariv Oppenheimer (@yarivop) January 24, 2020
Es wird 167 palästinensische Inseln im Staatsgebiet geben, schrieb Oppenheimer. Diese Tatsache werden die EU, Deutschland und alle anderen Staaten nicht mehr ignorieren können, sondern sich der Realität stellen müssen. Ein palästinensischer Staat wird somit auch in der Theorie nicht mehr möglich sein. Die internationale Gemeinschaft kann ihre Illusion unter diesen Umständen nicht mehr länger aufrechterhalten und wird sich der Realität stellen müssen. Das Thema Apartheid wird unweigerlich prominenter auftreten, als es in der Vergangenheit der Fall war, worauf auch Oppenheimer zu Recht hinweist.
Durch eine Annexion wird besetztes Territorium dem eigenen Hoheitsgebiet und der eigenen Gerichtsbarkeit unterstellt. Insbesondere für das Jordantal bedeutet das, dass die Palästinenser nicht mehr dem israelischen Militärrecht unterstehen, sondern dem zivilen Bürgerrecht. Ob das zionistische Israel diesen Menschen aber tatsächlich die Bürgerrechte zugesteht, ist noch vollkommen offen. Wenn nicht, werden die Palästinenser ihr Recht einfordern und vor israelischen Gerichten einklagen, was aufgrund des Militärrechts bisher nicht möglich war. Falls die Gerichte – oder die Regierung durch entsprechende Gesetzesänderungen – ihnen diese Bürgerrechte nicht gewährt, erklärt sie die Apartheid zur offiziellen Staatspolitik.
Meron Rapoport, ein preisgekrönter israelischer Journalist und Unterstützer der Zweistaatenlösung, fasste das bevorstehende Dilemma aus Sicht der Regierung Netanjahu gut zusammen:
Die Annexion wird die tatsächliche Debatte in Israel/Palästina deutlich machen: Gleichberechtigung und Selbstbestimmung für jede Nation, die zwischen dem Jordan und dem Meer lebt, oder jüdische Vorherrschaft.
Das alles weiß natürlich auch Netanjahu, weshalb er bisher stets von diesem letzten Schritt abgesehen hat. Die Korruptionsklage gegen ihn könnte aber dazu führen, dass er um der reinen Macht willen dem Drängen des rechten Lagers nachgibt und den Worten auch Taten folgen lässt.
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