Von einer berichtete Matthias von Herrmann von der Bewegung der Parkschützer in Stuttgart in der erwähnten Gesprächsrunde. Er erinnerte daran, dass an dem Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“ trotz der Proteste seit zehn Jahren dagegen weiter gebaut werde. Herrmann schilderte ebenso, dass die „Wutbürger“ in der Hauptstadt Baden-Württembergs inzwischen enttäuscht seien von den dort regierenden Grünen unter Winfried Kretschmann.
Seit sie an der Macht beteiligt seien, würden sie die Proteste gegen „Stuttgart 21“ nicht mehr unterstützen.
Diese Erfahrung lehre, dass die Bürger, wenn sie sich für ihre Interessen einsetzen, sich nicht auf die Parteien verlassen könnten, so der schwäbische Aktivist.
„Sondern der Druck muss massiv von der Straße kommen, über die Demonstrationen und Aktivitäten.“
Wenn die Politiker von den Bürgern stärker unter Druck gesetzt würden als von den Lobbyisten, dann könne etwas bewegt werden. Das geschehe oftmals aber sehr langsam, was wiederum dazu führe, dass die Menschen enttäuscht und zermürbt aufgeben.
Das bestätigte Quang Pasch, Sprecher der Jugendbewegung „Fridays for Future“, die sich mit freitäglichen Streiks für Klimaschutz und -gerechtigkeit einsetzt. Die Bewegung habe vor etwa einem Jahr mit naiven Forderungen an die Politik begonnen. Am Samstag schätzte er ein:
„Wir sehen ganz klar, dass wir gegen eine Wand laufen, dass wir in dem System, in dem wir gegenwärtig leben, anscheinend nichts erreichen werden.“
Der globale Süden werde weiter ausgebeutet, während es anhaltend soziale Ungerechtigkeit in Europa und weltweit gebe.
„Wir müssen uns als Bewegung öffnen“, nannte der Sprecher der streikenden Schüler als eine der Erkenntnisse.
„Fridays für Future“ sei zwar nicht politisch klar positioniert, aber: „Aber wir denken, dass nach einem Jahr gelebter Demokratie, nach Wut und Frust die Menschen selbst zu Kapitalismuskritikern und -kritikerinnen werden.“ Dafür sorge eben das System, orientiert an endlosem Wachstum auf Kosten von Natur und Mensch, selbst.
Enttäuscht von den hierzulande Regierenden sagte Pasch: „Deshalb müssen wir auch kapitalismuskritisch sein.“ Seine Gesprächspartner wie Schorling und von Herrmann sowie Johannes Heidner von der Gruppe „Ende Gelände“, Julia Bach von der antimilitaristischen Gruppe „Rheinmetall entwaffnen“ und Sven Lasko vom Verein „Kulturkosmos“ sahen das nicht anders. Einig waren sie sich auch darin, dass es notwendig sei, mehr zusammenzuarbeiten, wo das möglich ist, um die Politik stärker unter Druck zu setzen.
Ähnliches hatte zuvor Tory Russell aus den USA gefordert, ein bekennender afroamerikanischer Linker und Aktivist der „International Black Freedom Alliance“ sowie der „Black Lives Matter“-Bewegung.
Mit erhobener Faust erklärte er: „Ich bin ein Revolutionär!“ und forderte die Zuhörenden auf, sich dazu gemeinsam zu bekennen.
Russell beklagte, dass die Linken zersplittert seien und sich mehr über unterschiedliche Sichten stritten, als Gemeinsamkeiten zu suchen und zu finden, um gegen die gemeinsamen Gegner zu kämpfen. Die Einheit sei wichtiger als die Differenzen, das könne aus den Erfolgen der rechten Kräfte bis zu den Faschisten gelernt werden, betonte er.
Russell forderte die linken Bewegungen und Parteien auf, mehr zusammenzuarbeiten und die politischen Unterschiede zur Seite zu schieben, „damit wir nicht die Fehler des 20. Jahrhunderts wiederholen“. Er fügte hinzu:
„Wir können nicht zulassen, dass die Identitätspolitik unsere Bewegung spaltet.“
Es gebe die Debatten um Geschlecht und Rasse, „aber all das hat seine Wurzeln im Klassenkampf“.
„Wir müssen zusammenkommen, um eine Bewegung für die Befreiung zu schaffen“, sagte der afroamerikanische Aktivist.
Das müsse über die klassische Solidarität hinausgehen. Es gehe ebenso darum, dass nicht die andere Seite bestimmt, was und wer links sei, so Russell. Die notwendige Einheit im Kampf gegen den Neoliberalismus bedeute aber nicht Uniformität, stellte er klar.
Für die erlebbare Veränderung sei nicht nur eine linke, sozialistische Theorie notwendig, sondern eine ebensolche Praxis, meinte der Linke aus den USA. Diese zeige sich im Alltag, im konkreten Handeln. Zugleich gestand er ein, dass es schwierig sei, den Menschen das wie auch sozialistische Bildung zu vermitteln. Manchmal führten erst dramatische Ereignisse wie der offensichtliche Mord an dem Schwarzen Mike Brown durch US-Polizisten in Ferguson 2014 dazu, dass Menschen sich gemeinsam zur Wehr setzen.
Manchmal sorgen dafür auch die Krise eines Landes und nicht mehr ertragbare Lebensverhältnisse, wie der libanesische Kommunist und Ökonom Kamal Hamadan auf der Konferenz berichtete. Die verkrusteten politischen Strukturen des Libanon, orientiert an religiösen Gruppen, hätten die Lage im Land zugespitzt „wie seit 100 Jahren nicht mehr“.
Inzwischen gebe es eine Volksbewegung, die sich für Veränderungen einsetze und dafür auf die Straße gehe, berichtete Hamadan. Dabei spielten die religiösen Grenzen oder Clanzugehörigkeiten keine Rolle. Ziel der Kommunisten und der anderen laizistischen Kräfte im Libanon sei es, ein wirklich demokratisches System schaffen zu können, erklärte der international anerkannte Ökonom. Zuvor hatte er die Lage im Nahen Osten analysiert, die sich seit der Amtsübernahme von US-Präsident Donald Trump verschärft habe.
Das habe auch Folgen für die Palästinenser, wie die israelische Rechtsanwältin Lea Tsemel berichtete. Sie vertritt seit fünf Jahrzehnten palästinensische Angeklagte vor Gerichten in Israel. Das mache sie, weil sie selbst ein „Teil des Besatzungssystems, das Israel dem palästinensischem Volk seit 53 langen Jahren auferlegt hat“, sei.
„Als Besatzerin empfinde ich es als meine moralische und ethische Pflicht, die Besetzten zu verteidigen“, so Tsemel, auch wenn sie nicht alle Taten des Widerstandes gutheißen könne.
„Aber es steht mir nicht zu, darüber zu richten.“
Sie verachte die Besatzung „aus tiefstem Herzen“, gestand die Anwältin in Berlin. Sie sei aber keine „selbsthassende Jüdin“ und erst recht keine Antisemitin, was ihr nicht nur in Israel vorgeworfen wird und zu Anfeindungen führt. Kurz vor der Konferenz forderten deutsche vermeintliche Verteidiger Israels in einem offenen Brief an die Leitung des Veranstaltungsortes, Mercure-Hotel in Berlin-Moabit, die Veranstaltung wegen des Auftritts der angeblichen Antisemitin Tsemel abzusagen. Das Hotel ließ sich davon aber nicht beeindrucken, wie Ulla Jelpke, Bundestagsabgeordnete der Partei Die Linke und ehemalige „junge Welt“-Redakteurin, berichtete.
Jelpke verwies auf die im Juni 2019 von der ARD ausgestrahlte Dokumentation „Lea Tsemel, Anwältin“. Der Film wurde im Dezember letzten Jahres für den Oscar in der Kategorie „Bester Dokumentarfilm“ nominiert. Tsemel zeigte sich in Berlin sehr erfreut darüber, wie auch über den starken Beifall des Publikums. Sie berichtete aber ebenso, dass die Lage der Palästinenser in Israel und den besetzten Gebieten sich nicht verbessere.
Die Regierenden in Israel würden die Gesetze verschärfen und die von ihr miterstrittenen Gerichtsurteile, so gegen Folter, missachten, ebenso das Völkerrecht. Demokratische Werte würden aufgegeben, während Nationalismus und Rassismus zu einer Apartheid geführt hätten. Die Anwältin bedauerte, dass die Gesellschaft in Israel zunehmend gleichgültig darauf reagiere und die Friedensbewegung weniger Unterstützung erfahre.
„Die Realität mag von Verzweiflung geprägt sein, aber noch ist nicht alles verloren“, sagte Tsemel. Es gebe wenig Grund für Hoffnung und Optimismus, aber in der palästinensischen Bevölkerung gebe es dennoch eine Bewegung, trotz allem nicht zu verzweifeln. Die Anwältin widersprach ihren deutschen Verleumdern, die sich tatsächlich auf Rosa Luxemburg beriefen. Die vor 101 Jahren ermordete deutsche Kommunistin wäre bestürzt über das, was in Israel heute geschieht, und stünde auf der Seite derer, die sich dagegen wehren, so Tsemel.
Zu Beginn der Konferenz hatte Karl Ghazi von der französischen Gewerkschaft CGT über die Lage in Frankreich sowie das Verhältnis der „Gelbwesten“-Bewegung und den Gewerkschaften gesprochen. Die Lage in der Türkei und die Situation der Kurden waren ebenso ein Thema des eintägigen Programms wie die Entwicklungen und Vorgänge in Lateinamerika. Yoerky Sánchez Cuellar, Direktor der kubanischen Tageszeitung „Juventud Rebelde“ und Mitglied des Staatsrates Kubas, sprach über die Lage der Insel und den „Widerstand gegen den US-Imperialismus“.
Eine Gesprächsrunde am frühen Abend war dem Themenkomplex „Flucht, Migration und Klassenkampf“ gewidmet. Zum Programm gehörten außerdem Auftritte von Bands und Musikern, die Aufführung von „Das Floß der Medusa“, ein Requiem für Che Guevara von Hans Werner Henze und Ernst Schnabel, eine Ausstellung sowie zahlreiche Informationen über verschiedene Aktionen und Initiativen, unter anderem gegen das diesjährige Großmanöver „Defender 2020“ der US-Armee in Europa gegen Russland.