Das Treffen der EU-Außenminister in Kiew am 2. Oktober.
Von Timofei Borodatschow
Die Realität ist, dass die Bürger europäischer Staaten gar nicht wegen der Ukraine gegen Russland Krieg führen wollen. Natürlich findet sich weltweit – und Europa bildet hier keine Ausnahme – eine gewisse Anzahl von Söldnern oder einfachen Fanatikern, die bereit sind, sich gegen Geld oder aus Hass auf Russen zu opfern. Doch als eine Masse, die für einen ernsthaften Konflikt nötig ist, haben die Europäer keine Gründe, ihr Leben und den relativen Wohlstand zu riskieren. Das gilt selbst für Polen, das mehr als alle anderen seine Kräfte mit Russland messen zu wollen scheint.
Ein großer Krieg in Europa, wie er zweimal im letzten Jahrhundert stattfand, findet keinen sozialen Rückhalt. Zweimal waren die Europäer in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bereit, massenhaft zu kämpfen und zu sterben. Doch das waren ganz andere Menschen – Deutsche, die in Elend gestürzt wurden, und Briten, die noch nicht einmal ansatzweise einen Sozialstaat hatten. Somit befinden sich die EU-Staatschefs in einem Dilemma, bei dem bei ihnen selbst zwar der Hass auf Russland vorhanden ist, aber keine sozialen Gründe existieren, ihre Bürger in einen Krieg zu treiben.
Die europäischen Politiker sind gezwungen, eine Masse symbolischer Gesten zu erfinden, die die Entschlossenheit zum Kampf gegen Russland vortäuschen sollen, weil eine wirkliche Mobilmachung unmöglich ist. Durch die USA angetrieben, schickt die EU Waffen an das Kiewer Regime und versucht, einen Wirtschaftskrieg gegen Russland zu führen. Doch auch das gelingt eher schlecht als recht – der massenweise Kauf russischer Produkte und Energieträger ist eine Tatsache.
Etwas aktiver agiert Großbritannien und steht damit etwas abseits, sodass es eher als ein Anhängsel der USA denn Europas erscheint. Doch auch dort versteht man, dass ein wirklicher Krieg gegen Russland unmöglich ist – er würde das Land in eine beispiellose Katastrophe stürzen. Nicht umsonst machte sich Großbritanniens Ministerpräsident sofort daran, die Aussagen seines Verteidigungsministers zu dementieren, nachdem dieser etwas von der Entsendung von Militärausbildern unmittelbar in die Ukraine gestammelt hatte. Selbst wenn Sunak nicht glaubt, dass dies eine direkte Konfrontation mit Russland verursachen könnte, würde allein die Möglichkeit, dass britische Militärs durch russische Waffen sterben, für Empörung unter der Bevölkerung des Vereinigten Königreichs sorgen.
Das Treffen der EU-Außenminister in Kiew ist ein weiteres Beispiel dafür, wie die Fähigkeit zum Konflikt mit Russland durch symbolische Gesten vorgetäuscht wird. Die Behauptung der Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen), dass sich die EU bald "von Lissabon bis Lugansk" erstrecken werde, ist ein weiteres Beispiel für Beschwörungsformeln statt echter Taten.
Auch Kiew versteht das, spielt aber dennoch das von der EU initiierte Spiel der "europäischen Zukunft" der Ukraine mit. Erstens sollte das die unglücklichen Ukrainer überzeugen, dass die Opfer im Krieg mit dem russischen Brudervolk nicht umsonst sind. Zweitens verstehen die Gauner in Kiew bestens, dass die ganze europäische Politik eine Täuschung ist, und versuchen, sich dem üblichen Stil anzupassen. Sie verbinden Clownerie mit verantwortungslosen Behauptungen, die europäische Politiker seit Langem ganz ungestraft zu machen gewohnt sind. Schlicht deshalb, weil von ihnen nichts mehr abhängt und weil seriöse Menschen ihnen keine Beachtung schenken.
Für eine solche Politik, inklusive des "Kampfs gegen Russland", eignen sich die gegenwärtigen EU-Spitzenpolitiker am besten. Wir sind es gewohnt, von einem "Burnout" der europäischen Eliten zu sprechen, vom Verlust ihrer Fähigkeiten, strategisch zu denken und Verantwortung für die eigenen Worte zu übernehmen. Doch genau diese europäische Politik entspricht der realen Stellung Europas in internationalen Angelegenheiten am besten.
Wenn es anders gewesen wäre, würden diejenigen, die in der Alten Welt wirklich über große Gelder und Macht verfügen, viel seriösere Persönlichkeiten auf die hohen Posten heben. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen, Europas Chefdiplomat Josep Borrell, der Bundeskanzler und die Bundesaußenministerin – sie alle stellen eine Imitation von Politik in einer Zeit dar, in der Europa die Notwendigkeit, Politik ernsthaft zu betreiben, für immer eingebüßt hat.
All die Behauptungen im Stil von "Europa ist ein von Dschungeln umgebener Paradiesgarten" zeigen den Grad der Entfremdung der genannten Akteure von der internationalen Realität. Der Großteil der europäischen Politiker stellt sich überhaupt keine Zukunft auf nationaler Grundlage mehr vor.
Ein schillerndes Beispiel dafür ist die "Waschfrau an der Spitze des Staates" – Finnlands ehemalige Ministerpräsidentin Sanna Marin, die wenige Monate nach dem Sturz ihres Kabinetts die Politik gegen eine internationale Unternehmensberatung unter der Leitung von Tony Blair eingetauscht hat. Es gibt wenig Grund zu bezweifeln, dass auch Annalena Baerbock für ihre Zukunft eine Position im Aufsichtsrat eines großen US-Unternehmens oder einer von den USA finanzierten internationalen Nichtregierungsorganisation im Visier hat. Doch das wird erst morgen oder übermorgen geschehen, wenn anstelle der Ukraine nur noch verbrannte Erde bleiben und Deutschland selbst mit Flüchtlingen aus dem Nahen Osten überlaufen sein wird. Offensichtlich interessieren diese Folgen ihrer Behauptungen die Bundesaußenministerin selbst nicht einmal in der Theorie.
Im Grunde sollten wir uns nicht darüber wundern, was die europäischen Staatschefs sagen. Mit wenigen Ausnahmen ähneln ihre Reden inzwischen einem Schauspiel, dessen einziger Zuschauer sich hinter dem Ozean befindet. Denn den europäischen Wählern selbst ist ebenfalls gänzlich egal, was ihre Politiker zu außenpolitischen Themen sagen. Ein gewöhnlicher Europäer hat seine eigenen Probleme: Arbeitslosigkeit, steigende Preise, Zulauf von Migranten. Alle verstehen, dass Europa für einen großen Krieg gegen Russland keine Gründe hat und niemand es jemals dorthin treiben wird.
Seit den vergangenen anderthalb Jahrzehnten interessieren sich die europäischen Bürger überhaupt immer weniger für Außenpolitik. Ein gutes Indiz dafür ist, dass die ukrainische Regierung und die Polittechnologen praktisch aufgehört haben, Meldungen über angebliche "Grausamkeiten" der russischen Armee zu erfinden – die Menschen kaufen ihnen das seit dem letzten Sommer nicht mehr ab. Alle sind mit ihren Problemen beschäftigt und Nachrichten über die Ukraine rufen nur noch routinemäßige Gereiztheit hervor.
Während sich also europäische Politiker inadäquat benehmen, kann man dies von den einfachen Wählern nicht behaupten. Das Fehlen von Interesse an außenpolitischen Angelegenheiten war schon immer eine Eigenschaft der Bevölkerung derjenigen Länder, von denen in diesem Leben nichts abhängt. Deswegen verstehen die EU-Bürger ihren Platz in der Welt und empfinden diesbezüglich weder Illusionen noch Enthusiasmus. Gespräche über "Europas strategischer Autonomie", die ihnen Präsident Macron anzudrehen versucht, rufen selbst bei erfahrenen Experten gesunde Ironie hervor, ganz zu schweigen von einfachen europäischen Werktätigen.
In einer solch günstigen Umgebung entwickeln sich die legendäre außenpolitische Verantwortungslosigkeit und der Parasitismus, die für europäische Staatsleute charakteristisch sind. Es scheint nicht möglich, diese Sachlage zu berichtigen, denn sie ist das Ergebnis der Evolution von Europas Platz in der Weltpolitik.
Stellt dies irgendeine Gefahr im Hinblick auf Russlands Interessen dar? Ja und nein. Ein solcher Zustand Europas bedeutet für Russland natürlich eine Verengung des Raums, in dem Diplomatie wirken und effektiv sein kann. Die Region, die für Russland immer die wichtigste Orientierung für die Außenpolitik darstellte, hat nun nichts mehr als eine passive Bevölkerung und unfähige Politiker zu bieten. Europa hat sich endgültig in ein Aufmarschgebiet der USA im Fall eines Konflikts mit ihren Hauptgegnern verwandelt: Russland und China.
Diplomatische Erfolge können hier immer nur einen bruchstückhaften Charakter haben, werden aber nie zu einer essenziellen Änderung der Beziehungen führen. Alle Gespräche über die Sicherheit in Europa werden mit den USA geführt werden müssen. Dabei stellt das Überleben der eigenen Verbündeten für Washington keinen Grundsatz dar. Es wird sie leicht im Eifer der Konfrontation mit Moskau und Peking opfern.
Doch zum ersten Mal in der Geschichte ist Russland von einer Bedrohung befreit, die unmittelbar von den europäischen Völkern ausging. Russland hatte mit dieser Bedrohung immer wieder zu tun und ging stets siegreich hervor. Nun existiert dieses Problem in seiner historisch gewohnten Form nicht mehr.
Wenn Russlands militärische Bemühungen in der Ukraine für den Großteil der Europäer und US-Amerikaner, die hinter dem Rücken des Kiewer Regimes stehen, überzeugend erscheinen, wird die EU von dieser politischen Bühne so verschwinden, als ob sie nie dort gestanden hätte. Und all das Gerede über eine EU "von Lissabon bis Lugansk" wird in Vergessenheit geraten. Alle verstehen das, deswegen ist es kein Wunder, dass die Meldungen über das Treffen in Kiew und die Behauptungen der deutschen Außenministerin keinen Spitzenplatz unter den Nachrichten einnahmen.
Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei Wsgljad.
Timofei W. Bordatschow (geboren 1973) ist ein russischer Politikwissenschaftler und Experte für internationale Beziehungen, Direktor des Zentrums für komplexe europäische und internationale Studien an der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik der Hochschule HSE in Moskau. Unter anderem ist er Programmdirektor des Internationalen Diskussionsklubs Waldai.