Nord Stream-Anschlag: Die Regierug von Kanzler Scholz zeigt kein Interesse an einer Aufklärung
von Paul Schreyer
Während Justizminister Marco Buschmann kurz nach der Sprengung der Pipelines noch entschlossen verlautbaren ließ, man lasse sich durch den Angriff „nicht einschüchtern“ und werde mithilfe der Ermittlungen des Generalbundesanwalts „den Saboteuren auf die Spur kommen und diese vor ein deutsches Gericht stellen“, so ist ein Dreivierteljahr später von solchem Willen nur noch wenig zu spüren. Ermittlungsergebnisse werden nicht bekannt gegeben, die Regierung schweigt. Zuletzt bemerkte der Generalbundesanwalt im März lediglich knapp, die Auswertung der sichergestellten Spuren und Gegenstände dauere an, „belastbare Aussagen, insbesondere zur Frage einer staatlichen Steuerung“ könnten weiterhin „nicht getroffen werden“.
Das war einen Monat nach der im Februar veröffentlichten Enthüllung des Reporters Seymour Hersh, wonach US-Präsident Biden die Sprengung angeordnet und durch Marinetaucher durchführen lassen hatte – ein Bericht, der zwar weltweite Schlagzeilen machte, zu dem aber weder der Generalbundesanwalt, noch der Justizminister oder der Bundeskanzler ein Wort verloren. Kein Kommentar, nicht einmal ein Dementi. Kanzler Scholz sei durch dieses Schweigen inzwischen zu einem „Kollaborateur“ geworden, erklärte Hersh.
Seither dominiert in den Medien eine kurz nach dieser Enthüllung plötzlich im März 2023 aufgetauchte Geschichte, wonach der technisch komplexe Anschlag in 80 Metern Wassertiefe nicht von einem US-Kriegsschiff, sondern von einer kleinen Urlaubssegelyacht aus durchgeführt worden sei und die Hintermänner – ungenannte – Ukrainer wären. Diese Story wird seitdem wöchentlich mit neuen Details gefüttert, oft durch US-Medien, und bislang vor allem mit einem Ergebnis: niemand redet mehr von Seymour Hersh.
Die deutsch-amerikanischen Beziehungen, so viel scheint klar, stehen im Mittelpunkt der Affäre um die Hersh-Enthüllung. Und diese sind überaus kompliziert. Was verbindet die beiden Länder und wie verbindet es sie? An der Oberfläche sieht alles einfach aus: Die USA sind engster Verbündeter, sie haben (West-)Deutschland 1945 befreit, wofür ihnen die Deutschen zu Dank verpflichtet sind. Davon abgesehen, dass die Motive der USA für den Kriegseintritt weniger moralisch als ökonomisch bedingt waren (1), setzte sich die heute vertraute Sichtweise der USA als Befreier in Deutschland auch erst spät durch. In den 1950er, 60er und 70er Jahren war sie selten, und in offiziellen staatlichen Stellungnahmen gar nicht vorhanden. Erstmals wurde sie zum vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes vom damaligen, persönlich nicht unbefangenen (2), Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker so klar formuliert:
„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“
In den ersten Jahren und Jahrzehnten nach Kriegsende war die Einschätzung zum Zweiten Weltkrieg und dessen Ergebnissen eine andere, da der Großteil der Bevölkerung – als Mitläufer oder aktive Unterstützer der Nazis – die Kriegsniederlage persönlich eben nicht als Befreiung erlebt hatte, sondern als Schock. Nahezu jede Familie in Deutschland hatte zudem Angehörige verloren, häufig durch die Flächenbombardements britischer und amerikanischer Bomber auf deutsche Städte. Die aus London und Washington befehligten Bomber töteten hierzulande Hunderttausende Zivilisten – nach moralischen Maßstäben ein unfassbares Kriegsverbrechen. Dem vorausgegangen war der deutsche Luftkrieg gegen England, dem Zehntausende britische Zivilisten zum Opfer gefallen waren.
Nach dem Krieg lag daher eine auf den ersten Blick unwahrscheinliche Anpassungsleistung darin, die nun als Besatzer des Landes herrschenden Mörder der eigenen Familienangehörigen und Zerstörer der eigenen Städte als Freunde, und zunehmend ab der Weizsäcker-Rede von 1985 auch als Befreier anzusehen. Auf den ersten Blick unwahrscheinlich war diese Anpassungsleistung deshalb, weil von Anfang an für niemanden ein Zweifel daran bestehen konnte, dass diese neuen „Freunde“ kaltblütige, ja blutrünstige Massenmörder waren, die absolute Vernichtung anstrebten:
„Die Schlacht um Hamburg kann nicht in einer einzigen Nacht gewonnen werden. Wenigstens 10.000 Tonnen Bomben sind nötig, um diese Stadt auszulöschen. Wenn wir den maximalen Effekt des Bombardements erreichen wollen, dann muß unablässig angegriffen werden. Der erste Angriff heute Nacht wird vor allem mit Brandbomben ausgeführt, um die Feuerwehrkräfte und die Löschmöglichkeiten zu erschöpfen.“
So steht es im Einsatzbefehl des britischen Bomberkommandos vom 24. Juli 1943. Briten und Amerikaner nannten ihren ersten großen gemeinsamen Luftangriff, der auf Hamburg gerichtet war und zehn Tage währte, damals „Operation Gomorrha“. In der Bibel ist dies die Stadt, die von Gott wegen ihrer Sündhaftigkeit vernichtet wird, indem er Schwefel und Feuer auf sie herabregnen lässt.
Der weltbekannte Physiker Freeman Dyson (1923-2020) arbeitete als 19-jähriger in der Statistikabteilung der britischen Armee, der „Operational Research Section“ (ORS), und analysierte dort die Erfolge der menschenverachtenden Flächenbombardierungen. Gegen Ende seines Lebens blickte er auf diese Zeit zurück:
„Mein erster Arbeitstag war der Tag nach einer unserer erfolgreichsten Operationen, einem Nachtangriff mit geballter Kraft auf Hamburg. (…) Eine Woche nach meiner Ankunft im ORS gingen die Angriffe auf Hamburg weiter. Der zweite löste am 27. Juli einen Feuersturm aus, der den zentralen Teil der Stadt verwüstete und etwa 40.000 Menschen tötete. Nur zweimal gelang es uns, Feuerstürme auszulösen, einmal in Hamburg und noch einmal in Dresden im Jahr 1945, wo zwischen 25.000 und 60.000 Menschen ums Leben kamen (die Zahlen sind noch immer umstritten). Die Deutschen verfügten über gute Luftschutzbunker und Warnsysteme und taten, was ihnen gesagt wurde. Infolgedessen kamen bei einem typischen Großangriff nur wenige Tausend Menschen ums Leben. Aber als es zu einem Feuersturm kam, erstickten oder verbrannten die Menschen in ihren Unterkünften, und die Zahl der Toten war mehr als zehnmal höher. Jedes Mal, wenn das Bomberkommando eine Stadt angriff, versuchten wir, einen Feuersturm auszulösen, aber wir erfuhren nie, warum uns das so selten gelang. Wahrscheinlich konnte es nur dann zu einem Feuersturm kommen, wenn drei Dinge gleichzeitig auftraten: erstens eine hohe Konzentration alter Gebäude am Zielort; zweitens ein Angriff mit einer hohen Dichte an Brandbomben im zentralen Bereich des Ziels; und drittens eine atmosphärische Instabilität. Als die Kombination dieser drei Dinge genau richtig war, erzeugten die Flammen und die Winde einen lodernden Hurrikan. Das Gleiche geschah eines Nachts im März 1945 in Tokio und im darauffolgenden August erneut in Hiroshima. Der Feuersturm in Tokio war der größte und tötete wohl 100.000 Menschen. (…)
Die Briten unterstützten größtenteils Sir Arthurs rücksichtslose Bombardierung von Städten, nicht weil sie glaubten, dass dies militärisch notwendig sei, sondern weil sie der Meinung waren, dass dies den deutschen Zivilisten eine gute Lektion erteilte. Diesmal spürten die deutschen Zivilisten endlich den Schmerz des Krieges am eigenen Leib. Ich erinnere mich, dass ich mit der Frau eines hochrangigen Luftwaffenoffiziers über die Moral von Bombenangriffen auf Städte gestritten habe, nachdem wir die Ergebnisse des Dresdner Angriffs erfahren hatten. Sie war eine gebildete und intelligente Frau, die Teilzeit für die ORS arbeitete. Ich fragte sie, ob sie wirklich glaubte, dass es richtig sei, in dieser späten Phase des Krieges deutsche Frauen und Babys in großer Zahl zu töten. Sie antwortete: ‘Oh ja. Es ist besonders gut, die Babys zu töten. Ich denke nicht an diesen Krieg, sondern an den nächsten, in 20 Jahren. Wenn die Deutschen das nächste Mal einen Krieg beginnen und wir gegen sie kämpfen müssen, werden diese Babys die Soldaten sein.’ Nachdem wir zehn Jahre lang gegen die Deutschen gekämpft hatten, vier im ersten Krieg und sechs im zweiten, waren wir fast so blutrünstig geworden wie Sir Arthur.“
Es ist zweifellos von Bedeutung für die kollektive Psyche der deutschen Gesellschaft in der Nachkriegszeit, dass der verheerende Luftkrieg gegen deutsche Städte in Ost wie in West ausschließlich von Briten und Amerikanern geführt wurde. Es gab keine russischen Flächenbombardements, weder auf Hamburg, Frankfurt am Main oder München, noch auf Leipzig, Dresden oder Rostock – wohl aber britisch-amerikanische Flächenbombardements auf alle diese Städte. Was die Auswirkungen des Bombenkrieges anging, konnten daher die ostdeutschen Bewohner der sowjetischen Besatzungszone ihren Hass auf die Zerstörer der eigenen Städte direkt und widerspruchslos in die nun opportune politische Ablehnung des kapitalistischen Klassenfeindes ummünzen. Die heute im Osten viel verbreitetere USA-Kritik hat hier ihre Wurzel und ungebrochene Kontinuität.
Den Bewohnern des bald zum Frontstaat gegen den Kommunismus aufgebauten Westdeutschlands war diese Haltung nicht so ohne weiteres möglich. Die Westdeutschen hatten die Zerstörer ihrer Städte, die nun das Land beherrschten, als „Freunde“ und „Verbündete“ zu bezeichnen – und mussten damit ihre eigene Wahrnehmung verleugnen. Diese extreme psychische Verrenkung wirkt – so die These dieses Textes – bis heute lähmend nach, da sie in Westdeutschland nie aufgearbeitet wurde. Nach 1945 entwickelte die westdeutsche politische, akademische und mediale Führungsebene daher ein Verhältnis zu den USA, das im Kern irrational, wenn nicht pathologisch war.
Was hier gesellschaftlich prägend wurde, kann auf Ebene des Individuums psychologisch als „erzwungenes Bindungstrauma“ betrachtet werden, im populären Sprachgebrauch oft „Stockholm-Syndrom“ genannt. Dieses ist durch zwei Faktoren gekennzeichnet: erzwungene Nähe und paradoxe Dankbarkeit. Erstere war durch die auf die Bombardierungen folgende Besatzung gegeben, letztere politisch vom Kriegsverlierer gefordert. Die psychische Deformierung durch dieses Trauma hatte zur Folge, dass insbesondere diejenigen Westdeutschen, die das Land führten, erst unter strenger Aufsicht der Alliierten, dann langsam etwas selbstständiger, bald damit begannen ihre neuen Verbündeten zu verehren und gegen politische Vorwürfe zu verteidigen.
Diese Solidarisierung mit dem Aggressor, der die eigene Familie, die eigene Stadt angegriffen hatte, erreichte ihren Höhepunkt mit großer zeitlicher Verzögerung etwa zwei Generationen später, als insbesondere Westdeutsche in Führungspositionen – die den Krieg nicht mehr erlebt hatten – den USA abgrundtief bösartige Handlungen gar nicht mehr zutrauten und vehement abstritten. Deutlich wurde dies nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 sowie gegenwärtig nach den Terroranschlägen auf die Nord Stream-Pipelines. Für die weitaus meisten Westdeutschen, besonders in der Leitungsebene von Politik und Medien, ist eine Verantwortung der USA für diese Taten praktisch unvorstellbar.
Der informelle Deal, der diese psychische Deformierung nach dem Zweiten Weltkrieg dauerhaft festigte und eine Auflösung verhinderte, war ebenso einfach wie effektiv: Die Alliierten verlangten keine gründliche Aufarbeitung der alle Welt schockierenden und alle Vorstellungen von Zivilisation sprengenden Naziverbrechen, und auch keine flächendeckende Entfernung von Altnazis aus hohen Positionen, forderten aber im Gegenzug die westdeutsche Gefolgschaft gegen den Kommunismus Moskaus (der Ende der 1940er Jahre in Westdeutschland noch sehr viele Anhänger hatte). Die heute wieder aktuelle Überzeugung der westdeutschen Nachkriegseliten, wonach „Amerika uns vor den Russen schützt“ war von Anfang an unehrlich und kaschierte den eigentlichen Deal: Die USA beschützten den größten Teil der westdeutschen Führungsschicht vor einer beschämenden Aufarbeitung der eigenen Naziverbrechen und ihrer unehrenhaften Entlassung aus gutbezahlten Führungspositionen.
Einige wenige öffentlichkeitswirksame Prozesse gegen Nazis blieben in Westdeutschland die Ausnahme, führende Nazi- und Wirtschaftsgrößen wurden von den USA begnadigt. Die große Masse der Nazis kam ungeschoren davon und durfte überall im Land Behörden leiten und Firmen lenken. Im Bundesjustizministerium, also der Behörde, die eine Aufarbeitung hätte vorantreiben müssen, waren von den 1950er bis in die 70er Jahre hinein mehr als die Hälfte aller Leitungspositionen mit Altnazis besetzt, ein Fakt der erst 70 Jahre nach Kriegsende von der Behörde eingeräumt wurde.
Über diesen Deal musste damals niemand reden und niemand verhandeln – er lag auf der Hand. Nazis und Amerikaner teilten ihren Hass auf den Kommunismus, die von Moskau propagierte Gesellschaftsform, die das Eigentum und damit die Grundlage der Macht der reichsten und einflussreichsten Familien direkt angriff. Daher war die Anpassungsleistung der westdeutschen Eliten auch nur „auf den ersten Blick“ (wie oben formuliert) unwahrscheinlich, tatsächlich aber logisch und naheliegend. Sie erforderte jedoch – schließlich verstand man sich als moralisch integer – nicht nur die weitgehende Verdrängung der eigenen Naziverbrechen, sondern auch die Verdrängung der Verbrechen der Alliierten. USA und Westdeutsche hatten fortan eine „weiße Weste“, das Böse saß – wie heute – im Osten.
Auch in Hamburg arrangierten sich die alten Eliten rasch mit den Zerstörern ihrer Stadt. Der spätere westdeutsche Medienmogul Axel Springer, Herausgeber von BILD-Zeitung und WELT, war in der NS-Zeit stellvertretender Chefredakteur der von seinem Vater herausgegebenen „Altonaer Nachrichten“ gewesen, wo man schon 1936 davon schwärmte, wie „ganz Altona den Führer hört“, und vor einem „Judeneinfluss“ warnte. 1945, nach dem Zusammenbruch, bemühte Springer sich erfolgreich um eine Lizenz der britischen Besatzer, um unter deren Kontrolle weiter als Verleger arbeiten zu können. Antisemitismus und Führerkult waren in seinen Zeitungen fortan passé, Antikommunismus und Russophobie wurden aber weiter gepflegt. Dass die Briten ganz Hamburg hatten niederbrennen wollen („10.000 Tonnen Bomben sind nötig, um diese Stadt auszulöschen“, wie es im oben erwähnten britischen Einsatzbefehl von 1943 hieß), war kein Thema. In den 1950er Jahren erhielt Springer laut Recherchen der amerikanischen Zeitung „The Nation“ sieben Millionen Dollar von der CIA. (3) 1967 verfasste er eine Unternehmensleitlinie, die bis heute für alle dort arbeitenden Journalisten verbindlich ist und in der es heißt: „Wir befürworten das transatlantische Bündnis zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Europa.“ Seither – und bis hin zum derzeitigen Ukrainekrieg – steht Springer mit BILD und WELT fest an der Seite der Nato.
Während die Verdrängung der eigenen Naziverbrechen in Westdeutschland mit Beginn der 68er-Revolte und dem Aussterben der Nazis in hohen Ämtern langsam endete und heute Vergangenheit ist, bleibt die Verdrängung der Verbrechen der Alliierten bis in die Gegenwart hinein präsent. Auch im Jahr 2023 kann sich kaum ein renommierter Historiker, geschweige denn Politiker oder Chefredakteur dazu durchringen, den alliierten Bombenkrieg gegen die deutsche Zivilbevölkerung als Kriegsverbrechen zu bezeichnen oder die plausible Verantwortung der USA für 9/11 auch nur zu diskutieren.
Mit der Sprengung der Nord Stream-Pipelines wurden, so scheint es, die alten psychischen Muster erneut aktiviert. Man „darf“ darüber nicht offen reden, es „darf“ keine Untersuchungsergebnisse geben, die die USA belasten (die derzeit noch fast 40.000 Soldaten in Deutschland stationiert haben). Das Schweigen und Verdrängen ist Teil der bald 80 Jahre dauernden Allianz. Deutschland ist emotional offenbar noch immer an das Jahr 1945 gekettet: Der Angreifer ist der „Freund“. Er muss es sein, denn sonst ist man „verloren“ und „ohne Schutz“. Dieses Schema sitzt fest, ist unbewusst eingebrannt in die kollektive Psyche und macht eine neutrale Analyse der Lage sowie eine angemessene politische Reaktion darauf nahezu unmöglich – nicht nur mit Blick auf Nord Stream, sondern auch im Krieg in der Ukraine, der immer mehr ein Nato-Krieg gegen Russland wird, welcher alles andere als im deutschen Interesse liegt.