Täter und Opfer: US-Präsident Joe Biden und Kanzler-Darsteller Olaf Scholz
von Elena Karajewa
Die geopolitische Krise eskaliert immer rasanter. Die Eskalationsstufen folgen aufeinander nicht mehr im Abstand von Tagen, sondern zum Teil schon binnen weniger Stunden.
Auf die Erhöhung des politischen Drucks und die scheinbar abrupte Umgestaltung der NATO (die Achse Washington–Berlin–Paris wurde durch die Achse Washington–London–Warschau ersetzt) reagieren diejenigen, die sich eigentlich für Sicherheit und nicht für Krieg sorgen müssten, wie die Welpen eines Labradors. Sie wedeln aufgeregt mit dem Schwanz und versuchen, die Nase ihres Herrchens zu lecken.
Die Realität ist allerdings keine Hundespielwiese. Die USA testen einerseits die Fähigkeit Russlands, einen unmittelbaren und ungedämpften Zusammenstoß mit Amerika auszuhalten, andererseits die Stärke der europäischen Einheit. Über Letztere wurde viel gesprochen, zu sehen war von ihr aber zuletzt nicht viel. Brüssel hat sich als unfähig erwiesen, eine antirussische Front mit einer militaristischen Ausrichtung aufzubauen.
Für die Vereinigten Staaten ist die derzeitige Krise die letzte Chance, sich den Status zu erhalten, den sie nach dem Zweiten Weltkrieg erlangt hatten. Während Russland den damaligen Sieg um den Preis von Millionen von Menschenleben errang, profitierten die USA vom kriegsbedingten Ausbau der Industrieproduktion. Der amerikanische Anteil am weltweiten BIP machte damals ganze 45 Prozent aus. Kein Wunder: Europa lag in Trümmern, China war ein Agrarland, Japan hatte gerade zwei Atombombenabwürfe erlebt. Ein Tambourin-Tanz namens Marshall-Plan zementierte die amerikanische Vormachtstellung.
Der Kalte Krieg begann mit dem Ziel, die UdSSR als wirtschaftlichen Gegner zu vernichten. Der westliche Teil Deutschlands war vollständig unter amerikanischer Kontrolle. Frankreich wurde ignoriert, weil es mit dem Kampf um den Erhalt seiner asiatischen und afrikanischen Kolonien beschäftigt war.
Die USA hatten ökonomisch keinen einzigen ebenbürtigen oder auch nur ansatzweise vergleichbaren Konkurrenten. Sie konnten tun, was immer sie wollten.
56Aber die Überheblichkeit des einsamen Riesen ist in der Geopolitik keine harmlose Sache. Unauffällig und mit deutscher Gründlichkeit machte Deutschland einen wirtschaftlichen Sprung, die Ölkrise und die von Bundes7er Willy Brandt begonnene Ostpolitik halfen dabei. Die deutsche Industrie entwickelte sich mit sowjetischem Gas in einem Tempo, das die amerikanische Industrie zu diesem Zeitpunkt nicht für möglich gehalten hätte. In der Zwischenzeit begann Amerika aufgrund seiner zahlreichen (und selten erfolgreichen) militärischen Abenteuer, wirtschaftlich zu schwächeln, es ging allmählich bergab. Im Fernen Osten gab es mit dem wirtschaftlichen Aufstieg Japans ein Pendant. Noch fleißiger als die Deutschen haben die Japaner ein Wirtschafts- und Technologiewunder vollbracht.
Aus der Sicht Washingtons, das sich im Verhältnis zu diesen beiden Ländern nicht nur als Sieger fühlte, sondern auch dachte, sie nachhaltig ihrer Souveränität beraubt zu haben, stellte sich all das als Angriff auf den hegemonialen Status der USA dar. Das Gesetz des Dschungels fordert, so etwas zu bestrafen. In den späten 1970er-Jahren begannen amerikanische Handelskriege gegen Japan, die bis in die 1980er-Jahre andauerten. Die Amerikaner werteten den Dollar mit verschiedenen geldpolitischen Instrumenten ab und verhängten gleichzeitig einen 100-prozentigen Einfuhrzoll auf japanische Chips. Das ließ Japans BIP für fast eineinhalb Jahrzehnte abstürzen.
Deutschland wurde mit mehr Nachsicht behandelt, indem man ihm die damals benötigten Mengen an sowjetischem Gas abschnitt. Wie? Mit Sanktionen auf die Ausfuhr größerer Rohre in die Sowjetunion. Sosehr sich die Deutschen und die Franzosen, Kohl und Mitterrand, auch dagegen wehrten, die USA setzten sich durch und die G7 beschlossen die Handelsbeschränkungen. Die Sanktionen sollten das „böse Imperium“ vernichten, und sie hatten letztlich Erfolg damit.
Man kann sich über die Naivität der sowjetischen Führung beschweren oder darüber, dass die sowjetische Wirtschaft bereits „schwer atmete“, dass die Nachfrage nicht mit dem Angebot Schritt halten konnte, all diese Sentimentalitäten. So oder so lautete das Ergebnis: Die USA haben ihre wirtschaftlichen Konkurrenten, die in Bezug auf Stärke und Volumen der Wirtschaft bereits mit ihnen gleichauf waren, Ende der Achtziger/ Anfang der 90er-Jahre erfolgreich ausgeschaltet.
Etwas mehr als 30 Jahre nach Amerikas Sieg wiederholt sich die Situation der 70er-Jahre. Die deutsche Industrie hat sich erneut als leistungsfähiger erwiesen als die der Vereinigten Staaten. Und Russland, das, wie es schien, für immer und ewig im Kalten Krieg geschlagen war, drängte unerwartet nach vorn.
Während Deutschland historisch und politisch nicht in der Lage war, eine eigene Außenpolitik zu betreiben (es war einerseits durch Washington und andererseits durch Brüssel eingeschränkt), unterlag Russland solchen Beschränkungen nicht und setzte seine Interessen auf der internationalen Bühne konsequent durch. Man kann sich kaum vorstellen, wie Washington schäumte, als offenbar wurde, dass Merkel und Putin die gleiche Sprache sprachen. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Um dem entgegenzuwirken, wählten die USA diesmal die Ukraine als Sollbruchstelle und begannen konsequent und systematisch ihr Engagement in dem Land. Ohne weiße Handschuhe und ohne Scham.
Das Ziel – Russland von Deutschland zu entzweien – musste in zwei Etappen erreicht werden. Die erste waren die Sanktionen. Die zweite das Verschwinden jeglicher Ostpolitik und jeglichen Dialogs durch die direkte Konfrontation zwischen deutschen und russischen Panzern.
Glaubt jemand, dass die EU die Ukraine schützt? Ganz und gar nicht. Die EU demontiert sich Stein für Stein, um den USA das Fundament für die totale Vorherrschaft im Welthandel zu errichten. Glaubt jemand, dass die USA schon jetzt einen Zusammenstoß mit Russland anstreben? Nein, zuerst muss Deutschland wirtschaftlich zerstört werden. Das ist fast gelungen.
Das russisch-amerikanische Duell folgt als übernächster Schritt. Es wird nicht mehr das eines einsamen Riesen und einer „regionalen Tankstelle“ sein, sondern eines zweier Mächte, von denen die eine weiß, dass ihre wirtschaftliche Macht zu zerbrechen droht, und die andere, dass es Wichtigeres gibt als Geld. Es braucht Ideale, dann wird die Wirtschaft, die über reale Ressourcen verfügt, weitaus schlimmere Turbulenzen verkraften.
Die Angst sitzt jetzt in Washington, nicht in Moskau. In den USA weiß man, dass die Zeit, die Geographie und die historische Erfahrung auf der Seite Russlands stehen.