Immer mehr Menschen wollen weg: Deutschland befindet sich in einer Phase starker Auswanderung
„Goodbye, Deutschland!“. Was früher der Titel einer Nachmittagssendung über deutsche Auswanderer war, ist nun fester Entschluss vieler Bürger in diesem Land, die dem selbigen den Rücken kehren. „Ein Land, in dem wir gut und gerne leben“ war ein CDU/CSU-Wahlspruch, der mit der Realität nichts mehr gemein hat. Für die Zukunft des Landes sehen viele Menschen mittlerweile schwarz. Rote Linien wurden von der Politik überschritten und die goldigen Zeiten der vormaligen Wohlstandsgesellschaft sind ebenfalls passé. Und während nun etliche Menschen ihren Entschluss zum Auswandern in die Tat umsetzen, gehen jene Menschen, denen die nötigen Mittel fehlen, in die innere Migration. Sie ziehen sich zurück, gefrustet angesichts des unentwegt voranschreitenden Zerfalls der Gesellschaft. Ein Gemeinwesen kann auf dieser Grundlage nicht gedeihen.
Ich hatte mich mit meiner Tochter zum Abendessen verabredet. Kürzlich hat sie ihre Ausbildung erfolgreich beendet, sie steht jetzt — wie man so sagt — mit beiden Beinen im Berufsleben, hat eine eigene kleine Wohnung. Und sie fürchtet sich vor dem, was kommt. „Wenn du die Chance hast“, sagte ich ihr, vermutlich recht unvermittelt, „dann nutze deine Jugend und geh ins Ausland. Das hier, das wird nichts mehr.“ Sie starrte mich an. „Und du?“, fragte sie. „Ich bin zu alt, ich bleibe hier“, antwortete ich.
Es trat Stille ein. Dieser kurze Wortwechsel ergriff mich. Waren das wir, saßen wir hier wirklich — oder war das nur ein Dialog aus einem Film? Solche Gespräche kenne ich eigentlich von der Leinwand, aus Streifen, die die kleinen Leute zeigen, wie sie gefangen in einem despotischen System versuchen, sich zu entwinden. Und nun sitzen wir da und führen exakt so ein Gespräch. Wo sind wir nur gelandet?
Seit einigen Monaten habe ich das Gefühl, dass das Thema des Auswanderns präsenter ist als je zuvor. Schon während der Corona-Zeit sprachen plötzlich immer mehr Menschen in meinem Umfeld darüber, das Land zu verlassen. Jetzt, da im buchstäblichen Sinne die Lichter ausgehen sollen, nimmt dieses Gesprächsthema sogar noch zu. Einige haben sogar Nägel mit Köpfen gemacht. Ich bewundere indes ihren Mut. So einen Schritt muss man sich erstmal trauen.
Seit vielen Jahren laufen Scripted-Reality-Dokus im Fernsehen, die Auswanderer auf ihrem Weg in eine neue Zukunft begleiten. Zu einer Zunahme dieses Themas in Alltagsgesprächen haben diese Formate aber nicht beigetragen. Erst jetzt, in den letzten Monaten, ist das Thema der heiße Shit jeder Gesprächsrunde. Selbst wenn keiner am Tisch letztendlich seine Sachen packt und abrauscht: Darüber sprechen, träumen, es abstecken, das tun offenbar immer mehr Menschen im Lande.
Wie viele Jahre ist das nun her, dass die Partei der früheren Bundeskanzlerin mit einem Plakat um die Gunst der Wählerschaft buhlte, auf dem stand: „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“? Schon damals stimmte der Spruch nicht. Denn viele Menschen leben hier nicht gut. Unzählige noch nicht mal gerne. Jetzt scheinen immer mehr mit dem Gedanken schwanger zu gehen, dieses gute Deutschland hinter sich zu lassen. Schon in den letzten Jahren verließen viele Menschen das Land. Fast 1,4 Millionen Menschen waren es noch im Jahr 2016; und in den Corona-Jahren 2020 und 2021 waren es jeweils um die eine Million Menschen, die der Bundesrepublik den Rücken kehrten.
Zahlen, die wenig über die Stimmung im Lande aussagen. Denn nicht jeder, der jetzt von der Flucht spricht, seine Träume ausbreitet, aus Deutschland zu verschwinden, tut es letztlich auch. Aber dass diese Gedanken jetzt an jeder Ecke formuliert zu werden scheinen, zeigt mindestens den Grad des „inneren Asyls“ an, in das sich etliche Bürgerinnen und Bürger zurückziehen. Am Ende bleiben sie vermutlich doch hier, so eine Auswanderung ist ja kein Klacks: Aber im Kopf sind diese Menschen weg, leben sie ganz woanders, sind anwesend abwesend und im Grunde, man kann darf es kühn vermuten, für das Gemeinwesen im Lande — das heißt, für das Gemeinwesen, das übrigblieb — verloren.
Meinem Kind zu raten, es möge sich vielleicht im Ausland nach einer Stelle umsehen, fiel mir nun wirklich nicht leicht. Mit meiner Tochter verbindet mich ein, ja ich traue mich das zu behaupten, festes Band. Wir sehen uns regelmäßig, Geheimnisse haben wir keine — außer all das, was einem Vater ruhig als Geheimnis vorenthalten werden darf. Einen solchen Ratschlag zu erteilen, das fühlt sich so an, als weise man sein Kind von sich. Ein mulmiges Gefühl ist das, eigentlich zum Heulen.
Klar doch, junge Menschen sollen in die Welt hinaus, Erfahrungen sammeln. Aber wenn sie es unter anderen Vorzeichen tun, freiwillig eben oder aus Neugier getrieben, dann ist das nochmal eine andere Qualität. Es auf den Rat des alten Herrn zu tun, getrieben von dem, was sich hierzulande abzeichnet und unheilvoll ausbreitet: Das kann ein traumatischer Abschied werden.
Und dennoch scheint so ein Schritt nicht deplatziert zu sein. Dieses Land mausert sich mehr und mehr zur Falle für all jene, die hierbleiben wollen. Es fehlt an Investitionen, an Personal, deutsche Großstädte verwildern, die „innere Sicherheit“ mag im Einsatz gegen unliebsame Protestaktionen noch greifen. In manchen Stadtteilen ist sie Glückssache — das weiß man auch, aber getan wird wenig dagegen.
Der Verfall des Landes ist fassbar. Demnächst fehlt Gas, Strom, und selbst Getränke sollen knapp werden. Parallel dazu verabschieden wir uns in neue Corona-Regeln nicht etwa deshalb, weil das bisschen Virus noch gefährlich wäre. Nein, wir tun es, weil in Kliniken Fachpersonal fehlt und schon eine Grippewelle zum Kollaps führen kann. Und dann droht da ja noch ein Krieg: Wenn der kommt, wird dieses Land Front sein.
Meiner Tochter zu sagen, sie soll bleiben, das Beste hoffen, es würde schon wieder alles besser werden: Das fühlt sich an wie väterlicher Egoismus, als ob ich wider der beklemmenden Entwicklungen klammere. Ihr das Fortgehen ans Herz zu legen, fühlt sich schlimm an. Sie zu beschwichtigen und ihr gut zuzureden, empfinde ich allerdings auch als nicht richtig. Schließlich fragt sie mich immer mal wieder, wie ich die Sache sehe, wohin das alles führe. Das ehrt mich, aber ihr „Alter“ steht wie sie ja auch vor Entwicklungen, die er selbst so noch nicht erlebt hat. Ich bin ratlos, ohnmächtig. Aber dass es in irgendeiner Weise aufwärts gehen soll hierzulande, steht für mich außer Frage.
Natürlich ist es nicht so, dass man automatisch im Ausland das Glück findet. Es ist ein bisschen so wie bei den Bremer Stadtmusikanten, die mit dem Wahlspruch in die Welt hinausgingen, dass man etwas Besseres als den Tod überall finde. Zugegeben, man enteilt nicht gleich dem Tod, wenn man Deutschland verlässt. Der Tod steht hier metaphorisch. Für den Tod der Freiheit etwa. Oder der Kreativität und Lebensqualität. Der Unbeschwertheit oder des Frohsinns.
Denn das sind alles so Qualitäten, die man im heutigen Deutschland immer seltener findet. Alles scheint mit politischer Schwerfälligkeit aufgeladen, ständig muss man auf der Hut sein, nicht was Falsches zu sagen. Deutschland 2022 bedeutet auch: Ruhig bleiben, unscheinbar seinen Job verrichten, nicht aufmucken, ja noch nicht mal schüchtern hinterfragen. Hier herrscht das Mittelmaß mit einer Radikalität, dass man sich vieles wieder vorstellen kann. Auch solches, was man sich nicht mehr vorstellen will auf deutschem Boden.
Der Schritt, dieses Land zu verlassen, ist wie gesagt nicht mit automatischem Glück verbunden. Aber wenn man etwas sucht, das man gemeinhin Glück nennt, dann ist es sicher nicht in Deutschland zu finden. Jedenfalls nicht, wenn man zu den Normalsterblichen gehört. Gut und gerne leben in Deutschland noch immer Reiche. Alle anderen wurden zu Befehlsempfängern, zu Untertanen degradiert, die man nur so lange Bürgerin oder Bürger nennt, wie sie schweigen — und damit den Zuständen zustimmen.
So surreal dieses kurze Gespräch mit meiner Tochter auch war, so weh es auch tut — so unausweichlich war es. Denn was sich hier abzeichnet, ist eine Tragödie. Nicht nur eine wirtschaftliche, auch eine menschliche zeichnet sich ab. Wer was auf sich selbst gibt, wer sich was wert ist, der übt sich in Eskapismus. Wie ich höre, scheint es für mein Kind eine potenzielle Stelle in Lissabon zu geben. Sie bewirbt sich, schreibt sie mir just in dem Moment, da ich über diesen Zeilen brüte. Was soll man als Vater in diesen Zeiten erhoffen? Eine Absage? Eine Zusage? Ich hoffe das Beste, sicher. Was immer das dann ist. Wo immer es ist. Wo es nicht ist, habe ich hier zu erklären versucht.