Angela Merkel bei ihrem Auftritt in der Berliner Volksbühne am 7. Juni 2022
Eine Analyse von Anton Gentzen
Der erste öffentliche Auftritt von Angela Merkel seit dem durchaus historischen Wechsel im Bundeskanzleramt im Dezember letzten Jahres war mit Spannung erwartet worden. Nun folgte sie nach Monaten des Schweigens einem Ruf vom Spiegel in die Berliner Volksbühne und ließ sich dort von freundlich gesinntem Publikum feiern.
In ihrer bekannt jovialen Art verteidigte Merkel die Außenpolitik ihrer langen Amtszeit, der Moderator der Veranstaltung lieferte hierzu die passenden Stichworte. Kritische Nachfragen gab es kaum. Die Innenpolitik war ohnehin nur ein Thema ganz am Rande.
"Ich muss mir keine Vorwürfe machen, dass ich mich nicht genug angestrengt habe. Diplomatie ist nicht falsch, nur weil sie nicht funktioniert hat",
sagt Merkel – und diese ihre These zieht sich wie ein Leitmotiv durch die nicht ganz 90 Minuten der Konversation auf der Bühne.
An einer Stelle lässt die Ex-Kanzlerin tief in die Motivation ihres außenpolitischen Handelns blicken: Als sie Putins Handeln zu erklären versucht, sagt sie am Ende doch mehr über sich als über den russischen Präsidenten.
Die Ukraine sei eine "geopolitische Geisel", mit der Putin den Westen schädigen wolle, sagt Merkel zum Beispiel. Dabei empfindet man dies in Russland genau andersherum: Der Westen nämlich habe die Ukraine in langen Jahren zu einer antirussischen Waffe geformt. Und dies ist auch plausibler, denn die Ukraine befindet sich nun mal im "weichen Bauch" Russlands, nicht mitten in dem der EU. Spiegelt die Kanzlerin damit die eigenen Absichten?
Die von ihr behauptete "Liebe zu dem Land" (Zitat: "Die Tragik wird aber nur größer dadurch, dass ich das Land mag") kann man ihr nach alldem kaum abnehmen, zumal es Merkel doch noch herausrutscht, dass sie Russland allenfalls so liebt, wie ein Feinschmecker ein Kalb, nämlich zerstückelt in mundgerechten kleinen Häppchen auf dem Teller:
"Putin hat mir 2007 gesagt, dass für ihn der Zerfall der Sowjetunion die schlimmste Sache des 20. Jahrhunderts war. Für mich war es eine Befreiung."
Das ist interessant, denn die Pfarrerstochter verortet also ihre "Befreiung" nicht im Wendeherbst 1989, nicht einmal in der deutschen Einheit 1990, sondern in dem Zerfall der zum damaligen Zeitpunkt schon weitgehend demokratisierten Sowjetunion im Dezember 1991. Da ist sie, die Urangst vor dem großen Nachbarn, die mächtigste Triebfeder aller Russophobie und jedes Russophoben.
Zu ihren G7-Kollegen will sie nach der Krim-Annexion gesagt haben: "Ihr wisst, dass er Europa zerstören will." Diese Angst vor Russland (Russophobie ist das passende Wort) dürfte indes auch die Spiegelung der eigenen Absichten sein.
Die wohl kritischste Nachfrage des Abends stammte nicht vom Moderator Alexander Osang, sondern per SMS zuvor vom ukrainischen Botschafter Melnyk eingeworfen und bezog sich auf das Jahr 2008, als – so zumindest der äußere Eindruck – es Merkel war, die Georgien und der Ukraine den Status von NATO-Beitrittskandidaten verweigerte. Merkel verteidigte die damalige Entscheidung und betonte, dass Russland die weitere NATO-Osterweiterung als offene Kriegserklärung aufgefasst hätte.
Doch nicht die potenzielle Reaktion Moskaus, die heute nicht anders ausfällt als sie 2008 wahrscheinlich ausgefallen wäre, war und ist für die Ex-Bundeskanzlerin das Problem. Sondern ihr Trumpf lautet heute:
"2008 mit diesem Membership Action Plan – das ist meine Meinung – hätte die Ukraine nicht den Widerstand leisten können, den sie heute leistet."
Und die NATO offenbar auch nicht:
"Es war aber jahrelang gar nicht Kernaufgabe der NATO, das NATO-Gebiet zu verteidigen. Wir hätten mehr machen können, da fasse ich mir auch an die Nase – aber das andere Wort möchte ich nicht in den Mund nehmen."
So kommen die Wahrheiten ans Tageslicht: Die Verteidigung des eigenen Territoriums war also gar nicht Ziel und Aufgabe dieses "Verteidigungsbündnisses".
Das weitere Gespräch mäandert dann zwischen Anekdoten, Urlaubsplänen und Witzeleien über das Dasein als "Politikrentnerin", kommt dann aber doch auf die Ukraine zurück. Wieder meldet sich Botschafter Melnyk per SMS und macht der Bundeskanzlerin Vorhaltungen. Es geht um die Minsker Verträge, die den Frieden bringen sollten, aber nicht brachten.
Darauf erwidert Merkel:
"Was ich manchmal bedaure: Dass sich heute kaum mehr einer an das Abkommen von 2014 hält. Es gibt kaum mehr einen, der nicht sagt: 'Das war schlecht verhandelt.' Aber das gab der Ukraine sieben Jahre Zeit, zu dem zu werden, was sie heute ist."
Und hier liefert sie wohl ungewollt den russischen und den oppositionellen ukrainischen Putin-Kritikern scharfe Munition: Der russische Präsident habe sich offenbar von der deutschen Bundeskanzlerin hereinlegen lassen. Kurz vor der (damals völlig unblutigen) Einnahme von Mariupol durch die Donbass-Rebellen habe er dem Druck der Europäer nachgegeben und die im Donbass verhassten Vereinbarungen von Minsk unterzeichnet, die tatsächlich nur dem aktuellen Kiewer Regime eine Atempause und Zeit zum Erstarken gaben, ohne dass irgendjemand dort je beabsichtigte, Minsk II zu erfüllen. Und offensichtlich auch zumindest in Berlin niemand.
Die rhetorische Frage, warum Merkel selbst in den sieben Jahren keinen Finger gerührt hatte, um die Ukraine zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen aus den Minsker Abkommen anzuhalten, hat sich damit auch erübrigt: Es war von vornherein so und nicht anders geplant. Stimmt's, Frau Ex-Bundeskanzlerin?
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