Mitglieder von Extinction Rebellion in Berlin
von Marco Gallina
Das ist die Zahl des vergangenen Samstags: 1.500 Tonnen. So viel Getreide transportierte ein Zug in der französischen Bretagne. Die Ladung sollte zu Tierfutter verarbeitet werden – eigentlich. Denn ähnlich wie im Wilden Westen sind Züge in Europa offenbar zum Freiwild für Zugüberfälle geworden. Die Banditen des 21. Jahrhunderts bauten auf den Schienen eine Mauer auf, um den Transport in der Nähe von Pontivy zum Stillstand zu zwingen.
Danach kaperten die Angreifer das Fahrzeug. Einen Teil seiner Ladung – die besagten 1.500 Tonnen – kippten sie auf die Gleise. Le Figaro meldet, dass ein Sachschaden von 2 Millionen Euro entstanden sei. Bei der Fracht habe es sich um Weizen gehandelt – ein seit Wochen immer teurer werdendes Gut auf dem Weltmarkt. Die Identität der Angreifer? Mitglieder von „Extinction Rebellion“.
„Die flächenunabhängige Intensivhaltung fährt gegen die Wand, wir müssen die Agrarindustrie beenden“, sagten die postmodernen Erben von Jesse James. Freilich, unverständliche Worte für einen Posträuber der damaligen Zeit, doch heute sind solche Aktionen und Phrasen bekannt. Neu ist nur die Qualität solcher Angriffe.
Die Erde, so heißt es in der Pressemitteilung weiter, könne sich nicht mehr „regenerieren“. Die Grenzen des Leistbaren seien überschritten worden, deshalb müsste der Import von Proteinen und der Export von Dünger in ärmere Länder erzwungen werden. Die Leben der Bauern stünden auf dem Spiel und der jüngste IPCC-Bericht zeige „Mangel an politischem Willen“, die Situation zu ändern.
Extinction Rebellion sieht sich als Advokat „einer wirklich nahrhaften, fröhlichen und lebendigen Landwirtschaft“ und im Kampf gegen ein „destruktives System“. In dieser Symbiose aus marxistischem Klassenkampf, Bauernhofidylle und apokalyptischer Endzeitvision stimmen die Klimabewegten ihre Verteidigung an: Die Fracht sei für Sanders, eine Tochtergesellschaft des Avril-Konzerns, bestimmt gewesen.
Dass Verblendung, Naivität und bahnbrechende Fehlkalkulationen zusammengehen, ist keine Neuheit. Sie zeigt sich aber exemplarisch an dem Umstand, dass die Angreifer vorhatten, importiertes Soja zu entsorgen – bis sie erkannten, dass es sich bei der Fuhre um Weizen handelte. Statt die Aktion abzubrechen, ging der Plan unvermittelt weiter. Das sorgte angesichts der sich durch den Ukrainekrieg abzeichnenden Ernährungsengpässe für Empörung.
Landwirtschaftsminister Julien Denormandie verurteilte die „völlig unverantwortliche“ Tat. Bauernverbände sprachen von einer „skandalösen Aktion von realitätsfernen und gegen das allgemeine Interesse handelnden Aktivisten“. Die romanischen Sprachen Französisch und Italienisch haben den Vorteil, dass die Bezeichnung militants bzw. militanti weniger harmlos klingt als die deutsche Entsprechung „Aktivisten“.
Trotzdem gibt es immer noch einen großen Abwehrreflex, von einem sich ausbreitenden „Ökoterrorismus“ reden zu wollen. Doch rein definitorisch macht es keinen Unterschied, ob russische Cyberangriffe die Stromversorgung lahmlegen oder Klimajünger sich an der Lebensmittelversorgung vergreifen. Beides sind Angriffe auf die in Corona-Zeiten verletzlich gewordene Infrastruktur, der man mit Gegenmaßnahmen begegnen sollte.
Dass etwa in Syrien und anderen zerrütteten Ländern Hunger droht, ist nämlich längst keine moralische, sondern eine polit-ökonomische Frage geworden. Die Auswirkungen einer Ernährungskrise werden wir nicht nur beim Weizenpreis spüren. Sollte beispielsweise der Nahe Osten wieder in Unruhe verfallen, stehen wir nicht nur vor einem Migrationsproblem, sondern auch vor der Frage, wie sicher Erdgas-Importe aus der Region sind.
Im Weltbild der Apokalyptiker ist ein tiefer malthusischer Kern verborgen, der in Überbevölkerung das Grundübel ausmacht – ohne zu erkennen, dass es Erfindungen wie Dünger sind, die trotz siebenfacher Vergrößerung der Weltbevölkerung das Leben auf dem Planeten nicht zur Hölle gemacht hat. Zumindest ist der beklagenswerte Zustand der Moderne woanders zu suchen – etwa auf ideologischer Ebene.
Paradoxerweise empfehlen die Weltenretter das Ende der Kur mit Mitteln aus dem frühen 19. Jahrhundert. Das ist in etwa so paradox, wie Tonnen voller Nahrungsmittel inmitten einer beginnenden Nahrungsknappheit im Namen der Landwirtschaft von einem Zug zu werfen. Ist es Wahnsinn, so hat es doch System.
Also doch: Wir haben es mit einer sektenhaften Zelle zu tun, deren ideologischer Unterbau zu Extremmaßnahmen führt, die nicht nur potenziell lebensbedrohlich sind. Das Ziel ist eindeutig Einwirkung auf die Politik. Das Phänomen des Ökoterrors hat bereits in Film und Literatur ein Gesicht erhalten, lange bevor es solche Organisationen gegeben hat; die Parallelen der fiktiven Attentäter und der tatsächlichen werden immer verblüffender. Das betrifft insbesondere die Blindheit für die vermeintliche Rettung der Menschheit, für die im Zweifel einige Menschen geopfert werden müssen, der großen Sache wegen.
Ein weiteres Element: die Aufspaltung, Neugründung und Verbreitung von Zellen und eine zunehmende Radikalisierung. Nicht nur „Fridays For Future“ hatte in der Vergangenheit angekündigt, „radikaler“ werden zu wollen. Die Organisation Greenpeace, deren Chefin Jennifer Morgan jetzt Staatssekretärin im Außenministerium ist, hatte bei der letzten Blockade-Aktion für Aufsehen gesorgt, weil sie einem Krankenwagen den Weg versperrte; von der gefährlichen Aktion an der Siegessäule, bei der Autofahrer gefährdet wurden, ganz zu schweigen.
Bezeichnend, dass eine dieser Zellengründungen, die sich auf Extinction Rebellion zurückführen lassen, sich bedeutungsschwanger die „Letzte Generation“ nennt. Sie ist unter dem Motto „Essen retten – Leben retten“ bekannt geworden, prangert Lebensmittelverschwendung an und fordert ein Gesetz dagegen – zusammen mit Extinction Rebellion. Womöglich hätte man das den französischen Kollegen mitteilen sollen? Die mittlerweile als Pattex-Kinder bekannten Störenfriede haben den Berliner Straßenverkehr, den Hamburger Hafen und verschiedene Flughäfen attackiert.
In allen Fällen behaupten die Initiatoren, keine Menschenleben in Gefahr zu bringen. Doch ob Krankenwagen und Arzneimittellieferanten auf Berliner Straßen oder die Lahmlegung von Flughäfen mittels Ballons – alle diese „Aktionen“ stellen die Durchsetzung politischer Ziele über die Gefahr für andere Beteiligte. Wer mit 94 Luftballons Verkehrsflugzeuge auf riskante Art und Weise stören will, muss erklären, wie er eine solche Attacke auf Dritte mit der Forderung nach mehr „Bürgerbeteiligung“ vereinen will. Früher war man wenigstens so ehrlich, vom „Schweinesystem“ zu fabulieren, gegen das jedes Mittel recht sei.
Einst hatte der Politikwissenschaftler Herfried Münkler zu einer „mürrischen Indifferenz“ geraten, um mit dem Islamischen Terror umzugehen. Eine solche Indifferenz ist in Deutschland schon vor der Rückkehr von Savonarolas Kinderpolizisten anzutreffen gewesen. Da wundert es nicht, dass am selben Tag die „Rebellen“ von einem Gericht wegen Sabotage eines Burger-King-Restaurants freigesprochen werden; und zur selben Zeit radikale Öko-Jünger die Berliner Autobahn im Zuge der Eröffnung von Elon Musks „Gigafactory“ lahmlegten.
Verantwortlich für eine stundenlange Sperrung der A10 auf der Höhe Erkner waren die Gruppen Sand im Getriebe, Ende Gelände und Extinction Rebellion. Ab 12:30 Uhr hatten sich Personen an der Autobahnbrücke abgeseilt, der Verkehr wurde deswegen in beide Richtungen gestoppt. Auch an der Autobahn-Ausfahrt blockierten laut Polizeiangaben 17 Vertreter des neuen Ökoterrorismus die Zufahrt – indem sie sich mit Sekundenkleber am Asphalt festgeklebt hatten. Auch auf dem Werksgelände gab es Proteste.
Um diese neue Form des Extremismus zu begreifen, reicht es zu wissen, dass die Gruppen der Überzeugung sind, dass es nicht reiche, Verbrenner durch E-Autos zu ersetzen. Und: „Ziel unserer Sabotage sind die 3000 Pendler:innen gewesen, die in der Gigafactory arbeiten.“ Das Bekennerschreiben tauchte im Zusammenhang mit einem Kabelbrand in der Nähe des S-Bahnhofs Berlin-Wuhlheide auf.
Sollte dies stimmen, dann war man auch für den Zusammenbruch im Regional-, S-Bahn-, und Fernverkehr verantwortlich. „Kollektive Mobilität“ oder der berüchtigte „Ausbau des ÖPNV“, wie sie von den Gruppen als Lösungsvorschläge vorgeschoben werden, sind dann nur bedeutungsloses Geschwätz. Man will konstruktiv erscheinen, aber in letzter Instanz geht es um Störung der Störung wegen. Es ist zu hoffen, dass dahinter tatsächlich zynisches Spiel steht. Die Alternative bedeutete, dass die Verhaftung im Wahn eine größere Rolle als der Zweck spielt.
Die Bundesregierung hat solche Taten bisher verurteilt, wenn auch nur zahm. Wir werden uns also wie bei allen anderen Formen der Einschränkung unseres Alltags auch an diese Form des Extremismus gewöhnen dürfen, ohne dass „Aktionspläne“ ausgearbeitet werden. Vermutlich ist auch das ein Teil der „großen Transformation“, dass der Umgang mit Öko-Sabotagen zu unserem Alltag wird – und vielleicht freut sich der eine oder andere sogar darauf.