Russland-Sanktionen: Das Resultat wird am Ende ein anderes sein, als vom Westen beabsichtigt.
von Dagmar Henn
Manchmal hat man den Eindruck, die ganze Sanktionsgeschichte wird enden wie die von Goethes Zauberlehrling: Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los. Es ist seit dem Ende der Sowjetunion das erste Mal, dass ein auch für die industriellen Kernländer ökonomisch relevantes Land in einem solchen Ausmaß mit Sanktionen belegt wird, und es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass die Folgen weit über das hinausgehen werden, was die Erfinder sich gedacht haben.
Zu Zeiten, als der Westen wirtschaftlich noch so stark war, wie er sich immer noch einbildet zu sein, hätte das womöglich gut gehen können. Inzwischen sind aber zu viele Bereiche betroffen, in denen die Maßnahmen auf die Erfinder zurückfallen werden. Warum? Weil es wenig Auswirkungen auf den Welthandel hat, wenn bei einem Land wie Syrien Handelswege und Finanzverbindungen blockiert werden, weil es für besagte westliche Kernländer keine essenzielle Rolle spielt. Bei Russland ist das, wie das Beispiel Öl und Gas sehr schnell zeigt, ein ganz anderes Thema. Aber es gibt noch eine Ebene, die unabhängig von dem konkreten Ziel einer konkreten Sanktion ist. Das, was der Westen gerade durchexerziert, stellt die Möglichkeit eines globalen Handels an sich in Frage.
Nachdem russische Flugzeuge im westeuropäischen Luftraum nicht mehr fliegen dürfen und Russland, wie es die diplomatischen Gepflogenheiten vorsehen, dafür den Fluggesellschaften aus EU-Ländern das Überfliegen Russlands untersagt hat, hängen jetzt Dutzende Flugzeuge in Russland fest, die von russischen Fluggesellschaften in der EU geleast wurden. Die Leasingunternehmen müssen wegen der Sanktionen die Verträge mit den russischen Fluggesellschaften bis Ende März kündigen, auch wenn sie nicht wissen, wie sie das tun sollen, da eine solche Entwicklung in den Verträgen nicht vorgesehen ist. Die Leasingraten werden höchstwahrscheinlich nicht beglichen werden, wegen der SWIFT-Sanktionen, und wenn die Maschinen weiter betrieben werden, wird es mit der Wartung schwierig, weil auch die Lieferung von Ersatzteilen von Boeing oder Airbus unter die Sanktionen fällt.
Wenn die Verträge gekündigt sind, müssten die Flugzeuge normalerweise zurückgegeben werden. Aber wie? Als russische Flugzeuge dürfen sie in der EU nicht landen, aber als EU-Flugzeuge in Russland nicht starten … Die westlichen Chartergesellschaften werden also vermutlich dank der Sanktionen mit dem Ofenrohr ins Gebirge schauen und ihre Flieger abschreiben können, während die russischen Fluggesellschaften ihre Flugrouten so umstrukturieren, dass die betroffenen Flugzeuge keinesfalls in einem Land landen, in dem die Chartergesellschaften die Möglichkeit hätten, ihr verliehenes Eigentum zu beschlagnahmen.
Nun, es werden sich Lösungen für die Wartung finden, irgendwie. Es sind auch nicht alle Flugzeuge betroffen, die in Russland unterwegs sind; sechs von zehn der größten dort tätigen Leasinganbieter sind russisch, und nur einer davon, eine Tochtergesellschaft der Sberbank, hat noch ein ganz spezielles Problem – sie sitzt in Irland. Sie ist also gleich von beiden Seiten sanktioniert …
Praktischerweise hat Russland Ende des vergangenen Jahres den Beginn der Serienproduktion des ersten vollständig im eigenen Land hergestellten Passagierflugzeugs bekannt gegeben. Ungünstig für Airbus und Boeing, denen dieser Markt wohl dauerhaft verloren geht.
Wirklich heikel an der ganzen Sanktioniererei ist die Geschichte mit den Beschlagnahmungen. Die russische Fluggesellschaft Pobeda hat erklärt, sich gegen die Kündigungen rechtlich zur Wehr setzen zu wollen. Dabei geht es um drei Flugzeuge einer einzelnen Leasingfirma, Avolon, von denen eines in Istanbul steht. Was, wenn die Firma versucht, das Flugzeug in Istanbul zu beschlagnahmen, und Russland seinerseits entsprechend antwortet? Der gesamte Flugverkehr beruht auf dem rechtlichen Konstrukt, dass Flugzeuge extraterritorial sind, das heißt, ähnlich wie Schiffe oder Botschaften ein Stück eines Landes auf dem Gebiet eines anderen darstellen. Das macht sie weitgehend unantastbar. Diese Regel ermöglicht es, den Verkehr weitgehend aufrechtzuerhalten, auch wenn das Land, aus dem das Flugzeug kommt, und dasjenige, in dem das Flugzeug landet, einander gerade nicht grün sind.
Russland liegt (oder lag) allerdings nicht irgendwo abseits der wichtigen globalen Flugrouten. Im Gegenteil, die russischen Flughäfen waren gerade dabei, sich zu zentralen Drehkreuzen zu entwickeln, nach dem Modell von Dubai unter Ausnutzung der günstigen Treibstoffpreise. Das ändert sich jetzt vielleicht für die Länder des Westens, deren Flieger jetzt Richtung Asien gigantische Umwege in Kauf nehmen müssen, aber nicht für den Rest der Welt. Was passiert aber, wenn an einem solchen zentralen Punkt die grundlegenden Regeln außer Kraft gesetzt werden? Sie erodieren überall.
Die Vereinigten Staaten haben dazu einen gehörigen Teil beigetragen. Man denke nur an die Beschlagnahmung venezolanischer Flugzeuge oder des afghanischen Auslandsvermögens. Nur diesmal geht es um ein Gegenüber, das gleichziehen kann. Der britische Ölkonzern BP hat den Braten schon gerochen und sich schnell von seiner Beteiligung bei Gazprom getrennt. Aber es bleibt dabei: Diese Sanktionen gegen Russland gefährden den Welthandel, weil sie die Spielregeln außer Kraft setzen, die ihn ermöglichen.
Ein schönes Beispiel dafür lieferten die Briten mit ihrem Verbot, britische Häfen anzufahren. Weil sie gründlich sind, haben sie gleich jede Variante sanktioniert, in der irgendein Schiff irgendetwas mit Russland zu tun haben kann. Es betrifft Schiffe, die russische Eigner haben, Schiffe, die unter russischer Flagge fahren, die von Russen gechartert sind oder die russische Güter transportieren …
Nun, das wird die USA freuen, die eigentlich geplant hatten, zwar die Europäer von russischem Erdgas abzuschneiden, aber gern weiter russisches Öl importieren würden, das immerhin 30 Prozent ihres Bedarfs deckt. Damit wird es wohl nichts werden. Inzwischen haben sechs der zehn größten globalen Reeder, MSC, Maersk, CMA CGM, Yang Ming, ONE und Hapag-Lloyd, erklärt, sie würden keine russischen Güter mehr transportieren. Warum? Die Fachzeitschrift American Shipper erklärt das so: “Die Chefs der Reedereien verweigern Schiffe oder Transporte nicht auf Grundlage dessen, was klar sanktionierbar ist. Sie tun es auf Grundlage dessen, was jetzt oder später sanktioniert werden könnte. Sanktionen sind zwar in präziser Sprache geschrieben, aber in der Praxis sind sie chaotisch.” Die (überwiegend griechischen) Tankerreedereien reagieren genauso.
Bei einem Vortrag auf einem Treffen der BIMCO (Baltic and International Maritime Council, größte Vereinigung der Handelsschifffahrt) erklärte das ein Anwalt: “Man muss nicht nur sichergehen, dass die Verschiffung rechtlich erlaubt ist; man muss außerdem sicherstellen, dass jede andere Partei der Transaktion das ebenfalls denkt: die Banken, Versicherer, Schiffer, Empfänger, Reeder, Eigner etc. Andernfalls wird man nicht bezahlt, kann die Lieferung nicht abschließen oder verliert die Versicherung.”
Die Finanzkreisläufe rund um die Handelsschifffahrt sind vergleichsweise langsam, weil sie immer noch auf Wechseln beruhen, die bei Erteilung des Auftrags ausgestellt, aber erst nach Erfüllung gezogen werden. Dazwischen können Wochen liegen. Dieser Zeitraum macht den Ablauf so empfindlich für alle möglichen Risiken. “Was passiert, wenn die Partei, mit der man gerade einen Chartervertrag unterzeichnet hat, oder für die man Fracht befördert, morgen sanktioniert wird, oder in der nächsten Stunde, oder den nächsten 20 Minuten?”
Die Konsequenz daraus lautet: Es gibt keine Tanker, die das von den USA gewünschte Öl von Russland dorthin transportieren, weil das Risiko als zu hoch eingeschätzt wird, auch wenn der Energiesektor von den Sanktionen explizit ausgenommen wurde. Die einzigen Tanker, die die Lieferungen durchführen könnten, wären russische (die USA besitzen keine Tanker); aber deren Risiko ist im Grunde das höchste, denn dann könnten die Schiffe selbst beschlagnahmt werden. Kaum anzunehmen, dass ausgerechnet die Russen dem “Reich der Lügen” solch blindes Vertrauen entgegenbringen.
Allein, dass Großbritannien seine Häfen sperrt (und Frankreich eine Jacht beschlagnahmt), hat Konsequenzen, die weit über das hinausgehen, worauf eigentlich abgezielt wurde. Wenn man sich jetzt vorstellt, dass Ähnliches mit China passieren könnte, und sei es über Sekundärsanktionen, weil sie ihren Handel mit Russland normal fortsetzen, dann gerät man sehr schnell an den Punkt, an dem der globale Handel zum Stillstand kommt.
Augenblicklich sind erst einmal die Kosten für Tanker auf den Routen aus Russland gestiegen, für Aframax von 5.000 Dollar täglich auf 130.000 Dollar täglich. Dieser Preisanstieg setzt sich auch auf Strecken fort, die mit Russland gar nichts zu tun haben. Was den Ölproduzenten egal ist, die bei den momentanen Preisen ohnehin ihren Schnitt machen, gleich, ob in Russland oder dem Nahen Osten, aber für die Kunden – ja, in den westlichen Kernländern – die Energiepreise weiter in die Höhe treibt.
Oder wie es ein Analytiker der Anlageberater von Evercore ISI formulierte: “Man kann nicht wirklich Lagerbestände haben, die für so wenige Tage reichen, einen geopolitischen Konflikt, bei dem einer der größten Ölproduzenten der Welt beteiligt ist, und glauben, dass das keine ernsten Auswirkungen auf die Rohstoffpreise und den Frachtmarkt haben wird.”
Um das ganze Schlamassel wirklich genießen zu können, muss man nur noch wissen, dass in der Geschichte der industriellen Produktion die Auswirkung der Rohstoffpreise immer weiter gestiegen ist, während der Anteil der Arbeitskosten immer weiter abnahm, sodass genau diese steigenden Rohstoffpreise der Punkt sind, an dem Produktion am schnellsten unrentabel wird. Russland zu sanktionieren beeinflusst aber nicht nur die Preise von Erdgas und Erdöl, sondern auch von Kobalt, Uran und einigen anderen Rohstoffen. Während das fiktive Kapital, das uns die Krise von 2008 bescherte, immer noch nicht beseitigt ist, zieht der Westen jetzt mit seinen Sanktionen dem globalen Handel und seiner eigenen industriellen Produktion den Stecker. Die paar Flugzeuge, die in Russland hängen geblieben sind, dürften sich letztlich als das geringere Problem erweisen.