Taugt der Autonomiestatus Südtirols als Vorbild für die abtrünnigen Gebiete im Osten der Ukraine? Was nun sowohl von Moskauer als auch Bozener Vertretern angepriesen wird, erscheint aus mehreren Gründen fragwürdig. Umfangreiche Informationen bietet unser Dossier zum Ukraine-Konflikt in der Februar-Ausgabe von COMPACT. Hier mehr erfahren.
In dem seit 2014 schwelenden Konflikt zwischen der Ukraine und Russland über das Donbass-Gebiet in der Ost-Ukraine hat ein Moskauer Diplomat unlängst einen Sonderstatus für die dort dominanten ethnischen Russen ins Spiel gebracht. Aleksandr Aleksejewitsch Аwdejew, der russische Botschafter beim Heiligen Stuhl, erklärte in einem Interview mit der Zeitung Il Messaggero, man könne sich „am Umgang Italiens mit Südtirol orientieren“.
Russlands Vatikan-Botschafter Aleksandr A. Аwdejew. Foto: Russische Botschaft, CC BY-SA 4.0, Wikimedia Commons
In Italien habe es „in den 1950er Jahren große Spannungen im Norden gegeben, wo die deutsche Minderheit eine vollständige kulturelle Autonomie forderte“, so Аwdejew. Rom habe „eine faire und ausgewogene Kompromisslösung gefunden, und diese Erfahrung könnte auch für Kiew bei der Lösung der Probleme im Donbass nützlich sein“.
Dass der Hinweis die „kulturelle Autonomie“ Südtirols just von Abdejew kommt, hat zum einen mit seiner Herkunft aus Krementschug am Dnjepr im zentralukrainischen Verwaltungsbezirk Poltawa, zum andern mit seiner früheren Funktion als Kulturminister der Russischen Föderation zu tun.
Vor allem aber ist er Teil einer gezielten Strategie: Moskau versucht, das überaus zugängliche Italien nicht zum ersten Mal für seine Ziele zu gewinnen. Rom hatte sich nämlich nicht nur bald nach Verhängung der gegen Russland wegen der Krim-Frage verhängten Sanktionen unter Berufung auf das traditionell freundschaftliche italienisch-russische Verhältnis davon losgesagt.
Kurzzeit-Regierungschef Matteo Renzi und dessen Außenminister Paolo Gentiloni, der ihm dann nachfolgte (und heute der EU-Kommission angehört), hatten anlässlich von Besuchen in Moskau im Gefolge der ostukrainischen Wirren, bei denen dann die separatistischen „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk ausgerufen worden waren, überdies als „italienischen Modellfall“ auch die „Lösung des Südtirol-Konflikts“ zur allfälligen „Befriedung“ angepriesen. Daher galt Abdejews Vorstoß zugleich dem Bemühen, dass Rom die EU zu einem Ukraine-Kurswechsel veranlassen möge.
Dass der aus der Ukraine stammende russische Diplomat beschönigend von einer „fairen und ausgewogenen Kompromisslösung“ sprach, die Italien in Bezug auf Südtirol gefunden habe, mag man dessen in dieser speziellen Frage wenig ausgeprägten historisch-politischen Kenntnis zuschreiben. Dass aber ausgerechnet der langjährige frühere Südtiroler Landeshauptmann Luis Dumwalder „diesen Oberlegungen nur beipflichten“ kann, wie die in Bozen erscheinende Tageszeitung Dolomiten in ihrer Ausgabe vom 30. Dezember 2021 vermeldete, erstaunt dagegen umso mehr.
Karte mit den abtrünnigen Gebieten im Osten der Ukraine. Foto: Archiv des Autors
Gerade Durnwalder weiß als Angehöriger der Erlebnisgeneration, dass Italien in der Südtirol-Frage von 1945 bis zur sogenannten Paket-Lösung 1969 respektive bis zum Autonomiestatut von 1972 alles andere als „nach einer fairen und ausgewogenen Kompromisslösung“ gesucht hatte.
Zudem weiß er, welchen Beharrungsvermögens seines Vorgängers Silvius Magnago es bedurfte – mit maßgeblicher Unterstützung Österreichs, insbesondere durch Bruno Kreiskys Vorstoß bei den Vereinten Nationen – sowie nicht zuletzt auch der von Verzweiflung ob der in ihrer Heimat obwaltenden italienischen Zwangsherrschaft bewirkten Aktionen selbstloser BAS-Freiheitskämpfer, dass Rom überhaupt von seiner Unnachgiebigkeit und Italianità-Sturheit abließ.
Und schließlich hat er – als Nachfolger Magnagos als Landeshauptmann – selbst genügend Erfahrung im Umgang mit trickreichen bis hinterlistigen römischen Regierungen, mit Institutionen der italienischen Zentralstaatsgewalt sowie auch und vor allem mit deren stets die „eine, ungeteilte Nation“ sowie die gesamtstaatliche „Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis“ verabsolutierenden Justizinstanzen gesammelt, um derart gefälligen, aber zutiefst geschichtswidrigen Beschönigungen entgegenzutreten, statt sie quasi öffentlich zu goutieren.
Wie steht es denn, realistisch betrachtet, um die Südtirol-Autonomie? Quer durch alle italienischen Parlamentsparteien gibt es einen Konsens für mehr Zentralismus. Dagegen kann Südtirol nichts ausrichten: es ist „zu klein und zu irrelevant“, so der Befund des früheren Senators Francesco Palermo, der seinen Senatssitz dem damaligen Zusammenwirken von Südtiroler Volkspartei (SVP) und Partito Democratico (PD) im Wahlkreis Südtiroler Unterland verdankte.
Überall dort, wo es trotz Autonomiebestimmungen rechtliche Interpretationsspielräume gibt oder eine Frage vor dem Verfassungsgerichtshof ausgefochten werden muss, machen sich die zentralistische Staatsordnung und der Primat des nationalen Interesses bemerkbar.
Von Anfang an, das heißt seit 1945, war die staatliche italienische Gesamtordnung zentralistisch, und selbst mit der auf mehr Föderalismus zielenden Verfassungsreform von 2001 war es damit in jener vom ehemaligen Regierungschef Matteo Renzi 2014 ins Werk gesetzten vorbei, sodass der Zentralstaat die Autonomie Südtirols trotz jener von der SVP beschworenen Schutzklausel weiter aushöhlte und den Bozner Handlungsspielraum erheblich einengte.
Eine dynamische Entwicklung im Sinne jenes ausgeprägten Autonomieanspruchs wie ihn die SVP seit der Streitbeilegungserklärung gegenüber den UN 1992 vorgab und als Ziel die „Vollautonomie“ propagierte, wurde damit unterbunden; stattdessen öffnete sich nach und nach die Schere zwischen römischem Zentralismus und der Selbstverwaltung der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol und feierte während der mit Notverordnungen operierenden Regierungszeit des Mario Monti fröhliche Urständ.
Los von Rom: Demonstration für die Unabhängigkeit Südtirols. Foto: Südtiroler Schützenbund
Selbstverständlich ist es einem verdienstvollen Mann wie Durnwalder unbenommen, das „Südtiroler Modell, so wie ich das sehe“ in Übertragung auf „die beiden Teilrepubliken“ in der Ost-Ukraine für „eine gute und außerdem realistische Lösung“ zu halten, „die übrigens auch in Moskau Akzeptanz finden dürfte“, wie ihn die Dolomiten zitierten.
Zu widersprechen ist ihm jedoch hinsichtlich der von ihm verwendeten Begrifflichkeit: Es handelt sich nämlich nicht um „Teilrepubliken“, vorerst auch nicht nach dem Verständnis derer, die die „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk ausriefen, denn sie sahen und sehen sich nicht als territoriale Glieder der Russischen Föderation, sondern als eigenstaatliche Entitäten mit entsprechenden Institutionen (Regierungen, Parlamenten, Justizeinrichtungen, Militärverbänden etc.), die allerdings nur von Moskau anerkannt sind.
Grundsätzlichen Widerspruch verdient indes Durnwalders ebenfalls von den Dolomiten zitierte Aussage, wonach „die Lage der russischen Minderheit in der Ost-Ukraine durchaus mit jener der deutschsprachigen Bevölkerung Südtirols nach Kriegsende vergleichbar“ sei. Dies selbst nur mit dem beliebten Äpfel-mit-Birnen-Vergleich zu konterkarieren, wäre ungenügend, weil das eine mit dem anderen wenig bis nichts zu tun hat.
Lesen Sie morgen den zweiten Teil dieses Beitrags.