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9. November 1989: Wie ein Blutbad verhindert wurde

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Autor: Martin Müller-Mertens
Quelle: https://www.compact-online.de/...
2021-11-09, Ansichten 703
9. November 1989: Wie ein Blutbad verhindert wurde

Heute vor 32 Jahren: Während die DDR-Bürger über die Grenzübergänge nach West-Berlin strömen, planen Panzerkommunisten die Niederschlagung der Wende. Sie scheitern an ihren eigenen Soldaten, die längst auf der Seite des Volkes stehen. In COMPACT-Geschichte Schicksalstage der Deutschen: Von Karl dem Großen bis zum Fall der Mauer lesen Sie alles über die größten Triumphe und die schwersten Stunden unseres Volkes. Hier mehr erfahren.

Niemand weiß, wann genau die Mauer fiel. Vielleicht war es Harald Jäger, der als Oberstleutnant der Passkontrolleinheiten um 23:29 Uhr an der Bornholmer Straße den ersten Übergang öffnete. Vielleicht ließ der Grenztruppenoffizier Heinz Schäfer schon zweieinhalb Stunden zuvor an der Waltersdorfer Chaussee den ersten Schlagbaum hochziehen. «Ich hatte die Pressekonferenz von Schabowski im Fernsehen verfolgt und danach mit meinem Regimentskommandeur telefoniert», behauptete er zehn Jahre später.

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Verkündete die Grenzöffnung «ab sofort»: Günter Schabowski. Foto: picture alliance / dpa

Tatsächlich hatte Günter Schabowski, im Zentralkomitee (ZK) zuständig für die Medienarbeit, um 18:58 Uhr auf einer Pressekonferenz die Grenzöffnung «ab sofort» verkündet – und damit den Ansturm auf die Übergänge ausgelöst.

Dieser hätte leicht in einem Blutbad enden können, denn der Schießbefehl für die Schutzeinheiten war noch nicht aufgehoben worden. Wer, außer Schabowski, war für dieses Chaos verantwortlich? Oder wurde genau dieses Chaos von einer kommunistischen Betonfraktion gebraucht, als Anlass zur militärischen Niederschlagung der friedlichen Revolution?
Moskau schweigt

Erich Honecker musste auf Beschluss des ZK am 18. Oktober zurücktreten. Doch das beendete die Unruhe in der Bevölkerung nicht. Am 7. November trägt Außenminister Oskar Fischer Sowjetbotschafter Wjatscheslaw Kotschemassow einen delikaten Wunsch vor: Die DDR will ihre Grenzen öffnen – jedoch nur für jene, die dem Staat für immer den Rücken kehren.

In Moskau reagiert Außenminister Eduard Schewardnadse prompt: «Wenn die deutschen Freunde eine solche Lösung für möglich halten, werden wir wahrscheinlich keine Einwände anmelden.» Doch Generalsekretär Michael Gorbatschow schweigt. Will der Kreml-Chef nicht in den Dunstkreis eines Manövers gezogen werden, das blutig enden könnte? Erst am Mittag des nächstes Tages gibt Vize-Außenminister Iwan Aboimow grünes Licht – ein klarer Fall von Kompetenzüberschreitung.

«Nach meiner Kenntnis – ist das sofort, unverzüglich…» Günter Schabowski

Während der Große Bruder die deutschen Kommunisten warten lässt, verfassen vier Obristen von Innenministerium und Staatssicherheit den Text einer Regierungsverordnung. Den Auftrag erteilt Innenminister Friedrich Dickel, ein überzeugter Gegner von jedem politischen Nachgeben.

Anscheinend eigenmächtig erweitert ausgerechnet dieses Hardliner-Quartett den ursprünglichen Verordnungstext, der nur die Aussiedlung aus der DDR erleichtert hätte, um die Erlaubnis von «Privatreisen nach dem Ausland». Diese könnten künftig «ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. (…) Versagungsgründe werden nur in besonderen Ausnahmefällen angewandt. Die zuständigen Abteilungen Pass- und Meldewesen der VPKA sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen.»

Auch diese Regierungsverordnung hätte keineswegs zum Mauerfall geführt – sondern lediglich eine weitgehende Liberalisierung des bisherigen Grenzregimes bedeutet. Wer – für immer oder nur für kurze Zeit – ausreisen wollte, musste weiterhin einen Antrag stellen – dieser sollte aber, im Unterschied zu bisher, zügig bewilligt werden. Vielleicht gibt es deshalb keine Diskussion, als der neue SED-Generalsekretär Egon Krenz die Vorlage am 9. November gegen 16:00 Uhr dem in Permanenz tagenden ZK vorlegt.

Ursprünglich sollte der Beschluss in der folgenden Nacht um 4:00 Uhr im Rundfunk verlesen werden. Bis dahin wären sowohl Volkspolizei als auch die Besatzungen der Grenzübergänge informiert gewesen, dass Ausreisende passieren können, sofern sie das entsprechende Genehmigungsformular vorzeigen können. Plötzlich entscheidet Krenz jedoch, den als Regierungssprecher fungierenden Schabowski mit der Nachricht in die turnusmäßig für 18:00 Uhr anberaumte Pressekonferenz zu schicken.

Schabowski und der Zettel

Um 18:53 Uhr nimmt die Lawine ihren Lauf. Im internationalen Pressezentrum an der Mohrenstraße meldet sich der DDR-Korrespondent der italienischen Nachrichtenagentur ANSA, Riccardo Ehrman, zu Wort, um, wie er später sagte, gemeinsam mit Schabowski «der Weltgeschichte das Stichwort» zu geben. Nun nuschelt der ZK-Sekretär für Informationen unsicher die von Krenz auf einen Zettel geschmierte Reiseregelung in die Mikrofone.

Die Frage des Bild-Reporters Peter Brinkmann nach dem Inkrafttreten beantwortet Schabowski sichtlich irritiert mit: «Nach meiner Kenntnis – ist das sofort, unverzüglich…» Dabei hätte er die auf dem Zettel vermerkte Formulierung «ab sofort» in «ab morgen früh» ändern sollen. «Niemand im ZK konnte ahnen, dass sie dies unterließen», so Krenz später.

«Keiner von uns hat an die Sperrfrist gedacht.» Wolfgang Herger

Augenblicke später eilen die ersten Reporter zu den Telefonen, das DDR-Fernsehen überträgt live. Reuters meldet um 19:04 Uhr, ADN und DPA eine Minute später. Associated Press  und westdeutsche Fernsehsender verwenden schon kurze Zeit das magische Wort vom «Mauerfall». Nun strömen Zehntausende zu den Grenzübergängen Berlins.

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Die DDR-Hauptnachrichtensendung «Aktuelle Kamera» informierte bereits um 19:30 Uhr über die Öffnung der Mauer. Foto: picture alliance / zb

Hat Schabowski eigenmächtig die vom ZK geplante Reiseverordnung, die der DDR die Kontrolle über ihre Grenzen belassen hätte, sabotiert? Hat er das Inkrafttreten wissentlich auf den Abend vorverlegt und damit ein Chaos provozieren wollen?

Der damalige ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen, Wolfgang Herger, widerspricht dieser Interpretation. «Keiner von uns hat an die Sperrfrist gedacht». Auch Krenz ist überzeugt von einen «Irrtum», den er seinem einstigen Genossen nicht vorwerfen will.

Wie auch immer: Schabowski spielte an diesem Tag anderen Akteuren in die Hände, von denen noch die Rede sein wird. Als gegen 20:00 Uhr die ersten Meldungen von belagerten Grenzübergängen bei Krenz eintreffen, scheint der Generalsekretär keineswegs beunruhigt. «Wir werden wegen ein paar Stunden (…) nicht eine Konfrontation mit der Bevölkerung riskieren. Also, hoch mit den Schlagbäumen», will er in einem Telefonat mit Stasi-Chef Erich Mielke entschieden haben.

«Hast recht, mein Jung», soll ihn der Betonkommunist zum Stillhalten beglückwünscht haben. Dass Mielke den Zusammenbruch des Systems quasi zustimmend kommentiert haben sollte, ist jedoch unwahrscheinlich. Wusste der zu diesem Zeitpunkt noch allmächtige Minister für Staatssicherheit, dass ein Chaos auf den Straßen Berlins ihm und anderen den Hardlinern einen Vorwand zum Putsch liefern würde?

«Die Armee des Volkes hätte sich nie gegen das Volk gestellt.» Hans-Werner Deim

Bei einer Grenzöffnung am 10. November wären – so Krenz – «die vorbereiteten Befehle vor Ort gewesen», also die Regierungsverordnungen über die erleichterten Reiseregelungen. Am Vorabend jedoch stehen die auf Verhinderung von Grenzübertritten gedrillten Soldaten ohne jegliche Informationen einer immer größer werdenden Menschenmenge gegenüber.

Eine Ausnahmesituation, die zu Kurzschlussreaktionen führen könnte! Dabei hätten die Befehle längst bei der Truppe sein können. Herger bestätigte, dass die vorbereiteten Weisungen durch das sogenannte Diensthabende System von Innenministerium und Volkspolizei verbreitet werden sollten. Dessen Leiter an jenem Abend, Generaloberst Kurt Wagner, ist überzeugt: «Es hätte nur eines Anrufes des Ministers bedurft. Dann wäre das automatisch angerollt.»

Verschwörung in Strausberg

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Chaotisch – mit diesem Sprechzettel wurde Schabowski von Krenz zur entscheidenden Pressekonferenz am 9. November geschickt. Foto: Stiftung Haus der Geschichte; EB-Nr. 2015/01/0001.1, Axel Thünker

Doch ein solcher Anruf Friedrich Dickels bleibt aus, der Schießbefehl wird nicht aufgehoben. Weshalb, ist bis heute unklar. Sein Stellvertreter Dieter Winderlich erinnert sich jedenfalls, dass der Minister bereits Mitte 1989 mit Mielke über die nahende «Gefahr für den Sozialismus» konspirierte und gegenüber seinem sowjetischen Amtskollegen Wadim Bakatin die Mauer vehement verteidigte.

Während Dickel schweigt, befindet sich Verteidigungsminister Heinz Keßler auf einer 40-minütigen Autofahrt zu seinem Dienstsitz im Berliner Vorort Strausberg – für Krenz ist er nicht erreichbar. Auch Mielke ist in sein Ministerium geeilt. Wittern die Falken in Politbüro und den bewaffneten Organen die Gelegenheit für eine militärische Niederschlagung der Wende?

Immerhin hat sich Honecker-Intimus Keßler nicht ohne Grund in die Machtzentrale der NVA begeben. Zu nächtlicher Stunde warten dort die 15 höchsten Generäle auf eine Entscheidung. Der Chef des Stabes der Landstreitkräfte, Horst Skerra, soll geweint haben. Im parallel tagenden Nationalen Verteidigungsrat gerät am nächsten Morgen offenbar auch Krenz unter massiven Druck der Generalität.

Anwesend sind Keßlers Stabschef Fritz Streletz, Mielkes rechte Hand und Stellvertreter Gerhard Neiber und der Chef der Grenztruppen Klaus-Dieter Baumgarten. Um 13:00 Uhr lässt der als wenig durchsetzungsfähig geltende SED-Chef schließlich für den Straßenkampf trainierte Eliteeinheiten in erhöhte Gefechtsbereitschaft versetzen. Streletz eilt aus dem Raum, um die Anweisung zu übermitteln.

Der General hat die Existenz eines solchen Befehls stets geleugnet. Soldaten gegen das Volk einzusetzen, «widersprach allen Werten der Nationalen Volksarmee für die sie in ihrer 40-jährigen Geschichte stand», behauptete Streletz 2014. Doch im Operativ-Handbuch beim Kommando der Landstreitkräfte ist die Anweisung schwarz auf weiß verzeichnet.

Nun läuft der Putsch an, wie ein Uhrwerk. Die von Wehrpflichtigen dominierten regulären NVA-Einheiten wie auch die als Bereitschaftspolizei getarnten Truppen des Innenministeriums kommen offenbar nicht infrage. «Die Stimmungen und Forderungen der Angehörigen der Nationalen Volksarmee im Herbst 1989 unterschieden sich nur unwesentlich von denen der Bürger der DDR», beschrieb Marinechef Theodor Hoffmann später die Stimmung jener Tage. Meutereien wären also nicht ausgeschlossen gewesen.

Doch die Verschwörer haben noch ein paar Asse im Ärmel. In Potsdam wird die elitäre 1. motorisierte Schützendivision aufmunitioniert – eine «Division mit hohem Gefechtswert, immer straff geführt», schwelgt noch Jahre später ihr Kommandant Oberst Peter Priemer. «Es wurde uns nur befohlen, alle 20 Minuten die Dieselmotoren der Lkw vorzuwärmen», erinnert sich ein damaliger Soldat.

Offenbar rechneten die Kommandeure nicht mit einem kurzen Einsatz. Der Rekrut Hanns-Christian Catenhusen erinnerte sich 1995: Er und seine Kameraden sollten am 11. November im «Schnelldurchgang» an Maschinenpistolen und Geschützen ausgebildet werden.

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NVA-Grenzsoldaten im Einsatz. Doch im Herbst 1989 ließen sie sich nicht mehr gegen das Volk instrumentalisieren. Foto: picture alliance / zb

Der gerade zurückgetretene Ministerpräsident Willi Stoph, der als Armeegeneral a. D. über Autorität in der Truppe verfügte, kann noch erreichen, dass statt Panzern lediglich Schützenpanzerwagen durch die mit Feiernden verstopften Straßen Berlins rollen sollen. 10.000 Mann warten auf die Sirenen, die ihnen den Marschbefehl erteilen.

Gewehr bei Fuß steht auch das Luftsturmregiment 40. Major Norbert Seiffert schaut auf 300 handverlesene Einzelkämpfer und ist sicher: Sie hätten jeden Befehl ausgeführt, «bedingungslos». Ihr Auftrag an diesem Tag: «Verteidigung der souveränen Grenzen der souveränen DDR».

Dabei halten sowohl Priemer als auch Seiffert die Befehle für falsch. Und auch unter den Soldaten wachsen Zweifel. «Zum Glück breitete sich schnell der Entschluss aus, im Ernstfall den Schießbefehl zu verweigern», meinte jedenfalls Catenhusen.

Am Ende bleiben alle bewaffneten Organe in ihren Kasernen. Hochrangige NVA-Offiziere fürchten die Folgen bereits bloßer Truppenbewegungen im Raum Berlin und verweigern den Gehorsam gegenüber den Putschgenerälen. Sogar der Chef der Landstreitkräfte Horst Stechbarth winkt ab. Die Grenzregimenter 42 und 44 bleiben passiv.

«Die Armee des Volkes hätte sich übrigens nie gegen das Volk gestellt», glaubt rückblickend der Chef der Verwaltung Gefechtsbereitschaft Hans-Werner Deim. Auch die Kampfgruppen der Arbeiterklasse – eine paramilitärische Miliz zur Niederschlagung innerer Unruhen – sollen einen Einsatz schlicht abgelehnt haben.

Am 11. November beschwört Keßler auf einer Sitzung der SED-Betriebsgruppe des Verteidigungsministeriums, nun endlich «jeden Befehl der Arbeiter-und-Bauern-Macht ehrenvoll zu erfüllen». Doch es ist zu spät. Auf der, so Hoffmann, «dramatischen Tagung» gerät der Minister in die Defensive. Nach dem abrupten Abbruch der Konferenz beendet Streletz hektisch die erhöhte Gefechtsbereitschaft.

Der Chef der politischen Hauptverwaltung der NVA, Horst Brünner, verkündet im Rundfunk, «militärisches Leben vollzieht sich nach dem normalen Regime». Auch Dickel war mittlerweile vor die Kameras getreten. Die Regierung der DDR «steht zu ihrem Wort» betont der Innenminister. Die «lieben Bürgerinnen und Bürger» müssten «keine übereilten Entschlüsse treffen».

Wünsdorf hält still

Ohnedies hätten die Hardliner die Macht nicht ohne Rückendeckung der sowjetischen Streitkräfte an sich reißen können. Das Gros der rund 350.000 Rotarmisten ist im Raum Berlin stationiert – und die Führung im Hauptquartier Wünsdorf betrachtet die Ereignisse mit Argwohn. So werden in der Nacht des Mauerfalls die Soldaten in erhöhte, die Kommandoebene sogar in volle Gefechtsbereitschaft versetzt – was praktisch eine Mobilmachung bedeutet. Doch Moskau will die eigenen Truppen aus den Ereignissen heraushalten.

Kotschemassow lässt sich mit dem Oberkommandierenden in Wünsdorf, General Boris Snetkow, verbinden und empfiehlt ihm, «zu erstarren und in sich zu gehen», erinnerte sich der Gesandte Igor Maximytschew wenige Jahre später. Snetkow wird im Dezember 1990 abgelöst, weil er den Abzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland verweigerte.

Das deutet darauf hin, dass er am 9. November der geeignete Partner für Keßlers Putschpläne gewesen wäre… Doch Moskau entscheidet anders: Schewardnadse lobt vor der Presse die Grenzöffnung als «richtige, kluge und weise Entscheidung» – verbunden mit einer kaum verklausulierten Warnung vor einem militärischen Rollback.

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