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In Kaliningrad auf den Spuren Immanuel Kants – Ein philosophischer Reisebericht

swaine1988
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Autor: Gert Ewen-Ungar
Quelle: http://logon-echon.com/2016/06...
2016-06-12, Ansichten 1192
In Kaliningrad auf den Spuren Immanuel Kants – Ein philosophischer Reisebericht

In Kaliningrad auf den Spuren Immanuel Kants – Ein philosophischer Reisebericht

Nach der Krim besuchte der Blogger Gert Ewen-Ungar auch die zwischen Polen und Litauen gelegene russische Exklave Kaliningrad. Auf den Spuren von Immanuel Kant wandelnd, inspirierte die Reise unseren Gastautoren auch dazu, über das nachzudenken, was sonst oft nur als „westliche Werte“ beschrieben wird. Der Geist der Aufklärung ist auch heute noch nötig.

Ein Gastbeitrag von Gert Ewen-Ungar

Als Facebook mir die Anzeige vor die Augen hielt, war mir nicht nur klar, dass ich unbedingt mal nach Kaliningrad reisen musste, ich hatte plötzlich auch ein Reisedatum. Am 7. Mai würden sich einige Vertreter meiner Target- und Peergroup dort treffen und sich selbst ein bisschen feiern. Ich würde das zum Anlass nehmen, mir einen lang gehegten Wunsch zu erfüllen und die Stadt zu besuchen, in der Immanuel Kant gelebt hat.

Kant, die Aufklärung und der Deutsche Idealismus markieren für mich einen Höhepunkt der europäischen Geistesgeschichte. Diese Namen stehen für Ideen, die ich europäische oder westliche Werte zu nennen bereit wäre.

In den letzten Jahren wird in Deutschland eine vehemente Diskussion darüber geführt, ob der Islam zu unserer Kultur gehört, oder ob sie nicht doch auf das Jüdisch-Christliche zu reduzieren wäre. Diese Diskussion ist, mit Verlaub, so dämlich, dass ich mich wundere, warum keiner der medial verwurzelten Starphilosophen darüber öffentlich in Lachen ausbricht.  

Allerdings zeigt diese Irrlichterei auch, wie sehr wir uns inzwischen von uns selbst entfernt haben. Schon eine kleine Überlegung zeigt evident, wie falsch diese Diskussion ist, denn sowohl jüdische als auch christliche Kultur ist überall auf der Welt verbreitet, ohne dass sie überall die gleichen, ich nenne sie hier vorläufig mal westliche Werte, hervorgebracht hätte. Es muss also was anderes sein, was hier wirksam war. 

Das, was sich unterscheidet, ist das Moment der philosophischen Aufklärung, aus der heraus sich eine Ethik entwickelt hat, die weder dem Christentum noch dem Judentum automatisch eingeschrieben ist. Aufklärung und ein universal gültiges ethisches System muss gegen den Widerstand der Religionen hergestellt werden. Dass die großen europäischen Aufklärer von Geburt aus Christen und Juden waren, hat aber nichts mit einer von gegenwärtigen Populisten suggerierten genetischen Unfähigkeit der Muslime zum Intellekt zu tun. Es hat viel mehr damit zu tun, dass es zum gegebenen Zeitpunkt auf dem Gebiet der heutigen Europäischen Union aus geopolitischen Gründen kaum Denker mit islamischen Wurzeln gab.

Die Philosophie Kants ist mir persönlich tatsächlich ein wesentlich deutlicherer Wegweiser als Neues und Altes Testament aber auch als der Koran. Die abrahamistischen Religionen vermögen aufgrund ihrer normativen Setzungen im Hinblick auf die ethische Befriedung der Welt mit der Großartigkeit des Kategorischen Imperativs nicht mitzuhalten. Mit Religion schaffen wir keinen Frieden, mit Vernunft schon.

Von den Weltreligionen hat einzig der Buddhismus mit dem achtfachen Pfad ein ähnlich tiefes und dynamisches ethisches System hervorgebracht, wie wir es in der Ethik der Moderne finden, wobei zu fragen wäre, ob es sich beim Buddhismus tatsächlich um eine Religion und nicht vielmehr um eine Lebenspraxis handelt.

Es ist evident, dass der Glaube, religio, das starre Für-wahr-Halten von etwas, der eigentliche Kern ist, an dem sich Aggression anlagern kann. Es ist gleichsam der Rezeptor auf der Synapse für Brutalität.

Jetzt war ich in der Stadt Kants, in der sich russische, preußische, sowjetische Einflüsse architektonisch und kulturell mischen. Meine vormaligen Kant-Lektüren rückten näher an mich heran. Wie hatte ich mich schon intensiv gestritten über “Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten”, in der Kant seine Ethik begründet und seinen Imperativ herleitet. Der Kategorische Imperativ lautet in seiner allgemeinen Fassung, “Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie allgemeines Gesetz werde.” Ich kenne kein höheres, umfassenderes ethisches Prinzip.

Ich meine es war Marietta Slomka, die anlässlich eines Kant-Gedenktages im heute-journal verlautbarte, beim Kategorischen Imperativ handele es sich um den unnötig verkomlizierten philosophischen Ausdruck der schlichten Weisheit “Was du nicht willst, das man dir tut, das füg’ auch keinem andern zu.”

Seitdem gucke ich kein heute-journal mehr und zucke auch bei ganz harschen Ausdrucksweisen gegenüber Marietta Slomka seitens beispielsweise der Propagandaschau nicht zusammen. Denn genau das bedeutet der Kategorische Imperativ natürlich nicht!

Er bedeutet eben nicht, dass die Handlung und deren Ergebnis dasjenige ist, an dem die ethische Qualität gemessen werden kann. Sondern die Maxime, das Prinzip in dem die Handlung wurzelt, muss so gehalten sein, dass es allgemeinverbindlich werden kann. Das ist ein weit höherer Anspruch und dessen Befolgung sorgt meines Erachtens nicht nur dafür, dass wir uns im Anderen erkennen, die Befolgung sorgt auch dafür,  dass wir zu der Einsicht gelangen, nur eine individuelle Ausprägung aller zu sein. Das ist die Voraussetzung für Solidarität. 

Natürlich muss nicht jede Nachrichtenvorleserin und Aspiriantin für irgendeine PR-Abteilung bis hinauf zur Bundespressekonferenz den Kategorischen Imperativ und die Tiefe seiner Bedeutung kennen. Sie muss einfach nur in der Lage sein, auch Blödsinn im Brustton der Überzeugung vorzutragen, wie Stefan Seibert das tut. Aber die hinter ihr stehende Redaktion, die muss es. Und die hat die Aufgabe, die Unwissende, die da berufsmäßig ihre Nase in die Kamera hält, davor zu beschützen, Schaden durch das Verbreiten von offensichtlichem Unsinn zu nehmen. Zudem bekommen die Öffentlich-Rechtlichen einen Haufen Geld dafür, aufklärerische Sorgfalt bei der Recherche walten zu lassen. Dass sie es nun gerade bei Kant gründlich verpatzt haben, ist ein deutliches Signal. Das ZDF und auch die ARD versagen im Hinblick auf Aufklärung, Differenzierung und Sorgfalt ganz regelmäßig.

Doch zurück zu meiner Reise nach Kaliningrad. Das Datum war gesteckt, es galt jetzt nur noch eine Verbindung zu suchen, Tickets und ein Hotel zu buchen.

Kaliningrad ist von meiner Heimatstadt Berlin nicht so wahnsinnig weit weg, gerade mal 600 Kilometer, einmal quer durch Polen und dann war man schon in der russischen Exklave. Ich würde daher mit dem Zug fahren, dachte ich mir. Nach einer ausgiebigen Recherche bei der Bahn und ihrem polnischen Pendant stellte ich zu meiner Verwunderung fest, es gibt keine Zugverbindung von Berlin nach Kaliningrad.

Also doch Flugzeug. Nach einer weiteren ausgiebigen Recherche gab es auch hier ein überraschendes Ergebnis: Es gibt auch keine direkte Flugverbindung nach Kaliningrad. Da ich nicht erst 1600 Kilometer nach Moskau reisen wollte, um dann 1000 Kilometer wieder in die entgegengesetzte Richtung zu fliegen, recherchierte ich weiter.

Es gab einen Bus, allerdings nicht täglich, Reisedauer 18 Stunden. Also doch nochmal die Flugverbindung recherchiert. Entweder über Minsk oder über Moskau. Beide Male Reisedauer deutlich über 18 Stunden. Weil ich nicht wusste, ob ich für Weißrussland ein Visum brauchte, wenn ich da umsteigen wollte, ich inzwischen vom Recherchieren auch genug hatte, entschied ich mich für die Route über Moskau.

Hierdurch konnte ich noch vor Beginn meiner Reise schon ein erstes Ergebnis festhalten. Man kommt eigentlich nicht hin nach Kaliningrad. Zwar liegt Kaliningrad als russische Exklave umringt von Mitgliedern des Schengen-Raums im östlichen Teil der Europäischen Union, aber man ist schneller in Los Angeles als im ehemaligen kulturellen Zentrum Ostpreußens. Auch das hat etwas Symbolisches und passt zur Einfalt Marietta Slomkas. Wir sind schneller in der Stadt von Mickey Mouse als in der Stadt Kants.

Da ich einen langen Aufenthalt in Moskau hatte, besuchte ich dort meinen Freund Dmitry, der mit seinem Freund Anton zusammen unweit des Kiewer Bahnhofs wohnt. Dmitry ist derjenige, der mir meine erste Reise nach Russland ermöglicht hatte. Ein oberflächlicher Internetkontakt ist zu einer Freundschaft gereift, die zu weiteren Freundschaften und Kontakten geführt hat.

Ich denke oft darüber nach, wie es zu all diesem Interesse an und diesem Austausch mit Russland kam und bin immer wieder beeindruckt von der Offenheit, mit der sich Dmitry darauf einließ, mich einzuladen, mir seine Stadt zu zeigen, mich seinen Freunden und Bekannten vorzustellen, zu denen wiederum verlässliche Verbindungen entstanden. So etwas passiert einem vermutlich nur einmal im Leben.

Es ist diese Gastfreundschaft, die mich immer wieder beeindruckt. So auch in Bezug auf Kaliningrad. Ich weiß bis heute nicht, wie die Information geflossen ist. Jedenfalls poppte eines Tages auf Facebook ein Fenster auf und ein mir völlig unbekannter Mensch stellte sich vor, gab seiner Freude Ausdruck, dass wir uns ja bald in Kaliningrad kennen lernen würden, fragte, wann ich denn ankäme, denn er würde mich dann vom Flughafen abholen und mir die Stadt zeigen. So funktioniert Russland.

Mit westlicher Erziehung und einem im Westen herangewachsenen Erfahrungsschatz erregt das sicherlich erst einmal Misstrauen. Dieses Misstrauen sagt etwas darüber aus, wie wir hier miteinander umgehen. Auch auf dieser Reise wurde ich, obwohl ich mich auf mir völlig unbekannte Menschen verlassen habe, weder ausgeraubt noch betrogen, hintergangen oder sonst irgendwie geschädigt. Auch wurde meine Ortsunkenntnis nicht ausgenutzt, um mich in dunkle Ecken zu führen, wo mich russische Nazis zusammenschlagen würden. Eine nennenswerte Anzahl russischer Nazis gibt es meines Erachtens eh nur in den Köpfen westlicher Systemjournalisten.

Die einzigen mir bekannten Russen, die braunes Gedankengut hegen, sind die im Westen als Oppositionelle gehypten Alexej Nawalny und der Oligarch Chodorkowsky, der sich auch eine Rolle als Diktator für Russland vorstellen kann, bis die Russen den Neoliberalismus geschluckt und ihre Position in der Welt gefunden haben, die irgendwo unterhalb der USA angesiedelt ist. Vornehmlich Politikerinnen der Grünen wie Marieluise Beck und Rebecca Harms fördern übrigens beide und machen mit ihnen gemeinsame Sache. Uns sind die ethischen Kategorien in unglaublicher Weise verrutscht.

Bei meinem ersten geführten Spaziergang durch die Stadt, sah ich die Proben zum Tag des Sieges am 9. Mai. Was ich bis dahin nicht wusste, war, dass die Parade nicht nur in Moskau, sondern in jeder Stadt abgehalten wird. In dem geographisch schmalen Korridor den die baltischen Staaten darstellen stationiert die NATO jetzt permanent Truppen um diese Staaten gegen eine russische Aggression zu schützen. Worin die besteht, ist mir auch nach einer Vielzahl von Recherchen nicht ersichtlich. Man muss schon unglaublich ignorant und selbstvergessen sein, um die Angliederung der Krim an Russland als Akt der Aggression zu werten.

Es ist immer wieder von einem Gefühl der Bedrohung die Rede. Eine der Kultur der Aufklärung und den westlichen Werten verpflichtete Politik würde dieses Gefühl in den Blick nehmen und ihm Fakten entgegen halten. Da würde deutlich, wie wenig Aggression von Russland und wie viel Aggression von der NATO und ihren verbündeten Staaten ausgeht. Eine den Werten der Aufklärung verpflichtete deutsche Verteidigungsministerin würde sich dementsprechend für Deeskalation und Abrüstung einsetzen und ein wohltuendes Gegengewicht zu den scharfen Tönen der Antiaufklärer in den militärischen Zirkeln und transatlantischen Thinktanks setzen. Dass dies nicht passiert, zeigt, wie viel Restauration, Rückwärtigkeit und Preisgabe unserer Kultur in Frau von der Leyen steckt. Sie steht eben nicht für den Erhalt und die Verteidigung westlicher Werte, sondern für deren Verfall.

Obwohl mir geraten wurde, von Kaliningrad nicht zu viel zu erwarten, fand ich es dort wunderschön. Es mag am Wetter gelegen haben, denn es war herrlich. Oder an der Gastfreundlichkeit meiner neu gewonnenen Freunde.

Am nächsten Tag jedenfalls besuchte ich das Kant-Museum im Kaliningrader Dom. Ich bin selten ergriffen von Ausstellungen, hier war ich es. Nicht wegen der Größe der Ausstellung und auch nicht wegen ihrer Qualität. Doch für mich wurde hier die geistige Klarheit fast schon greifbar, aus der heraus ein geistesgeschichtlicher Sprung möglich wurde. Denn um nichts anders handelt es sich, bei dem was vor rund dreihundert Jahren in Europa passierte. Es war ein evolutionärer Sprung im Denken.

Dagegen wird Historikern unsere Zeit davon gekennzeichnet sein, dass wir wieder zurück springen. Zurück in ein voraufgeklärtes Denken, dass wir wieder Glauben für Wahrheit halten und Orthodoxie für Weisheit. Wir durchlaufen eine tiefe Restauration, die in der Ökonomie ihren Ausgang genommen hat und jetzt alle Lebensbereiche durchdringt. Geschichte entwickelt sich eben nicht linear, diese Annahme der Aufklärer, es würde einfach alles immer besser, lässt sich leider nicht halten. Derzeit fallen wir wieder zurück. 

Nur so kann erklärt werden, dass ein deutscher Finanzminister von zweifelhafter psychischer Konstitution, der am Leben bitter geworden ist, medial für eine Politik gefeiert wird, die alle Kriterien von Wahnsinn erfüllt.

Es wird Einstein zugeschrieben, gesagt zu haben, Wahnsinn sei, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erhoffen. Die von Schäuble exekutierte Euro-Politik ist genau das. Es wird ein weiteres, so genanntes Rettungspaket verabschiedet, das die gleichen Mechanismen anwendet wie schon die Pakete davor, die deutlich zu einer Verschlechterung geführt haben. Und in den europäischen Institutionen ist keine Struktur entstanden, die diesen Fehler korrigieren könnte.

Keiner der Ausführenden kann noch ernsthaft an die Wirksamkeit der angewandten Medizin glauben, dennoch wird sie verabreicht.

Auf einer individual-psychologischen Ebene mag das Handeln Schäubles durchaus verständlich sein. Der ewig zweite Schäuble, der vergebliche Kanzlerkandidat, der Aktenkofferträger, den der Geruch der Korruption umweht, dieser vor und an sich selbst gescheiterte Mensch möchte aus dem Schatten treten, sich selbst ein Denkmal setzen, als oberster Sparpriester in die Geschichtsbücher eingehen.

Das wird aller Wahrscheinlichkeit nicht gelingen, denn in der aufgeklärten Klarheit des Rückblicks wird man sich fragen, warum man ihn nicht abberufen und eingesperrt  oder zumindest in Betreuung gebracht hat, schließlich hat er die Insolvenz Griechenlands absichtsvoll und aus dem niedrigen Motiv der Eitelkeit und Missgunst verschleppt.

Allerdings ist eine Gesellschaft, die als ganzes eine derart narzisstische  Verkrümmung auf Kosten des europäischen Einigungsprozesses zum Nachteil ganzer Nationen nicht nur zulässt, sondern sie sogar bejubelt, eine solche Gesellschaft ist einfach nicht aufgeklärt. Vernunft ist hier vollständig verschüttet. Es gilt, sie sorgsam wieder zu entbergen.  

Jetzt war ich in Kaliningrad, in der Stadt Kants, einem preußischen, einem deutschen, einem europäischen Denker, einem Denker des Weltfriedens; ich  war hier in Russland. Das Wetter war von einer unglaublichen Klarheit. Keine Wolke war am Himmel zu sehen, der mit einem weiten Blau Europa bedachte. Alles war von großer Strahlkraft.

Warum war es nicht möglich, die größte Krise Europas seit dem zweiten Weltkrieg dazu zu nutzen, den großen Sprung nach vorne zu tun? Die EU zu reformieren und auf demokratische Beine zu stellen, die Währung zu einer wahrhaften Währung zu machen, die die einzelnen Nationen nicht zu Konkurrenten, sondern zu Partnern und Brüdern macht? Warum war es nicht möglich, das transatlantische Bündnis auch nur ein bisschen zu lockern, um sich Russland anzunähern, um den Ukrainekonflikt zu befrieden und das Wohl aller Europäer zu befördern, statt Mauern neu zu errichten und mit Verderben zu drohen? Es konnte doch nicht so schwer sein. Vernünftig wäre es allemal!

Die eingeschlagenen Wege führen offensichtlich in die Konfrontation, den Zerfall und den Konflikt. Warum ist es nicht möglich, umzukehren, sich selbst zu korrigieren? Vor der Küste Kaliningrads kreuzt ein US-amerikanischer Zerstörer, die NATO übt 160 Kilometer vor Sankt Petersburg. Wieso ist Europa nicht in der Lage diese Aggression gemeinsam zu verhindern und lässt sich spalten? Vielfach spalten: In Ost und West, Nord und Süd, arm und reich, hiesig und fremd.

Was hat Europa für geschichtsvergessene politische Führer, die derartiges zulassen und befeuern. Was denken sich Merkel und Co eigentlich dabei, Russland den Status eines Feindes zu geben? Warum ist dem nicht Einhalt zu gebieten? Es ist offensichtlich falsch, was hier passiert, dennoch erfolgt keine Korrektur, nicht einmal Protest.

Abends waren wir in geselliger Runde zusammen. Es wurde ein aufgeklärter Hedonismus gepflegt, wie es nur die Russen können. Es freute mich mit jedem Bier mehr, dass der Geist der Aufklärung in gute Köpfe abgegeben worden war, die ihn pflegten indem sie ihn anwandten. Russland würde sich gut kümmern, so lange wie die Europäische Union ein Ort der Unvernunft bleiben würde.

Ich denke häufig darüber nach. Russland hat nach westlicher Lesart ein massives Demokratie-Defizit. Dabei gibt zahllose Anschuldigungen, aber wenig Konkretes, oft bleibt es bei einem Verweis auf Rankings , die von NGOs erstellt wurden, deren Finanzierung ein einseitiges, transatlantisches Interesse nahelegen.

Wir treten hier immer gern als Ankläger auf, in deutscher Manier mit erhobenem Zeigefinger, versteht sich, und mit einer Studie beispielsweise der Open-Society-Foundation wedelnd, wobei wir dabei ganz viel verschweigen. Welchen Maßstab wir anlegen zum Beispiel.

Wenn hier in Richtung Russland mehr Demokratie angemahnt wird, wird vergessen, dass in allen großen aktuellen Themen die Bundesregierung gegen den Mehrheitswillen der Bürger entscheidet. Das Betrifft TTIP und CETA ebenso wie das Bündnis mit der Türkei und die damit verbundene Flüchtlingspolitik, die Politik der Aggression gegen Russland, die neoliberale Arbeitsmarktpolitik, und so weiter und so fort.  

Es verschweigt, dass der Großteil der deutschen Gesetze einfach Umsetzungen von Vorschreibungen aus Brüssel sind. Es verschweigt auch, dass die europäische Kommission das genaue Gegenteil von Demokratie ist. Kein Kommissar ist gewählt, sie sind alle entsandt. Noch schlimmer wird es, wenn man sich die Euro-Gruppe anschaut, die den Euroländern vorsteht. Da haben sich die Finanzminister einfach selbst ermächtigt, Regeln festzulegen, die nationale Parlamente umsetzen müssen. Offiziell existiert das Gremium gar nicht. Inoffiziell ist es von unglaublicher Macht. Es hat etwas von schleichendem Putsch. In Russland findet sich nichts Vergleichbares. Es findet sich kein derart machtvolles Gremium, was jeglicher Kontrolle und Rechenschaft entzogen wäre. Es findet sich nichts derart Undemokratisches.

Zudem wird in Brüssel und auch in den nationalen Parlamenten ein Lobbyismus gepflegt, der Demokratie beschädigt. TTIP und CETA werden Demokratie in Europa zum Spielball finanzieller Interessen großer Konzerne machen. In der Europäischen Union wird Demokratie gerade hingerichtet. Hier soll ein restauratives, alle westlichen Werte preisgebendes System für lange Zeit installiert werden.

Wo sind hier bei uns die unserer Kultur verpflichteten Politiker, die Vernunft anmahnen und Einhalt gebieten?  Nicht vorhanden. Es ist erschreckend, was passiert. Und die Arroganz ist nicht mehr zu überbieten, mit der wir hier von Russland etwas einfordern, was dort inzwischen viel deutlicher vorhanden ist, als bei uns: Demokratie und das Messen an demokratischen Standards nämlich.

Was Putin und seiner Regierung in den letzten Jahren gelang, ist das, was bei uns immer wieder mit dem Hinweis auf Sachzwänge preisgegeben wird. Es gelang ihm, nach einem Jahrzehnt Neoliberalismus unter Jelzin das Primat der Politik über die Wirtschaft zurück zu gewinnen. Es gelang Russland das, was angeblich gar nicht geht – Politik zu einem Mittel der Steuerung zu machen, mit dem unterschiedliche Interessen gesellschaftlicher Gruppen ausgeglichen werden.

Es ist ja gerade nicht alternativlos, was hier passiert; die Alternativlosigkeit ist gewollt und inszeniert. Es geht um Verteilung und um Teilhabe. Der Westen hat sich gegen seine eigene Tradition entschlossen, auszugrenzen und nicht teilhaben zu lassen, indem er einigen Wenigen immer mehr gibt, während er es denen nimmt, die immer weniger haben. Er schafft ein antidemokratisches System, spaltet, teilt, grenzt aus.

Es verdichtet sich, dass die BRICS genau das Gegenteil wollen, weshalb im Moment noch weitgehend unterhalb des Militärischen ein Krieg tobt. Deshalb steht die NATO vor Russland, deshalb ist alles, was über Russland in den Medien kommt, negativ. Das Schlimmste, was Putin in den Augen westlicher Elite machen konnte, war, den Ausverkauf zu stoppen, den Sozialstaat wieder zu errichten und weitgehende gesellschaftliche Teilhabe zu gewährleisten. Seitdem ist es aus mit der Freundschaft. Diese Sollbruchstelle der Freundschaft zu Russland sagt viel über die Verfasstheit Europas.

Dabei ist das gesellschaftliche Modell des Zusammenlebens gescheitert, das man Neoliberalismus nennt, denn es muss immer mehr Gewalt aufgewandt werden, um es am Leben zu halten. Ein System, das ausschließt, das immer größere Teile der Gesellschaft nicht am gemeinsam erwirtschafteten Wohlstand teilhaben lässt, ein System, das der Gesellschaft als Ganzes immer weitere Verschlechterungen aufzwingt, kann nur mit zunehmender Brutalität gegen zunehmende Widerstände gehalten werden. Das aber ist der Weg, den die Europäische Union und der Westen eingeschlagen hat. 

Hier in Kaliningrad wurde mir klar, wie entwicklungsgeschichtlich vergeblich die vergangenen zwanzig Jahre in Deutschland waren. Völliger Stillstand. Und nicht nur das. Unter dem Etikett emanzipatorischer Politik konnte sich Revanchismus, Reaktion und Gegenaufklärung in angeblich linken Gruppen etablieren, die heute jeden Protest, jede Solidarität und Emanzipation diskreditieren.

Wie kann ein autoritärer Charakter wie Jutta von Ditfurth für Links gehalten werden? Ihrem Gestus ist der Totalitarismus tief eingeschrieben. Wie können Anifa und insbesondere Antideutsche mit ihrem Rassismus, ihrer Menschenverachtung, ihrer unterkomplexen Weltsicht, ihrem zum Teil blinden Vertrauen in Marktmechanismen und ihre bornierte Denkverweigerung für Linke, emanzipatorische Bewegungen gehalten werden? Wie konnte die Reaktion nahezu unbemerkt linke Kreise unterwandern? 

Vielleicht muss man erst nach Kaliningrad reisen, um die Kraft und den Wert der europäischen Aufklärung zu fühlen. Vielleicht muss man erst hier gewesen sein, um zu erkennen, was alles schief gelaufen ist.

Die Europäische Union hat unter deutschem Diktat vom Projekt der europäischen Aufklärung, die vorrangig ein ethisches Projekt war, nahezu nichts übrig gelassen. Es gibt unglaublich viel zu tun, um dieses ethische Projekt wieder zu beleben. Alles muss überprüft, nahezu alles korrigiert werden. Dabei geht es um eigentlich nur wenige Fragen. Es geht um Verteilung, Frieden und Freiheit. Es geht um die Besinnung Europas auf das, wofür es stand: eine aufgeklärte Welt in der mündige Menschen frei in Frieden miteinander umgehen.

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