Für Berlin und Brüssel ist die erzwungene Landung eines Passagierflugzeugs in Weißrussland ein Akt der Luftpiraterie. Doch deutsche Politiker und Mainstream-Medien blenden wichtige Details aus. Wusste der Westen von der fingierten Bombendrohung? Wer die Konflikte von heute verstehen will, muss ihren Ursprung kennen. Aufklärung bietet COMPACT-Spezial Welt. Wirtschaft. Krisen. Hier mehr erfahren.
Am 23. Mai um 20:47 Uhr hob Ryanair-Flug 4978 zu seinem bislang letzte Flug ab. Doch auf der kurzen Strecke von Minsk nach Wilna fehlten sechs Passagiere: Der weißrussische Oppositionelle Raman Pratassewitsch, dessen Freundin Sofia Sapega sowie vier Männer.
Wenig später veröffentlichte ein regierungsnaher Telegram-Kanal ein Video Pratassewitschs, das den 26-jährigen mit deutlichen Spuren von Misshandlungen zeigt. Die unbekannten Männer waren vermutlich Agenten des weißrussischen Geheimdienstes KGB – der nach wie vor die Bezeichnung seines sowjetischen Vorläufers führt –, die den einstigen Mitarbeiter des einflussreichen Oppositionskanals Nexta bereits in Athen überwachten. Dort war die Maschine am Morgen mit dem Ziel Wilna gestartet.
Interessant ist dabei ein Blick auf das Funkprotokoll zwischen dem Ryanair-Cockpit und der Luftraumüberwachung in Minsk, dass jetzt von der russischen Zeitung RBK veröffentlicht wurde.
Nach Darstellung westlicher Medien scheint der Fall klar auf der Hand zu liegen: Wenige Sekunden bevor Flug 9487 den weißrussischen Luftraum verließ, übermittelte die Bodenkontrolle in Minsk eine falsche Bombendrohung. Anschließend zwang sie die Maschine zur Kursänderung nach Minsk, wo die vier Jahre alte Boeing nach einer weiten Schleife um die weißrussische Hauptstadt schließlich vom Militär empfangen wurde. Zeitweise war auch von randalierenden KGB-Agenten im Passagierraum, aber auch von einem Mig-29-Abfangjäger die Rede.
Der Flughafen von Wilna: Das Ziel des Ryanair-Flugs. Foto: Martin Müller-Mertens / COMPACT
Doch zwei Details des Funkverkehrs werfen Fragen auf – und gerade sie wurden in der westlichen Medienberichterstattung bislang geflissentlich ignoriert.
1. Die Bombendrohung erhielt die Boeing 737 mit dem Kennzeichen SR-RSM von Ryanairs polnischer Tochtergesellschaft Ryanair Sun – Rufzeichen Magic Sun – keineswegs kurz vor Verlassen des weißrussischen Luftraumes, sondern bereits rund 15 Minuten zuvor – am internationalen Übergabepunkt SOMAT und der Anmeldung bei Minsk Control um 9:28 Uhr der im Flugverkehr verbindlichen Weltzeit UTC.
Aus dem Funkprotokoll ergibt sich zwar kein regelrechter Befehl zur Kursänderung nach Minsk. Jedoch durchaus ein indirekter Zwang: Die Bombendrohung, so die Fluglotsen, enthalte einen Hinweis, wonach der Sprengsatz „über Wilna aktiviert werden könnte“. MSQ – die im Luftverkehr übliche Abkürzung für den Flughafen Minsk – sei die einzige Alternative.
Doch die Piloten schienen der Bombenwarnung aus Minsk zu misstrauen, erkundigten sich immer wieder nach der Herkunft der Drohung. Vielleicht machte sie stutzig, dass ihre Maschine „über Wilna“ explodieren sollte – denn die Anflugrouten auf den dortigen Flughafen verlaufen nicht über die Stadt.
Um 9:42 Uhr UTC meldeten die Piloten dann jedoch Funkkontakt mit einem unbekannten Dritten – der Name ist im Protokoll als unverständlich notiert. Eventuell handelt es sich um die Luftraumüberwachung in Wilna, die Minsk Control nach eigenen Angaben zu diesem Zeitpunkt ebenfalls erreicht hatte. Das Gespräch wurde bislang weder dementiert, noch bestätigt und veröffentlicht – weder von Ryanair noch von den litauischen oder anderen Behörden. Doch anschließend bestätigte Flug FR 9487 die Kursänderung nach Minsk. Was also besprachen die Piloten und der unbekannte Dritte in diesen entscheidenden Minuten? Empfahl – gar befahl – dieser Unbekannte letztlich die Landung in der weißrussischen Hauptstadt?
2. Zuvor hatten sich die Piloten von FR 9487 zwei Mal über die Herkunft der Bombendrohung erkundigt. Nach Angaben von Minsk Control sei eine Warnung per Mail an „several airports“, also „mehrere Flughäfen“, verschickt worden. Dabei erweckten sie den Eindruck, dass auch Athen und Wilna informiert seien – ohne jedoch die Namen konkret zu nennen. Damit wären die weißrussischen Behörden sehr leicht der Lüge zu überführen – jedenfalls dann, wenn kein anderer Flughafen eine solche Drohung erhalten hat. Doch das haben bislang weder Litauen, noch Griechenland und auch nicht die sich empört gebende Europäische Union so mitgeteilt.
Dabei ist es nicht einmal unwahrscheinlich, dass Weißrusslands Behörden die Bombendrohung fingierten. Die seit den Demonstrationen des vergangenen Herbstes offenbar höchst nervöse Staatssicherheit betrachtet Pratassewitsch als gefährlichen Terroristen, weshalb sie ihn offenbar lückenlos überwachte.
Doch dabei verkennt der KGB die tatsächliche Rolle des 26-jährigen. Denn anders als etwa Swjatlana Zichanouskaja – die sogenannte Oppositionsführerin des Landes – ist der junge Journalist für den Westen entbehrlich. Einige Jahre arbeitete er für im Ausland stationierte oppositionelle Radiosender, setzte sich jedoch bereits 2019 nach Polen ab. Später war Pratassewitsch für den mit Abstand wichtigsten Telegram-Kanal Nexta tätig, verließ ihn jedoch bereits im September 2020.
Wieder im Kreuzfeuer westlicher Kritik: Weißrusslands Präsident Alexander Lukaschenko. Foto: exsilentroot | Shutterstock.com
Mittlerweile arbeitet er für den weit weniger bedeutenden Kanal Belamova. Die Proteste der Opposition in Weißrussland sind weitgehend abgeklungen und gescheitert. Nexta hat mit 1,2 Millionen Abonnenten nach wie vor eine bedeutende Reichweite, doch im Vergleich zu den zwei Millionen Abonnenten auf dem Höhepunkt der Proteste erlitt der Kanal einen offenbar fortschreitenden Bedeutungsverlust.
Ist Raman Pratassewitsch für den Westen im Minsker Untersuchungsgefängnis nun womöglich nützlicher, als vor einem Computer in Polen? Ließ der unbekannte Dritte ihn ins Verderben fliegen – woraufhin der Exilant einer westlichen Öffentlichkeit als eine Art Märtyrer einer weißrussischen Demokratiebewegung präsentiert wurde.
Auffallend ist jedenfalls eine Twitter-Meldung von Ryanair: „Dies [gemeint ist die Notlandung von Flug FR 9487 am 23. Mai in Minsk]wird nun von den Sicherheitsbehörden der EU und der NATO behandelt. Ryanair kooperiert umfassend mit diesen Institutionen und kann aus Sicherheitsgründen keine weitere Kommentare veröffentlichen.“ Dass sich die NATO einer Notlandung annimmt, ist zumindest ungewöhnlich.
Ryanair selbst scheint sich der Sicherheit seiner Maschinen jedenfalls inzwischen versichert zu haben. Satellitenaufnahmen zeigen weiterhin Flugzeuge der Gesellschaft im Himmel über Weißrussland. Auch die meisten übrigen westlichen Gesellschaft scheinen nicht von Sorgen geplagt. Es „seien nur einzelne Fälle registriert worden, wo die Fluggesellschaften den westlichen Aufforderungen gefolgt seien, Weißrussland zu umfliegen“, meldet – nicht ohne eine erkennbare Genugtuung – das Transportministerium in Minsk.