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Corona-Maßnahmen: Wenn Kinder die Leidtragenden sind

swaine1988
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Autor: NachDenkSeiten
Quelle: https://www.nachdenkseiten.de/...
2020-12-30, Ansichten 1673
Corona-Maßnahmen: Wenn Kinder die Leidtragenden sind

Wie steht es um die Kinder in Zeiten der Corona-Krise? Wie handeln die Verantwortlichen in der Politik, wenn es um das Wohl und den Schutz der Kinder geht? In einem zweiteiligen NachDenkSeiten-Interview betont der Kindheitswissenschaftler Michael Klundt, dass Kinder und Jugendliche zu den am stärksten Betroffenen von Corona und den Maßnahmen geworden sind. „Die meisten politischen Verantwortlichen wissen das“, sagt Klundt, der am Fachbereich Angewandte Humanwissenschaften an der Hochschule Magdeburg-Stendal arbeitet. Klundt kritisiert die Söder-Parole „Wir retten jedes Leben“, die „sich überhaupt nicht mit Folgen und Nebenwirkungen auseinandersetzt.“ Von Marcus Klöckner.

Herr Klundt, Kinder gehören mit zu jenen Gruppen, die verletzlich sind und einen besonderen Schutz benötigen. Wie ist es mit dem Schutz von Kindern in Zeiten von Corona?

Nun, die Bundeskanzlerin Angela Merkel sagt ja seit Sommer 2020 unaufhörlich, „Kinder sollen auf keinen Fall Verlierer der Corona-Krise werden“. Nur leider sind Kinder und Jugendliche jedoch längst zu den am stärksten Betroffenen von Corona und den Maßnahmen dagegen bundesweit und weltweit geworden. Und das Besondere: Alle Entscheidungen seit Frühjahr 2020 fallen über die Köpfe der Kinder und Jugendlichen hinweg, fast nirgendwo werden sie einbezogen oder wenigstens konsultiert oder auch nur darüber informiert, was man mit ihnen zu tun gedenkt. Und die besonders vulnerablen Gruppen, wie Kinder in Armut, obdachlose Jugendliche, geflüchtete Heranwachsende und Minderjährige mit Behinderung, sind davon am stärksten betroffen.

Das dürfte der Politik aber bekannt sein, oder?

Natürlich. Die meisten politisch Verantwortlichen wissen das auch. Der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende im Deutschen Bundestag, Ralph Brinkhaus, beschrieb in einem Interview mit dem Deutschlandfunk am 21. August 2020 seine Sicht auf die Corona-Krise und die nun notwendigen Maßnahmen. Dabei kam er auch darauf zu sprechen, dass Familien und Kinder, Schulen und Kitas in Corona-Zeiten irgendwie unter die Räder gekommen seien, denn, so Brinkhaus, „die sind so ein bisschen vergessen worden bei all den Hilfsmaßnahmen für die Wirtschaft und bei allen Gesundheitsmaßnahmen, aber was wir gesehen haben, das ist eine extreme Belastung, nicht nur für die Kinder, auch für die Familien. Deswegen liegt da jetzt die Priorität drauf, weniger auf vollen Stadien bei der Fußball-Bundesliga und anderen Sachen, die ich auch gerne wieder hätte, aber die jetzt nicht die Priorität haben.“

Das klingt doch nach Einsicht und einem Anfang.

Ja, das klingt so. Aber: Der Unionspolitiker ließ unbeachtet, dass sich Bundesliga und Baumärkte bereits lange vor der kleinsten Berücksichtigung von Kitas und Schulen großzügigster Öffnungen erfreuen durften, während zum Beispiel der außerschulische Bildungs- und Betätigungsbereich der Kinder und Jugendlichen (in Form von freier offener Jugendarbeit) sogar im Herbst 2020 immer noch nicht ausreichend berücksichtigt wurde. Das Deutsche Kinderhilfswerk äußerte daher auch die Befürchtungen für die Zukunft. Demnach werde man aufgrund der bisherigen Maßnahmen „sehr viele Kinder und Jugendliche verlieren“. Und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hat dann auf der Pressekonferenz am 27. Oktober 2020 letztlich auch die Katze aus dem Sack gelassen, als er sagte: „Schule und Kita hat ja den Sinn und Zweck, die Wirtschaft am Laufen zu lassen“. Der instrumentelle Charakter schreit zum Himmel und von Bildung oder Kinderrechten ist keine Rede.

Die Vereinten Nationen sprachen bereits im April dieses Jahres davon, dass Kinder zu den größten Opfern der Corona-Krise zu zählen sind. Worauf basiert diese Aussage?

In einer Kurzinformation der Vereinten Nationen von Mitte April 2020 wurde bereits befürchtet, dass Kinder zwar nicht das „Gesicht“ der Corona“-Pandemie seien, aber womöglich zu deren größten Opfern zählten (United Nations 2020, S. 2f.). Weltweit wurden demnach in den Monaten Mitte März bis Mai 2020 über 1,5 Milliarden schulpflichtige Kinder und Jugendliche von Schulen und Bildungseinrichtungen ausgesperrt (vgl. ebd., S. 7). Damit verbunden hatten weltweit plötzlich im Frühjahr 2020 etwa 370 Millionen Kinder durch die Schließungen und Kontaktsperren auch keine Schulspeisungen mehr erhalten (vgl. UNICEF v. 29.4.2020). Zugleich sind lebensrettende Impfkampagnen gegen Masern und Kinderlähmung für 117 Millionen Kinder – unter anderem in Afghanistan und Pakistan – vorerst gestoppt worden (vgl. UNICEF v. 5.5.2020). Fast ein Drittel aller betroffenen Schulkinder (463 Millionen) hat darüber hinaus in der ganzen Lockdown-Zeit überhaupt keinen Ersatzunterricht erhalten (vgl. UNICEF v. 27.8.2020).

Die Folgen dürften weitreichend sein.

Wie UNICEF zuletzt ermittelt hat, haben Ende Oktober immer noch 265 Millionen Mädchen und Jungen keine Schulspeisungen erhalten, über 250 Millionen Kleinkinder unter fünf Jahren bekommen keine lebenswichtigen Vitamin-A-Tabletten, 65 Länder berichten von einem Rückgang von Hausbesuchen durch Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter im Vergleich zum Vorjahr.

Wie sieht es aktuell aus?

Im November 2020 waren 572 Millionen Mädchen und Jungen von landesweiten Schulschließungen betroffen – das sind 33 Prozent aller Schülerinnen und Schüler weltweit. „Durch die Unterbrechung lebenswichtiger Dienstleistungen und zunehmender Mangelernährung könnten in den kommenden zwölf Monaten zwei Millionen Kinder zusätzlich sterben und die Zahl der Todgeburten um 200.000 zunehmen. In 2020 werden zusätzlich sechs bis sieben Millionen Kinder unter fünf Jahren an Auszehrung oder akuter Mangelernährung leiden, eine Zunahme um 14 Prozent. Vor allem in den Ländern Afrikas südlich der Sahara und in Südasien werden hierdurch jeden Monat 10.000 Kinder zusätzlich sterben. Weltweit sind bis Mitte des Jahres schätzungsweise 150 Millionen Kinder zusätzlich in mehrdimensionale Armut gerutscht – ohne Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung, Nahrung, sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen.“ (UNICEF 2020: Eine verlorene Covid-19 Generation verhindern, New York/Köln v. 19.11.2020)

Wie passen diese Zahlen zu der veranschlagten Corona-Politik und Politikern, die vorgeben, Leben „schützen“ zu wollen?

Das ist genau meine Kritik. Wer auf die Millionen Toten der globalen Lockdowns und vieler Corona-Maßnahmen hinweist, dem wird gerne entgegnet, er verharmlose die Pandemie und wolle wohl über Leichen gehen. Die Absurdität dieser Argumentation müsste eigentlich allein mit Hilfe der UNICEF-Daten sichtbar werden. Die regierungsfrommen Lockdown- und Maßnahmen-Verteidiger sollten zumindest Wirkungen, Nebenwirkungen und Kollateralschäden in einem evidenzbasierten Prüf- und Abwägeverfahren ins Verhältnis setzen. Wenn selbst regierungsnahe Studien zur Übersterblichkeit in den USA und in Deutschland herausfinden, dass „nur“ die Hälfte davon auf Corona zurückzuführen sei, aber die andere Hälfte schlicht der Nicht-Behandlung anderer Krankheiten (Herz-Kreislauf, Krebs usw.) geschuldet ist, so zeigt dies doch, dass die Söder-Parole „Wir retten jedes Leben!“, die sich überhaupt nicht mit Folgen und Nebenwirkungen auseinandersetzt, dazu jedenfalls nicht ausreicht.

Ich finde übrigens sehr wichtig, und das ist auch im Rahmen der WHO-Charta festgelegt, dass die Gesundheit von Kindern nicht nur die Abwesenheit von Krankheit ist. Das Recht auf Gesundheit für alle Menschen, aber insbesondere auch für Kinder, ist ein umfassendes Recht, welches die Beteiligung von Kindern mit beinhaltet, den Kontakt mit anderen Kindern, Netzwerke, die Möglichkeit, sich miteinander auszutauschen, auch Bildung zu erhalten. Das ist wesentlich umfangreicher gedacht, als es in den letzten Monaten meist öffentlich kommuniziert wurde.

Werfen wir mal einen Blick auf Deutschland. Von einem Land wie Deutschland würde man erwarten, dass Politiker die Lage der Kinder berücksichtigen, dass sie einen Mangel rasch abstellen.

In der reichen Bundesrepublik Deutschland wurde für Millionen Kinder und Jugendliche im Rechtskreis des sogenannten „Bildungs- und Teilhabepakets“ ab Mitte März 2020 von heute auf morgen das kostenlose Mittagessen in Kitas, Schulen und Jugendclubs eingestellt – dies ist übrigens seit Mitte Dezember 2020 abermals der Fall. Auch hier waren hunderttausende von Schülerinnen und Schülern mangels digitaler Mittel (wie zum Beispiel Zugang zu einem internetfähigen Computer in der Wohnung) vom sogenannten Homeschooling ausgeschlossen und so manche/r Lehrer/in klagte darüber, dass sie mit einigen Schulkindern keinerlei Kontakt herstellen konnten während des gesamten ersten Lockdowns im Frühjahr 2020.

Dies wird noch untermauert durch einen Bericht von UNESCO, UNICEF und der Weltbank vom 29. Oktober 2020, wonach Schulkinder in Ländern mit geringem und niedrigem mittleren Einkommen seit Beginn der Pandemie rund vier Monate Unterricht verpasst haben, während Schülerinnen und Schüler in reicheren Ländern immerhin noch sechs Wochen Unterricht verpasst haben. Allerdings rechtfertigt die Tatsache, dass ärmere Länder in Krisenzeiten noch größere Probleme bei der Aufrechterhaltung bzw. Herstellung des Menschen- und Kinderrechts auf Bildung haben, es keineswegs, dass reichere Staaten wie Deutschland sehenden Auges solche Exklusionen ebenfalls zuließen und zulassen.

Schmerzhafter noch als materielle Einschränkungen können sich Diffamierungen und Stigmatisierungen auswirken. Auch das Reden über (arme) Kinder und ihre Familien macht also einen Teil der gesellschaftlichen Polarisierungs-Problematik aus, die immer weniger geleugnet werden kann. Dies gilt vor allem dann, wenn die Betrachtung von (Kinder-)Armut durch ein Wechselspiel zwischen Ignoranz, Krokodilstränen und Schicksalsgläubigkeit gekennzeichnet ist. Besonders bedenklich sind diejenigen Debatten, in denen die betroffenen Kinder und Familien mit den Etiketten ‚selbst schuld‘ oder ‚asozial‘ rhetorisch bedacht werden, denn dann steht statt der Bekämpfung von Armut eher die Herabwürdigung und letztlich Bekämpfung der Armen im Vordergrund.

Setzt sich nun unter der Corona-Politik fort, was auch schon vor Corona vorhanden war, nämlich die Mangelerfahrungen von Kindern in unserem Land?

Absolut. Schon vor Corona waren die Lebensqualität und die Zukunftschancen von Kindern durch das Aufwachsen in Armut massiv beeinflusst.

Wie kann man sich das vorstellen?

Überproportional oft wohnen sie unter beengten Verhältnissen und somit meist ohne einen ruhigen Platz für die Erledigung von Hausaufgaben. Obgleich die Einschränkungen aufgrund von elterlichem Sparen nicht an erster Stelle stünden, sei doch laut Studien immerhin ein Viertel der armen jungen Menschen von Schmälerungen beim Essen betroffen, sie könnten also teilweise oder sogar häufig nicht ausreichend bzw. zu wenig gesunde Ernährung erhalten. Während der permanente Mangel das Familienklima verschlechtere, seien auch die sozialen Netzwerke kleiner, da die Kinder überdies weniger Freizeitangebote – seien es Musikschulen oder Fußballvereine – wahrnehmen könnten. Nicht zuletzt aufgrund fehlender sozialer Wertschätzung entwickelten viele arme Kinder daher ein geringeres Selbstwertgefühl und starteten mit ungünstigeren Voraussetzungen in die Schule, wo sie selbst bei gleichen Leistungen dann auch noch oft schlechter bewertet würden als Kinder aus wohlhabenden Schichten.

Was bedeutet das für Sie als Wissenschaftler? Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

Ständige Erfahrungen von Mangel und Verzicht während und nach Corona tragen dazu bei, dass sich junge Menschen, die in ihrer Kindheit Armutserfahrungen machen müssen, weniger wohl und weniger zugehörig zur Gesellschaft fühlen. Ausgehend davon, dass junge Menschen, die dauerhafte Armutslagen erleben und SGB-II-Leistungen beziehen, seltener in einem Verein aktiv oder an organisierten Freizeitaktivitäten beteiligt sind als besser gestellte Gleichaltrige, besteht die Gefahr, dass sich diese jungen Menschen auch als Erwachsene aufgrund ihrer Perspektivlosigkeit von der Gesellschaft abkoppeln – mit weitreichenden Folgen.

Sie unterscheiden in Ihrer Forschung zwischen Armutsursachen und Armutsanlässen.

Das ist korrekt. Leider werden in Politik, Wissenschaft und Medien immer noch überwiegend Ursachen und Anlässe von (Kinder-)Armut und von Corona-(Maßnahme-)Folgen durcheinandergebracht…

…und in der Pandemie auch verwechselt?

Ja, das ist der Fall. So erscheinen oft Armutsanlässe, wie Scheidung, Alleinerziehenden-Status, Migrationshintergrund oder sogar Arbeitslosigkeit in verschiedensten Äußerungen aus Politik, Medien und Wissenschaft als Problemursachen. Sie lassen dadurch die wirklich zugrundeliegenden Wurzeln im vorhandenen Wirtschafts- und Sozialsystem ausgeblendet und werden demzufolge mit diesen vertauscht. Dabei kann eine sozial gerechte Familien- und Sozialpolitik und eine gute Bildungs-, Betreuungs- und Arbeitsmarktpolitik auch für Kinder von arbeitslosen, alleinerziehenden oder migrantischen Eltern ein armutsfreies Leben ermöglichen.

Mit Abstrichen könnte dies selbst für die Corona-Pandemie gelten, welche weniger zur Ursache, denn zum Anlass von verschärften Verarmungsprozessen landes- und weltweit gerät (leider nicht nur in verschiedenen autoritären Regimen auch zum Vorwand für den Bruch von Gewaltenteilung durch Übergehen von Legislative und Judikative seitens der Exekutive sowie durch massivste Grundrechtseinschränkungen und Repressionen). Auch hier sollte die Pandemie nicht zu vorschnell allein verantwortlich gemacht werden, sondern die darunterliegenden sozio-ökonomischen sowie bildungs- und gesundheits-systemischen Ursachen sind zu beachten, auch wenn sie allzu oft in Medien, Politik und Wissenschaft von der Epidemie drohen, überstrahlt zu werden.

Genauso problematisch wie die einseitige Kennzeichnung von Kindern als „Armutsrisiko“ oder gar „Armutsursache“ hat sich in der Corona-Krise die weitgehend wissenschaftlich unbewiesene Beschreibung und Behandlung von Kindern als reine „Viren-Schleudern“ erwiesen.

Könnte man die Kinderarmut in der Corona-Krise als eine Art Elefant im Raum bezeichnen? Sie ist, einerseits, so offensichtlich, andererseits will Politik sie nicht so recht wahrnehmen.

Da ist schon was dran. Zumal die Situation ja bereits vor der Corona-Krise keineswegs idyllisch aussah. Kinderarmut in Deutschland heute bedeutet Armut in einem der reichsten Länder dieser Erde. Es darf nicht vergessen werden, wie viele hunderttausende Menschen inzwischen wieder in Deutschland auf der Straße leben (laut Tagesschau.de v. 11.11.2019 über 678.000 Menschen, darunter um die 37.000 Jugendliche; vgl. DJI-Studie 2017) und wie viele Menschen vom Flaschen-Sammeln, Betteln oder von Tafeln leben müssen. Für sie muss das Motto „Wir bleiben zuhause!“ einigermaßen befremdend gewirkt haben.

Die Regierung hat viel Geld in die Hand genommen, um zu „helfen“, wie es heißt. Was halten Sie von der Unterstützungsleistung?

Die gegenwärtigen Regierungsmaßnahmen verbleiben trotz aller Investitionspakete weiterhin im Rahmen einer neoliberalen Organisation sozialer Ungleichheit zugunsten weniger und zu Ungunsten sehr vieler Menschen.

Bitte konkret.

Wenn zum Beispiel Millionen von Menschen bis zum Ende des Jahres 2020 immer noch keine von der Bundesregierung versprochenen Fördermittel und Hilfspakete erhalten haben, aber unterdessen große Konzerne bereits mit Milliarden von Euros unterstützt wurden, dann ist das eine Schieflage. Wenn zudem staatlich geförderte Großunternehmen zehntausende von Beschäftigten in von der Solidargemeinschaft mitfinanzierte Kurzarbeit schicken, aber zugleich Milliarden an Dividenden an ihre Großaktionäre de facto von den Steuer- bzw. Beitragszahler(inne)n finanzieren lassen, deutet sich das gleiche neoliberal strukturierte Muster der Privatisierung von Gewinnen und Sozialisierung von Verlusten an.

Weitere Beispiele?

Die Bundesregierung hat die Bedingungen in Kitas nicht verbessert. Belüftungsmängel und täglich volle Schulbusse nimmt sie hin, während Reisebusse, die man zur Entlastung der Schulbusse einsetzen könnte, rumstehen. Die Bundesregierung hat die Bedingungen auch in außerschulischen Bildungseinrichtungen, wie zum Beispiel der offenen Jugendarbeit, noch immer nicht verbessert, ganz zu schweigen von der Situation in Krankenhäusern, Pflegeheimen, dem öffentlichen Personenverkehr und der Fleischindustrie. Da gibt es keine Korrekturen. Stattdessen appelliert die Regierung täglich an die private Verantwortung der Bürger, um die Corona-Krise zu bewältigen.

Appelle an die private Verantwortung der Bürger. Woran erinnert das?

Hier wird fortsetzend nach dem neoliberalen Prinzip der Privatisierung aller sozialer und gesundheitlicher Risiken geredet, gehandelt und verordnet. Dazu passt dann auch, dass in pseudonostalgischen Werbefilmchen der Bundesregierung (aus der Zukunft ins Jahr 2020 wie in Kriegszeiten zurückblickend) auf fast allen Fernsehsendern im November 2020 unter dem Slogan „besondere Helden“ (offenbar auf sogenannte Kriegshelden anspielend) für das Zuhausebleiben junger Erwachsener geworben wird. Die jungen Menschen werden dabei aufgefordert, mit Fast Food und Cola vor dem Fernseher zu „verschimmeln“, während weder die Sorgen wirklicher junger Erwachsener um ihren Ausbildungs- oder Arbeitsplatz und ihren Lebensunterhalt, noch die Sorgen derjenigen (meist jungen) Leute berücksichtigt werden, die das Schnell-Essen herstellen, zubereiten und liefern sollen, welches die „besonderen Helden“ vorm Fernseher verzehren.

Dass Politik auch in der Corona-Krise Instrumente zur Beeinflussung einsetzt, war zu erwarten.

Ja, aber es ist erschreckend, wie weit manche dabei zu gehen bereit sind.

Wie meinen Sie das?

Im Frühjahr 2020 wurde ein Konzeptpapier des Bundesinnenministeriums bekannt, dass es in sich hatte. Die Regierungsmaßnahmen gegen die Coronapandemie sollten durch Schock und Angst in der Bevölkerung und besonders unter den Kindern verankert werden.

Auch Kinder gerieten in den Fokus?

Ja, insbesondere sie sollten eine regelrechte Erziehung zur Angst vor qualvollem Großelterntod und damit verbundenen Formen von Schuldangst, Depressionen und Traumatisierungsfolgen erhalten. Wörtlich hieß es: »Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen (…) verdeutlicht werden: Wenn sie (die Kinder; M. K.) dann ihre Eltern anstecken und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, Schuld daran zu sein, (…) ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann.« Zur Verständlichmachung der Regierungsmaßnahmen sollte dies den Kindern und ihren Eltern offenbar eingeredet werden.

Die US-amerikanische Autorin Naomi Klein hat eine solche sowohl militärisch als auch wirtschaftspolitisch angewandte Schockstrategie als Herrschaftsmethode im neoliberalen Kapitalismus begriffen, wodurch mit jeder neuen Katastrophe herrschende Klassen in Wirtschaft und Politik die Welt neu unter sich aufteilen können, während die mehrheitlich betroffenen Bevölkerungen sich meist – wie gelähmt – noch in buchstäblicher Schockstarre befinden. Erstaunlicherweise äußerte sich auch der Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) während der Pandemie in ähnlicher Form, als er in der Neuen Westfälischen vom 20. August sagte: »Die Coronakrise ist eine große Chance. Der Widerstand gegen Veränderung wird in der Krise geringer«.

Medien haben damals über das Papier berichtet.

Das stimmt. Aber sie haben es auch schnell wieder vergessen.

Wer den Verdacht äußert, dies könnte auch gegenwärtig tragendes Motiv für politische, wirtschaftliche und mediale Maßnahmen sein, den dürften regierungsfromme Fraktionen rasch als Verschwörungstheoretiker abstempeln. Ein solcher Verdacht würde unterstellen, dass wir in einer Gesellschaft leben, die von Herrschaft, kapitalistischer gar, und daher auch von Herrschaftsinteressen geprägt wäre. Und solche Ansichten werden nicht gerne gehört.

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Corona-Maßnahmen, Kinder und die Linke: „Denkfaulheit, Opportunismus und ein Totalausfall“

„Die Verdachts-Kultur ist in Deutschland gerade wieder sehr hochgeschraubt, und zwar von allen Seiten. Der Nazi-Vorwurf wird von verschiedenen Seiten inflationär gebraucht, jede Seite wirft der anderen Seite vor, „über Leichen“ zu gehen. Das sagt der Kinderpolitik-Forscher Michael Klundt im zweiten Teil des NachDenkSeiten-Interviews. Klundt äußert sich in dem Interview weiter zur Situation der Kinder in der Corona-Pandemie, wirft aber auch einen kritischen Blick auf einige Linke, viele Medien sowie manche Wissenschaftler und kritisiert, wie vergiftet die öffentliche Diskussion ist. Von Marcus Klöckner.

Von den Corona-Maßnahmen sind viele Kinder direkt betroffen, zum Beispiel beim Tragen der Maske im Unterricht. Haben Sie Einblicke in das Verhalten der Eltern? Viele scheinen die Maßnahmen zu akzeptieren oder eben hinzunehmen?

Wenn manche Schulleiter nach drei Stunden Masketragen erschöpft abwinken, aber zugleich Schülern bis zu neun Stunden Maskenpflicht mit allen Nebenwirkungen zumuten, sind manche Kinder und Eltern schon einigermaßen irritiert. Doch das hängt natürlich auch von den jeweiligen Lebens- und Arbeitsbedingungen ab, die so differieren wie bei den Kindern auch. Mögen viele wohlhabende Eltern das Zwangs-Home-Office als wohltuende Entschleunigung oder als besonders stressig erleben, so sind die Existenzgefährdungen umso schlimmer, je niedriger die Eltern auf der Klassen-Hierarchieleiter der Gesellschaft stehen. Dass sich bestimmte Formen gesellschaftlicher Teilhabe deshalb nicht mehr ganz so ungleich darstellen wie vor der Krise, einfach weil nun niemand mehr in Theater, Opern, Restaurants oder sonstiges gehen kann und nicht nur nicht die Armen, ändert daran wenig.

Woran liegt es, dass gerade in dieser Situation kritische Stimmen von linker Seite fehlen, die die Maßnahmen hinterfragen?

Das frage ich mich auch den ganzen Tag. Denkfaulheit, Opportunismus und ein Totalausfall fallen mir da bei einigen wirklich wichtigen Akteuren in Politik, Medien und Wissenschaft auf. Leider meinten sich offenbar einige an Robert Habeck orientieren zu müssen, als er sagte, dass nun „nicht die Stunde der Opposition, sondern die Stunde der Verantwortung“ sei. Ein sehr problematischer Satz für die parlamentarische Demokratie, da er Opposition als etwas scheinbar Verantwortungsloses darstellt und nicht als etwas für eine Demokratie Lebensnotwendiges. Dabei wäre eine offensive Linke und ihre klare Kritik an den katastrophalen Arbeits-, Eigentums- und Lernbedingungen sowie den unterschiedlichen kapitalkonformen Krisenlösungsmustern in einem teilprivatisierten und an Wettbewerbskriterien orientierten Gesundheits- und Pharmasystem so lebenswichtig.

Und gerade für Linke sollte eigentlich klar sein, dass selbst gleichklingende Maßnahmen in unterschiedlichen Gesellschaftssystemen meist Unterschiedliches bedeuten. Kurz gesagt: Ein Lockdown in Kuba oder China bedeutet etwas anderes als ein Lockdown in Kenia oder Deutschland, also in einem kapitalistischen Kontext etwas anderes, als in einem sich zum Sozialismus hin entwickelnd wollenden Gesellschaftswesen.

Ist die Linke in Sachen Corona zu „systemkonform“?

Vielleicht sollte man das nicht generalisieren. Aber wer sich seine Regierungsbeteiligungsträume durch Unterstützer von Aufrüstung und Angriffskriegs-Bündnissen auf Seiten der erwünschten Traumpartner nicht madig machen lassen will (geschweige denn vom Cum-Ex- und Wirecard-Kanzlerkandidaten), schaut offenbar auch an anderer Stelle mal nicht so genau hin. Denn Drosten und Wieler nicht zu 100 Prozent nachzubeten, heißt doch nicht zwangsläufig, Bhakdi und Wodarg zu glorifizieren. Es kann doch auch einfach heißen, mal auf Streeck oder Kekulé zu hören oder Allmendinger oder die Autorengruppe um Schrappe, Glaeske und andere Gesundheitswissenschaftler/innen oder den Niedersächsischen Ethikrat wenigstens einzubeziehen – geschweige denn andere Medizinerinnen, Kinderärzte, Psychologinnen, Pädagogen und Kindheitswissenschaftlerinnen.

Und selbst wer das alles ablehnt und nur Drosten in allen (nicht nur virologischen) Fragen um Corona gelten lässt, muss sich doch zumindest bewusst machen, dass die darauf basierenden politischen Maßnahmen in Krankenhäusern, in Kitas, Schulen, auf Sportplätzen, in Bussen und Bahnen, an Arbeitsplätzen keineswegs so eindeutig und alleine von Drosten beurteilt und entschieden werden können. Wenn man jedoch Kontroversität und Pluralität ablehnt, kann man auch kaum über Jugendhilfe, Partizipation und Kinderarmut diskutieren wollen.

Medien bezeichnen Bürger, die die Maßnahmen kritisieren, rasch als „Corona-Leugner“. Was ist Ihre Beobachtung? Haben wir ein Problem mit einer offenen Diskussion um die Maßnahmen?

Zweifellos kann, wer sich ernsthaft Sorgen macht wegen autoritärer Tendenzen von Notstandsgesetzen in einer Pandemie, seinen Protest nicht ehrlich vortragen neben Leuten, die insgeheim bis ganz offen von einer faschistischen Notstands-Diktatur träumen. Davon abgesehen ist die Verdachts-Kultur in Deutschland gerade wieder sehr hochgeschraubt, und zwar von allen Seiten. Gerne werden Verdachts-Argumentationen und monolithisches Denken reproduziert. Der Nazi-Vorwurf wird von verschiedenen Seiten inflationär gebraucht, jede Seite wirft der anderen Seite vor, „über Leichen“ zu gehen. Gegenseitige Unterstellung von Eiseskälte gegenüber den Opfern der jeweiligen Handlungen bzw. Praxen oder ignorierende Haltungen herrschen vor: Corona-Opfer versus Kollateral-Opfer von Corona-Maßnahmen. „Wir“ sind „die“ Wissenschaft – Ihr seid nur böswillige Scharlatane.

Wer allerdings vehement behauptet, viele der Corona-Toten seien doch gar nicht an, sondern höchstens mit Corona gestorben (vielleicht auch durch Fehlbehandlung, mangelnde Schutzmittel und kaputtgesparte Gesundheitssysteme), darf zumindest nicht vorschnell behaupten, dass reale oder erfundene tote Kinder selbstverständlich einzig und allein durch Masken getötet wurden. Umgekehrt, die Leichen der Kollateralschäden schlicht leugnend und übergehend, dem (eingebildeten) Feind/Kontrahenten aber sofort unterstellend, ist ebenfalls äußerst niedriges Diskurs-Niveau.

Die Diskussion ist vergiftet.

Ja, und zwar von allen Seiten. Die Einen geben dem Virologen Drosten sämtliche Sendezeiten, den „Sonderpreis für Wissenschaftskommunikation“ und das Bundesverdienstkreuz obendrauf. Manche erinnern sich aber auch an seine Beziehungen ins Pharma-Geschäft und seine herablassenden und arroganten Tweets gegenüber Kritikern wie seinem mit ihm gar nicht allzu differierenden virologischen Kollegen Kekulé. Als dieser Professor für Epidemiologie an der Universität Halle im Nachgang der BILD-Berichterstattung von Ende Mai 2020 bloß klare logische und statistische Vergleichs-Ungereimtheiten in Drostens Vor-Veröffentlichung vom April 2020 hinsichtlich der Virenverbreitungstätigkeit von Kindern im Berliner Tagesspiegel formulierte und bemängelte, meinte Drosten, er müsse darauf nicht mit Argumenten antworten.

Stattdessen „tweetete“ er, „Kekulé macht Stimmung. Seine Darstellung ist tendenziös. Er kennt unsere Daten nicht und zitiert falsch. Kekulé selbst könnte man nicht kritisieren, dazu müsste er erstmal etwas publizieren.“. Was Kekule falsch zitiert habe, erwähnt er leider nicht, sodass eine ziemlich hochnäsige Antwort übrigbleibt.

Das ist ein Beispiel, wie wenig konstruktiv die Diskussion selbst unter reputierten Wissenschaftlern ist, die aneinander Kritik üben. Aber Sie sagten, der Diskurs ist nicht nur innerhalb der wissenschaftlichen Community vergiftet, sondern generell.

Absolut. Wie schon gesagt nehmen die gegenseitigen Nazi-Vorwürfe überhand – wohlgemerkt von beiden Seiten. Während die einen bei über 40.000 Demonstranten nur die vier Reichskriegsflaggen am Rande und keinen einzigen, sich von Rechtsextremisten distanzierenden Demo-Redner sehen bzw. zeigen, vermuten die anderen beim Medien-Mainstream gleich „Führerbefehl“ und „Gleichschaltung“ (Dr. Fuellmich in Anhörung des Corona-Ausschuss), „Corona-Diktatur“ (Ken Jebsen), „Faschistische Diktatur“ (Dr. Bodo Schiffmann) und „Kindermord durch Masken“.

Anders gesagt, ein einigermaßen rationales Gespräch, in welchem der eigene Irrtum für möglich gehalten und dem Kontrahenten zumindest formal zugestanden wird, dass seine Argumentation nicht zwangsläufig falsch und niederträchtig motiviert sein muss, kommt nicht mehr zustande (vgl. als Ausnahme das Streitgespräch mit dem Berliner Innensenator in der ZEIT v. 1.10.2020).

Auch als das so genannte „Infektionsschutzgesetz“ beschlossen wurde, ging es rau zu.

Die Gegner riefen lauthals und NS-verharmlosend „Ermächtigungsgesetz“, gleichzeitig aber berichteten manche Mainstream-Medien über die Pöbeleien im Reichstagsgebäude durch AfD-Gäste so dramatisierend und ebenfalls NS-verharmlosend, als seien die Handvoll AfD-Brüller mit SA-Truppen und deren Terror während des Beschlusses zum historischen NS-Ermächtigungsgesetz 1933 gleichzusetzen. Das Gleiche gilt selbstverständlich auch für diverse Indienstnahmen von Anne Frank oder Sophie Scholl. Sie mögen im einen oder anderen Fall begründeter sein oder nicht, problematisch sind sie allemal. Ob sie allerdings ausreichen, um alle sogenannten Querdenker als verkappte Rechtsextremisten darzustellen, erscheint zumindest fraglich.

In diesem Klima ist die dringend angebrachte rationale Diskussion über real vorhandene Verhältnisse kaum noch möglich, oder?

Natürlich gibt es Sachverhalte, die jenseits vom großen Verschwörungsgedanken und jenseits von Beschimpfung und Verachtung diskutiert werden müssten. Alleine schon die Betonung von sozio-ökonomischen Interessen an der Vermarktung von Testmaterial, Impfstoffen und Medikamenten ist in einer kapitalistischen Gesellschaft nicht von der Hand zu weisen. Und wenn die Frankfurter Rundschau vom 15.12.2020 über Rechercheergebnisse berichtet, wonach zehntausende Ärztinnen und Ärzte in Deutschland von der Pharma-Industrie „gefördert“ werden, muss uns das alle in der gegenwärtigen Impfhysterie-Zeit aufhorchen lassen – auch und vor allem im Interesse der Unabhängigkeit der Mediziner selbst. Man darf solche Perspektiven nicht einfach mit der platten Entgegnung „Verschwörungstheoretiker“, „Corona-Leugner“ oder „Covidiot“ abtun.

Maß und Ziel scheinen auf beiden Seiten abhanden gekommen zu sein?

So ist es. Die einen hängen also an den Lippen des gelernten Tiermediziners Lothar Wieler vom Robert Koch-Institut und an denen des gelernten Bankkaufmanns im Gesundheitsministerium, Jens Spahn, als wären sie die einzigen sachkundigen Fachleute in „Corona-Fragen“ auf der ganzen Welt.

Und die anderen?

Die sehen solche Leute und führende Akteure im Mainstream gemeinsam mit der Bill und Melinda Gates Stiftung sowie anderen Pharma-Industriellen als Teil eines korrupten „Pharma-Tech-Komplexes“ – dessen wirtschaftliche Interessen trotz aller Widerreden auch nicht vollständig in Abrede zu stellen sind. Das berichtete übrigens selbst der Deutschlandfunk bis 2018 mehrfach, hat das dann aber seit 2020 erstaunlicherweise aus seinen Archiven gelöscht bzw. im Titel abgeändert (vgl. hier).

Wenn dann der Bundesgesundheitsminister uns ständig mit Charaktertests und Charakterfragen erziehen möchte, aber anscheinend nicht einmal selber den „Charakter“ hat, das Restaurant zu informieren, in dem er drei Tage vor seiner Positivtestung gesessen hat, wäre auch das kein besonders charaktervoller Infektionsschutz. Und auch seine Quarantäne in einer Dahlemer Millionenvilla sah sicherlich obendrein etwas komfortabler aus als die von betroffenen Kindern in engen Hochhaussiedlungen von Marzahn oder Wedding. Auch das sollte nicht ignoriert werden. Wir sollten in all diesen Fragen die soziale Ungleichheit und die soziale Frage nicht vergessen. Unterschiedliche Maßnahmen wirken auf unterschiedliche Gruppen auch unterschiedlich.

Was ist Ihre Beobachtung im Hinblick auf Journalisten, wenn es um deren Blick auf Forschung geht?

Die Wissenschaftsjournalistin der Frankfurter Rundschau Pamela Dörhöfer hat ein interessantes Kriterium dafür, wer öffentlichkeitswirksam in Medien, Wissenschaft und Politik diskutieren darf. Zusammenfassend lässt sich ihre Auffassung wie folgt beschreiben: Drosten hat zu Coronaviren mehrfach publiziert. Er ist ein absoluter Experte. Der Mikrobiologe Bhakdi oder der Lungenfacharzt Wodarg haben nicht diese Kompetenz, deshalb kommen sie bei ihr nicht zu Wort. Ähnlich argumentiert der Professor für Wissenschaftskommunikation Markus Lehmkuhl: „‘Im Bereich von Coronaviren‘ sei Kekulé ‚eine Randfigur‘. Er arbeite ‚im Grunde gar nicht an der Wissenschaftsfront‘. Drosten hingegen ‚ist eine ganz zentrale Figur innerhalb dieser Community. Das kann man mit Sicherheit so sagen‘.“ (zit. nach: Tagesschau.de v. 28.5.2020)

Die Untersuchung der Frage, was Dörhöfer unter „Forschung“ versteht, die berechtigt ist, in ihren Artikeln behandelt zu werden, wäre ein schönes Forschungsprojekt. Dass der von ihr als „richtiger“ Forscher zum Sprechen berechtigte Wissenschaftler Drosten jedoch in allen möglichen Medien zu allen nur möglichen Fragen menschlichen Daseins und Handelns befragt wurde, zu denen er nun wirklich überhaupt nicht geforscht hat, lässt sie außen vor. Und die Tatsache, dass ihre Kollegen in der Redaktion zumindest nicht das „Forschungs“-Argument vorbringen konnten, um zu begründen, warum sie acht Monate lang Stimmen von Drosten widersprechenden Virologen ausgeblendet haben, übergeht sie ebenfalls. Auch sie waren geneigter, ihnen unangenehm erscheinende Positionen lieber zu beschweigen, als sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen. Zu letzterem waren sie nicht gewillt oder/und nicht in der Lage und haben damit der demokratischen Öffentlichkeit einen Bärendienst erwiesen. Diese Beurteilung gilt übrigens selbst dann, wenn man sehr wohl sehr viel Kritik an den Thesen von Bhakdi und Wodarg vorzubringen hat.

Der Demokratie einen Bärendienst erweisen viele Journalisten, wenn sie die öffentliche Diskussion stark verengen.

In dem Fall hier kommt es ja noch schlimmer. Nachdem nun also, wie Dörhöfer selbst zugibt, alle sich selbst als „niveauvoll“ erachtenden Medien die genannten und weitere Wissenschaftler erfolgreich ausgegrenzt haben, legitimiert Dörhöfer diese Ausgrenzung damit, dass die genannten „Nichtbeachtenswerten“ ihre öffentliche, wissenschaftliche, politische und mediale Kommunikation doch tatsächlich über alternative Kanäle und Medien suchten. Da diese Medien oder ihre Macher wiederum nicht akzeptabel seien, kommt hier ein seltsames Kontaktschuld-Delikt als nachträgliche Ausgrenzungslegitimation zum Tragen.

Was meinen Sie?

A hat mit B gesprochen und der steckt mit dem verwerflichen Inhalt oder der umstrittenen Person C unter einer Decke; deshalb darf nicht über und mit A gesprochen, ja nicht einmal gestritten werden. Dies ist als Ausgrenzungslegitimation immer etwas problematisch. Denn wer entscheidet dann über wessen Diskursbeteiligung am Streit? Zum Glück versucht der FR-Redakteur Stephan Hebel inzwischen etwas mehr Pluralität und Kontroversität im Blatt zu wagen.

Lassen Sie uns nochmal den Bogen zurück zum Thema „Kinder“ schlagen. Haben Sie Forderungen an die Politik? Was müsste jetzt zum Wohle der Kinder in der Corona-Krise getan werden?

Zu beobachten ist, wie Deutschland sich unter der Corona-Krise rückwärts bewegt. Viele Millionen Menschen werden in Kurzarbeit geschickt. Durch das wegfallende Einkommen entstehen tendenziell Armutslagen und soziale Polarisierung. Durch Coronamaßnahmen werden die Bildungsungleichheiten noch zunehmen. Hinzu kommt, dass die in der Regel etwa 20 Prozent höheren Einkommen der Männer wieder deutlicher an Bedeutung gewinnen und die Re-Traditionalisierung geschlechtlicher Arbeitsteilung begünstigen. Eine Reprivatisierung sozialer Risiken wird befördert, wonach jeder seines eigenen gesundheitlichen, familiären und gesellschaftlichen Glückes Schmied sei. Dies sind eindeutige Hinweise auf einen gesellschaftlichen Rückschritt im neoliberalen Zeitalter.

Auch deshalb ist zunächst eine gründliche und kritische Analyse des vorherrschenden Diskurses in Medien, Politik und Wissenschaft notwendig.

Dabei müssen die Perspektiven und die Partizipation der Kinder in den Vordergrund rücken. Daran anknüpfend gilt es, Konzepte zur Armutsbekämpfung zu entwickeln. Wichtig ist die Förderung sozialer Infrastruktur, das heißt zum Beispiel von Vereinen und Jugendclubs, mit denen Kinder und Jugendliche sich besser einbringen und integrieren können.

Konkret heißt das, erstens Maßnahmen gegen Armut und zur sozialen Absicherung der Kinder und Familien zu ergreifen. Zweitens müssen die kinderrechtlichen Prinzipien des Kindeswohlvorrangs, des Schutzes, der Förderung und vor allem der Beteiligung von Kindern, Jugendlichen und Jugendverbänden (wieder) aufgebaut bzw. umgesetzt werden. Damit verbunden sind drittens Maßnahmen für einen (pandemiegerechten) Ausbau der sozialen Infrastruktur im Wohnumfeld v. a. mittels Jugendhilfe und offener Arbeit.

Anmerken möchte ich noch: Dabei dürfen wir zugleich den gesellschaftspolitischen Kontext einer immer reicher werdenden Gesellschaft nicht aus den Augen verlieren. Wenn wir darüber reden, wie wir die Lebenssituation von Kindern verbessern können, dann muss sich auch über Fragen von Macht und Herrschaft auseinandergesetzt werden. Es muss sich mit den Profiteuren der vorhandenen neoliberalen Ordnung auseinandergesetzt werden.



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