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75 Jahre Nürnberger Prozesse: Russische Historikerin schaut hinter die Kulissen

swaine1988
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Autor: Von Nikolaj Jolkin
Quelle: https://de.sputniknews.com/pol...
2020-11-16, Ansichten 1269
75 Jahre Nürnberger Prozesse: Russische Historikerin schaut hinter die Kulissen

Warum beharrte die Sowjetunion auf einem Gerichtsverfahren gegen die Partei- und Staatsführung Nazideutschlands, während die USA und Großbritannien anfangs gegen einen öffentlichen Prozess auftraten und alle einfach erschießen wollten? Natalja Lebedewa vom Institut für Weltgeschichte, die Dokumente von Nürnberg analysierte, gibt darüber Aufschluss.

In ihren zahlreichen Büchern und Artikeln hat sie die Vorbereitung des Prozesses und den Verlauf der Verhandlungen darüber, ob die Hauptkriegsverbrecher vor Gericht zu stellen seien, detailliert geschildert.

„Indem Churchill wie Roosevelt lange Zeit in Gerichtsverfahren gegen Gemeine einwilligten, lehnten sie bis zur Krim-Konferenz einen Prozess gegen die Nazi-Spitze ab. Die sowjetische Staatsführung hatte dagegen schon 1942, während Stalingrad hart umkämpft wurde, London und Washington sie jedoch mit der versprochenen Eröffnung der zweiten Front vertrösteten, die Idee eines internationalen Militärgerichts eingebracht, um gegen jeden Nazi-Rädelsführer, der in die Hände der Alliierten fallen würde, mit aller Strenge des Strafrechts vorzugehen.“

Anlass dazu lieferte Rudolf Heß, der sich im Mai 1941 nach Großbritannien begeben hatte, um über einen gemeinsamen Krieg gegen Russland zu verhandeln. Sein Vorhaben scheiterte, und er geriet in Gefangenschaft. Moskau schloss aber einen Separatfrieden zwischen Großbritannien und Deutschland nicht aus. Und Heß ließe sich in diesem Fall ausnutzen.

„Dies veranlasste Moskau, ein Gerichtsverfahren gegen die gesamte NSDAP-Spitze vorzuschlagen“, so die Historikerin im Sputnik-Gespräch. „Der Kreml konnte auch die sowjetische öffentliche Meinung nicht ignorieren, die mit der bloßen Erschießung der Rädelsführer Hitlers nicht zufriedenzustellen wäre.“

„In der Sowjetunion glaubte man“, so Lebedewa weiter, „dass ein öffentliches Gerichtsverfahren die ganze Entstehungsgeschichte des Nationalsozialismus aufdeckt und das Wesen dieses Regimes zeigt, um seine Wiederholung zu vermeiden. Die Britten befürchteten aber, es würden dabei Tatsachen ans Licht kommen, aus denen sich auf ihre Zusammenarbeit mit Deutschland schließen ließe.“

Roosevelt und Churchill suchten bis zum Jahr 1944 Stalin von den Vorzügen einer politischen Lösung gegenüber dem Prozess zu überzeugen. Auf der Konferenz von Jalta 1945 plädierte Stalin erneut für das Gerichtsverfahren, Churchill war dagegen und meinte, am liebsten würde man die Hauptkriegsverbrecher gleich nach ihrer Gefangennahme erschießen. Roosevelts Position lag dazwischen: Man sollte einen Prozess organisieren, der aber nicht länger als vier Tage dauern und ohne Reporter und Pressefotografen verlaufen sollte. Doch nahm der Nürnberger Prozess knapp ein Jahr ein (vom 20. November 1945 bis zum 29. Oktober 1946) und wurde in vier Sprachen geführt. Bei den Verhandlungen wurden Stenografen und Dolmetscher eingesetzt. Auch waren zahlreiche Journalisten anwesend.

Kriegsverbrechen dürfen nicht ungestraft bleiben

Lebedewa verwies darauf, dass der Grundsatz der strafrechtlichen Haftung für die Entfesselung eines Krieges und für die im Kriege verübten Verbrechen noch im Vertrag von Versailles verankert worden war. Er enthielt eine Bestimmung, laut der Wilhelm II. und andere Verbrecher vor Gericht zu stellen waren. Aber die Niederlande weigerten sich, Wilhelm auszuliefern, und der internationale Prozess blieb aus. Nur in Leipzig fand ein Kriegsverbrecherprozess mit wenigen Angeklagten statt, bei dem bescheidene Freiheitsstrafen verhängt wurden. Auch wurde die Mehrheit der Angeklagten anschließend freigelassen. Diese Unfähigkeit, die wichtigsten Verbrecher des Ersten Weltkriegs zu verurteilen, führte aus der Sicht der Historikerin zur Entfesselung des Zweiten Weltkrieges. „Verbrechen dieser Art dürfen nicht ungestraft bleiben.“

Angriffskrieg als internationales Delikt

„Bei der Vorbereitung des Nürnberger Prozesses wurde man mit mehreren Schwierigkeiten konfrontiert“, sagte Lebedewa. „Beispielsweise waren nicht alle mit der Bewertung des Angriffskriegs als internationales Delikt einverstanden. Dennoch gelang es den alliierten Juristen, eine Vereinbarung zu treffen, und in den Artikel 6 der Verfassung des Internationalen Militärgerichtshofes, welche die Grundlage des Nürnberger Prozesses bildete, wurden Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie der ,gemeinsame Plan oder Verschwörung‘ aufgenommen, der alle diese Delikte zusammenfasste.“

Im Verlauf des Prozesses gelang es, eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen den Repräsentanten der vier Mächte in die Wege zu leiten — zwischen den Richtern und Anklägern, die unterschiedlich erzogen waren, unterschiedliche Weltanschauungen und diametral entgegengesetzte Rechtssysteme vertraten. „Dieser Erfolg war damit zu erklären, dass sie gemeinsame demokratische Ziele verfolgten, indem sie den Faschismus und die Aggression bekämpften.“

Sinnbilder eines wilden Nationalismus und Militarismus

Lebedewa zitiert die Eröffnungsrede von Robert H. Jackson, US-Hauptankläger, in der er das Ziel des Prozesses zusammenfasste:

„Die Untaten, die wir zu verurteilen und zu bestrafen suchen, waren so ausgeklügelt, so böse und von so verwüstender Wirkung, dass die menschliche Zivilisation es nicht dulden kann, sie unbeachtet zu lassen. Sie würde sonst eine Wiederholung solchen Unheils nicht überleben… Auf der Anklagebank sitzen einige zwanzig gebrochene Männer… Als Einzelpersonen gilt der Welt ihr Schicksal wenig. Da die Angeklagten aber unheilvolle Gewalten vertreten, die noch lange in der Welt umherschleichen werden, wenn sie selbst schon zu Staub geworden sind, ist diese Verhandlung von solcher Wichtigkeit.“

„Sie sind, wie wir zeigen werden, lebende Sinnbilder des Rassenhasses, der Herrschaft des Schreckens und der Gewalttätigkeit, der Vermessenheit und Grausamkeit der Macht. Sie sind Sinnbilder eines wilden Nationalismus und Militarismus und all jener ständigen Umtriebe und Kriegstreiberei, die Generationen auf Generationen Europa in Kriege verstrickt; jede Weichheit ihnen gegenüber wäre gleichbedeutend mit einer triumphierenden Aufmunterung zu all den Schandtaten, die mit ihren Namen verbunden sind.“

Alliierte haben darauf verzichtet, die Wehrmacht zur „verbrecherischen Organisation“ zu erklären

„Es kam gar nicht infrage“, merkt Lebedewa an, „die ganze Wehrmacht für verbrecherisch zu erklären (und folglich mehrere Millionen von Menschen, die ihr einst angehört hatten). Genauso war keine Rede von der ,Straffälligkeit‘ der etliche Millionen starken NSDAP-Parteibasis. Die Einstufung der ganzen Wehrmacht bzw. NSDAP als ,kriminell‘ hätte das Gerichtsverfahren in eine Farce verwandelt.“

„Es wäre gleichbedeutend mit der Kriminalisierung aller Deutschen gewesen, weil sie unter Hitler gelebt hatten. Somit hätte man die Gerichtshöfe dazu befugt, einen jeden Deutschen ins Gefängnis zu werfen, nur weil er ein Deutscher war. Hätten sich die Siegermächte dadurch nicht selbst der nationalsozialistischen Ideologie verpflichtet? Die Juristen des Militärtribunals konnten sich einen solchen rechtlichen Nihilismus keinesfalls leisten.“

Der Kalte Krieg rettete die Hauptkriegsverbrecher nicht

Die Historikerin weist darauf hin, dass der Nürnberger Prozess vor dem Hintergrund des allmählich wachsenden Kalten Krieges stattfand. „Der Wandel des internationalen Klimas blieb auch auf der Anklagebank nicht unbemerkt. Einigen von den Angeklagten schien, dass das Tribunal von heute auf morgen auseinanderfallen und seine Tätigkeit aufgeben würde. Sie und ihre Verteidiger wendeten immer häufiger allerlei Schliche und Tricks an, in der Hoffnung, einen Keil zwischen die Ankläger zu treiben, um die gesamten Nürnberger Prozesse in dem Spalt einzuklemmen.“

„Während die Widersprüche zwischen den gestrigen Verbündeten sich verschärften, zeichneten sich jedoch alle Anklagereden durch Einstimmigkeit aus“, schildert Lebedewa. „Deshalb konnten sie sich in der Einsicht einigen, dass der Angriffskrieg im Sinne des Völkerrechts ein Verbrechen sei.“

So wurde am Ende des Abschnitts „Der Angriffskrieg gegen die Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken“ betont: „Die Pläne für die wirtschaftliche Ausbeutung der UdSSR für die Wegführung großer Bevölkerungsteile, für die Ermordung von Kommissaren und politischen Führern, all dies war ein Teil des sorgfältig vorbereiteten Plans, der am 22. Juni ohne irgendwelche Warnung und ohne den Schatten einer rechtlichen Entschuldigung in die Tat umgesetzt wurde. Es war eine reine Angriffshandlung.“

Die Historikerin weist darauf hin, dass „schon die ersten Anträge der Verteidiger zeigten, dass sie den Nürnberger Prozess zum Scheitern bringen wollten, indem sie gegen die Regierungen der Gründerstaaten des Tribunals, in erster Linie gegen die UdSSR, Gegenanklagen erhoben. Aber die Alliierten hatten, als sie noch an dem Statut des Tribunals arbeiteten, eine Liste der unerwünschten Fragen vereinbart, die von der Diskussion auszuschließen waren.“

Bei der Sowjetunion hatten sie mit ihrer gesellschaftlich-politischen Ordnung, ihrer Außenpolitik, insbesondere mit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt von 1939 zu tun. Auch dazugehörende Themen wie Handels- und Grenzvertrag, Verhandlungen u. a. m. kamen auf diese Liste. Ein Punkt handelte von der Westukraine und dem westlichen Weißrussland, von den sowjetisch-polnischen Beziehungen und den Republiken des Baltikums.

Bei den westlichen Alliierten wurden insbesondere der Anschluss Österreichs und das Münchner Abkommen als unerwünschte Themen festgelegt. Bezeichnend ist, dass keine der Delegationen von den peinlichen Situationen, die während des Prozesses ab und zu entstanden, Gebrauch machte, um die Regierungspolitik der verbündeten Länder in ein schlechtes Licht zu rücken.

Verbrechen des Nationalsozialismus bloßgelegt

Der Nürnberger Prozess gegen die Spitze Hitlerdeutschlands wird von Geschichtsforschern als „Gericht der Geschichte“ bezeichnet, einige Quellen stufen ihn auch als die letzte Schlacht des Zweiten Weltkriegs ein. Diese wurde nicht mehr mit Waffen, sondern mit Anträgen, Stenogrammen von Gerichtsverhandlungen und Verhören ausgetragen. Den Angeklagten wurde das Vorhandensein des Tatvorsatzes nachgewiesen und Anklagebeweise zur individuellen Verantwortung eines jeden von den Staatsführern Hitlerdeutschlands vorgelegt. „Gerade bei ihren Verhören kamen diejenigen Argumente der Anklage besonders klar zur Geltung, welche die Verbrechen des Nationalsozialismus bloßlegten“, schließt Natalja Lebedewa vom Institut für Weltgeschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften.


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