Bernd Baumann, erster parlamentarischer Geschäftsführer der AfD-Fraktion im Interview Deutschland, Berlin, 15.09.2020.
Die "Alternative" für Deutschland nennt sich eine Partei, die seit Jahren unter anderem von jenen Wählern ihre Stimmen erhält, die gegen den von den sogenannten "Altparteien" vertretenen Status Quo protestieren oder die sich eine bessere Anerkennung ihrer Bedürfnisse erhoffen. Schließlich redet die AfD häufig von den Interessen der "kleinen Leute" – insbesondere in Bezug auf die ostdeutschen Bundesländer – und von Politik im Sinne des "einfachen Bürgers".
Doch bei dem Großteil der Abstimmungen zeigt sich – teils im Gegensatz zu eigenen öffentlichen Aussagen über die jeweiligen Abstimmungsthemen –, dass die sogenannte Alternative für Deutschland vielmehr "knallhart neoliberal" ist und im Zweifel an der Seite der Mächtigen votiert, derjenigen, die sie an anderer Stelle als verantwortlich für jegliche Missstände anprangert. Im Parlament agiere sie als Teil eines konservativen und marktradikalen Lagers und damit als Stütze des von ihr so gehassten "Systems Merkel". Und ausgerechnet bei den für die "kleinen Leute" brennenden Themen aus dem Bereich Sozial- und Arbeitsmarkpolitik stimme sie für die jeweils marktradikaleren Optionen.
Das ist das Ergebnis einer Studie, bei der das Abstimmungsverhalten der AfD im Vergleich zu dem der anderen Parteien sowie zur eigenen Außendarstellung über den Zeitraum vom Mai 2018 bis Juni 2019 ausgewertet wurde. In Auftrag gegeben wurde diese Untersuchung von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die Autoren werteten knapp 160 Drucksachen mit Blick auf die Unterschiede zwischen der AfD und den sogenannten "Altparteien" der im Bundestag vertretenen Parteien aus.
Besondere Aufmerksamkeit wurde dabei auf Bundestagsausschüsse in den Bereichen Arbeit und Soziales, Energie und Wirtschaft, Inneres und Heimat sowie Familie, Senioren, Frauen und Jugend gerichtet, also parlamentarische Themen, die die Selbstdarstellung der AfD stark prägen, während jedoch andere zentrale Positionen und Ideologeme der AfD außen vor gelassen wurden, nach Ansicht der Autoren zählen dazu die Ablehnung supranationaler Organisationen (EU, Vereinte Nationen usw.), die Leugnung des menschengemachten Klimawandels oder die aggressive Bekämpfung aller der AfD im Wege stehenden Kräfte (etwa "Altparteien", "Lügenpresse" oder "Antifanten").
So wertete die Studie beispielsweise im Politikfeld Arbeit und Soziales 47 Drucksachen aus, wonach die AfD proportional am häufigsten Initiativen der FDP unterstützte. Und auch im Vergleich zwischen dem Abstimmungsverhalten der AfD und den anderen Fraktionen in diesem Bereich zeigte sich in dem untersuchten Zeitraum, dass es die höchste Übereinstimmung – mit gut 57 Prozent – zwischen AfD und FDP gab, sowohl beispielsweise bei einem Entwurf zur Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung, als auch bei der geplanten Lockerung von geringfügiger Beschäftigung (Plenarsitzung am 30.11.2018), was den in "sozialpatriotischen" Reden von der AfD betonten "Schutz" einheimischer Beschäftigter vor allem in den Sektoren Gastronomie und Landwirtschaft eher weiter aushebelt.
Im Politikfeld Wirtschaft und Energie stimmte die AfD laut der Studie in mehr als der Hälfte der Fälle mit der FDP und/oder den Regierungsfraktionen, in etwas mehr als 40 Prozent mit der Linksfraktion und bei einem guten Viertel der Anträge mit B’90/Die Grünen. In einem ihrer Anträge spricht sich die AfD dafür aus, dass die Bundesregierung trotz des verhängten Ausfuhrstopps für Rüstungsgüter nach Saudi-Arabien die Auslieferung von Patrouillenbooten dorthin genehmigen solle, und zwar um damit die Mittelmeerroute für Migranten zu schließen, wie es in der Begründung hieß.
Redezeit im Parlament missbrauchte die AfD im Untersuchungszeitraum des Öfteren, um mit themenfremden Inhalten eine Selbstinszenierung zu erwirken, wobei auch die von der AfD gescholtenen "Mainstreammedien" dann behilflich waren. Unabhängig vom jeweiligen Inhalt suche die Partei, sich mit den "Menschen auf der Straße" gemein zu machen – auch wenn dies Selbstwidersprüche aufzeige. Diese Tendenz lässt sich auch unabhängig von der Studie beobachten, beispielsweise anhand der Corona-Pandemie. Hatte die AfD-Landesvorsitzende in Baden-Württemberg, Bundestagsfraktionschefin Alice Weidel zu Beginn der Pandemie in Deutschland noch striktere Maßnahmen von der Bundesregierung gefordert und die Risiken für Gesundheit und Sicherheit der Bürger durch das Corona-Virus betont, wechselte die Partei die Position mit der Gunst der Stunde und meldete später Anti-Corona-Maßnahmen-Demos an. Was die "Menschen auf der Straße" betrifft, scheinen gerade im wirtschaftlichen Bereich die Übereinstimmungen mit der FDP teils größer zu sein als mit den Interessen einfacher Angestellter und Arbeiter oder gar "sozialpatriotischer" Wirtschaftsideen. So stimmte die AfD-Fraktion beispielsweise für die von der FDP erhobene Forderung, den Postmarkt zu liberalisieren und die Post AG weiter zu privatisieren.
Selbstwidersprüche und eklatante Unterschiede zwischen dem, was behauptet, und dem, was an Politik betrieben wird, sind jedoch offenbar auf der AfD-Tagesordnung. Zwar werfen AfD-Abgeordnete der Bundesregierung vor, den Willen des deutschen Volkes zu missachten, wie es Thomas Seitz beispielsweise behauptete. Doch zeigt das Abstimmungsverhalten im Untersuchungszeitraum der Studie, dass die AfD als vermeintlich größte Kritikerin der Bundesregierung dennoch 13 (von 22 von ebendieser Regierung) eingereichte Drucksachen im Themenfeld Inneres unterstützte, weit mehr als alle anderen Oppositionsfraktionen.
Außenseiterstellung, Opferinszenierung und Eliten-Bashing bleiben nach Auffassung der Autoren zentrale Elemente der AfD in der Eigendarstellung als vorgebliche Anti-System-Partei. Während die AfD in inflationärem Maße eine Gefährdung der Meinungsfreiheit proklamiere und wiederholt die Erzählung einer aktuell in der Bundesrepublik existierenden Diktatur betone, ziele ihre Programmatik jedoch vielmehr auf eine Abschaffung der Meinungsfreiheit ab, indem die AfD alles diffamiert – und womöglich als antidemokratisch abstempelt – was nicht ihrer eigenen Meinung entspricht.
Zwar warnen die Autoren vor dem Bild einer untätigen Partei, da beispielsweise Anfragen von der AfD ähnlich häufig gestellt würden wie von den anderen Oppositionsparteien. Allerdings sei eine konstruktive Gestaltung einer politischen Alternative anhand der eingebrachten Vorschläge kaum zu erkennen.
"Während die anderen Oppositionsparteien im Untersuchungszeitraum mit eigenen Anträgen und Vorschlägen inhaltlich in Debatten eingriffen, hielt sich die AfD in den vier betrachteten Themenfeldern zurück. Ihr reicht es häufig aus, lediglich öffentlichkeitswirksam zu polemisieren oder zu kritisieren", so ein Ergebnis der Studie. Nur in den "seltensten Fällen" habe die AfD in dem Untersuchungszeitraum tatsächliche politische Alternativen angeboten.