Teilnehmer der Demonstration am 29.08.2020 in Berlin.
von René Nehring
Überraschend kommt die Entwicklung nicht. Seit Monaten schon protestieren Bürger verschiedenster Couleur gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie und die damit verbundene weitgehende Stilllegung des öffentlichen Lebens. Bereits Anfang August kamen auf Einladung der Initiative „Querdenken 711″ in Berlin Zehntausende zusammen, um die Aufhebung der Corona-Restriktionen zu fordern.
Am vergangenen Wochenende nun kamen laut Polizei-Angaben knapp 40.000 Teilnehmer nach Berlin – und damit doppelt so viele wie vier Wochen zuvor. Aufgeladen wurde die Stimmung bereits vorab durch den Versuch des Innensenators Geisel, die Demonstrationen mit dem Verweis auf die geltenden Corona-Verordnungen zu unterbinden. Auch wenn dieses Vorhaben in zwei Verwaltungsgerichtsinstanzen gestoppt wurde, so war dadurch ein Klima des gegenseitigen Misstrauens geschaffen.
Die Hauptveranstaltung von „Querdenken” fand weitgehend geordnet statt. Allerdings berichteten die Medien kaum darüber, sondern vielmehr über das Verbot einer Nebendemonstration – und ab dem Abend dann über einen „Sturm” auf den Reichstag. Obwohl an diesem „Sturm” nur ein paar hundert Menschen beteiligt waren, und obwohl die ganze Aktion nur wenige Minuten gedauert hat, wurde in den folgenden Tagen fast ausschließlich darüber berichtet.
Zu Beginn der Corona-Pandemie wurden die Entscheider in Bund und Ländern für ihr Krisenmanagement allenthalben gelobt. Doch mit zunehmender Dauer der Ausnahmesituation nahmen auch die Zweifel an der Gefährlichkeit des Coronavirus und am Nutzen der zu seiner Eindämmung verhängten Maßnahmen zu.
Den neuen Alltag, in dem Sportveranstaltungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, in dem Kultur- und Freizeiteinrichtungen geschlossen sind und in dem selbst an Wochenendabenden Restaurants in den Großstädten bereits um Neun schließen, weil keine Gäste da sind, empfinden viele Bürger längst als eine „bleierne Zeit”. Ein Eindruck, der nicht zuletzt dadurch verstärkt wird, dass über all die Maßnahmen kaum gestritten wird und dass bisher kein Bundestag und kein Landtag infrage gestellt hat, wie die Regierungen in Bund und Ländern seit Monaten über den Ausnahmezustand verfügen.
Im Jahre 2018 gründete Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Initiative „Deutschland spricht”, bei der Angehörige verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen zusammengeführt wurden. Wo bleibt eine ähnliche Initiative in Zeiten der Corona-Pandemie? Warum geht nicht irgendein Fraktionsvorsitzender oder ein Minister auf die „Querdenker” zu und spricht mit ihnen?
Als 2019 die „Fridays for Future”-Demos die Welt bewegten, marschierten rund 10.000 „FFF”-Anhänger durch Berlin. Die Protagonisten der Bewegung, die schwedische Schülerin Greta Thunberg und die Deutsche Luisa Neubauer, waren monatelang auf allen medialen Kanälen. Warum sind die 40.000 „Querdenker” nicht im Fernsehen zu sehen? Warum zeigen die Nachrichtensendungen keine Aufnahmen von der Abschlusskundgebung?
Warum keinen O-Ton von Fußballweltmeister Thomas Berthold? Und warum wird „Querdenken”-Gründer Michael Ballweg nicht in eine der reichweitenstarken Talkshows geladen? Wundert sich unter den Entscheidern in den Redaktionsstuben angesichts dieser Diskrepanz in der Berichterstattung über die beiden Bewegungen tatsächlich noch jemand darüber, dass ein Teil der Bürger ihnen nicht mehr vertraut?
Anfang der Woche wurde das neue Buch von Thilo Sarrazin vorgestellt. Seitdem der Autor vor zehn Jahren seinen Bestseller „Deutschland schafft sich ab” veröffentlichte, der inzwischen das meistverkaufte deutsche Sachbuch seit 1945 (!) ist, wurde er zur persona non grata, die kein Sender mehr einlud, deren Bücher keine große Zeitung mehr rezensierte und die am Ende von der eigenen Partei, der SPD, nach 47 Jahren Mitgliedschaft hinausgeworfen wurde. Und das alles, weil Sarrazin Fakten zusammenträgt, die das Scheitern politischer Großprojekte wie der Zuwanderung belegen.
Gleichwohl konnte sein Verleger am Montag verkünden, dass für den „neuen Sarrazin” bereits „eine sechsstellige Zahl” an Bestellungen vorliegt. Dass ein Publizist trotz der Missachtung aller Leitmedien zum erfolgreichsten Autor werden kann, belegt einmal mehr die Diskrepanz zwischen der veröffentlichten Meinung und der Stimmung „draußen im Lande”.
Für wieviel Prozent der Gesellschaft die „Querdenker” stehen, ist schwer zu sagen. Fest steht, dass die zehntausenden Demonstranten – was immer man auch von ihnen halten mag – weitaus zahlreicher waren als die Anhänger vieler anderer Bewegungen, um die sich Politik und Medien intensiv gekümmert haben.
Die Frage ist, ob bei den politischen Entscheidern irgendjemand einen Schritt auf die Demonstranten zugeht – oder ob sie weiterhin zusehen wollen, wie das Unbehagen der Bürger wächst – und die Bewegung weiter Zulauf erhält.