Mangelnder politischer Wille, noch immer unklare Zahlen und weitgehende Straflosigkeit der Täter kennzeichneten bisher den Umgang der kolumbianischen Institutionen mit dem Thema der Verschwundenen. RT-Gastautorin Maria Müller nennt konkrete Daten von Staat und Opferorganisationen.
von Maria Müller
Will man sich dem Thema der Verschwundenen in Kolumbien widmen, muss man starke Nerven haben. Eine schockierende, verstörende Erfahrung. Sie zeigt die andere Seite eines Staates, der nur mit Mühe eine demokratische Fassade aufrechterhalten kann. Zumindest, wenn man unter staatlichen Aufgaben auch halbwegs geachtete Menschenrechte und eine unabhängige Justiz versteht.
Die Schilderungen der Opfer der von Militärs verübten Massaker erinnern an die Praktiken des Islamischen Staates. Eine vielleicht merkwürdige Parallele, doch sie drängt sich auf. Das ist Terrorismus in seiner ureigensten Form, um die Zivilbevölkerung zu traumatisieren. Eine psychologische Unterwerfung.
Die Militärs, vor allem unter der Präsidentschaft von Alvaro Uribe, führten Krieg gegen die Menschen im eigenen Land. Aus dieser Zeit wird die höchste Ziffer der Verschwundenen gemeldet. Nach dem Bericht der Organisation „Basta Ya!“ (Es reicht!) sind Staatsbedienstete für 84 Prozent dieser Verbrechen verantwortlich.
Auch heute noch erinnern Bürger und Opferorganisationen jedes Jahr an horrende Massaker. Besonders am 30. August, dem internationalen Tag der Verschwundenen, werden auf den Plätzen Kerzen angezündet, die Fotos der Verschwundenen ausgestellt.
Die verschleppte Aufklärung von internationalen Verbrechen
Kolumbianische Opferorganisationen beklagen sich:
„Es fehlt am politischen Willen. Immer noch gibt es kein vereinheitlichtes System zur Datenerfassung. Die Verschwundenen werden nicht gesucht, es kommt kaum zu Verurteilungen.“
Zwischen den Ziffern der verschiedenen staatlichen Stellen gibt es große Unterschiede, die ihrerseits mit den Zahlen von Menschenrechtsorganisationen kontrastieren. Außerdem werden Fälle von gewaltsamer Verschleppung nicht als solche registriert, wenn Informationen fehlen. Immer noch haben viele Zeugen Angst vor Repressalien und schweigen.
Nach Erhebungen der kolumbianischen Staatsanwaltschaft sind bis zum 31. Juli 2016 in Kolumbien 74.381 Ermittlungsverfahren wegen Verschwundener registriert worden, und 10.518 Strafverfahren. Dabei unterscheiden diese Daten nicht zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Tätern (!), mit Ausnahme von 789 Fällen, in denen Staatsangestellte angeklagt sind. In 418 Verfahren wurden die Täter ermittelt, und 398 stehen unter Anklage.
Sie betreffen 82.505 Opfer, darunter 2.500 Minderjährige. Insgesamt werden vom Staatsanwalt 117.646 Fälle von Verschwundenen angegeben. Sie sollen seit 1936 registriert worden sein. Für das Gerichtsmedizinische Institut von Bogotá gibt es hingegen „nur“ 23.516 nachgewiesene Entführte, während Menschenrechtsorganisationen von mindestens 45.000 sprechen.
„Man muss sich das Fußballstadion von Barranquilla vorstellen, das bis zu 49.000 Personen aufnehmen kann. Ein Stadion voller Verschwundener...“ schreibt die Gewerkschaft der Fußballfans.
Die Praxis, Menschen gewaltsam verschwinden zu lassen, geht insbesondere bei Frauen oft mit einer besonderen Gewalt einher: Die Opfer werden unmenschlich, grausam und erniedrigend behandelt. Die Entführten werden vergewaltigt, man rasiert ihnen die Haare ab. In vielen Fällen kam es zu grausamer Folter, den Opfern wurden Gliedmaßen amputiert.
Letzteres war die Todesursache bei allen Frauen, die von Paramilitärs verschleppt wurden. Obwohl eine Datensammlung ziviler Organisationen von 19.625 verschwundenen Frauen spricht, werden sie von der Staatsanwaltschaft nicht anerkannt. Allein in den Jahren 2004 bis 2006 verschwanden 11.297 Frauen (unter dem damaligen Präsidenten Alvaro Uribe). Seit 2010 gehen die Zahlen zurück.
Dennoch gibt es immer noch Entführungen. Auch die Ermordung von sozialen- und Umweltaktivisten geht selbst nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages weiter. Der kolumbianische Staat setzte bisher auf weitgehende Straflosigkeit. Denn, wie ein südamerikanisches Sprichwort sagt, schläft unter diesem großen Stein eine Schlange. Wer wagt es, ihn aufzuheben?
Zögerliche Aufarbeitung
Als die UNO-Kommission gegen Verschleppungen am 6. Oktober darum bat, Einzelklagen über unaufgeklärte Fälle selbst untersuchen zu können, reagierte Kolumbiens Repräsentantin in Genf, Beatriz Lodoño, mit einer Absage.
“Wir können nicht akzeptieren, dass sie keinerlei politischen Willen zeigte, die Einzelfälle von der Komission untersuchen zu lassen. Unsere Hoffnung war doch, dass sich nun Wege auftun um unsere Angehörigen zu finden“ erklärte eine Sprecherin der Stiftung Nydia Erika Bautista, die bei der Debatte anwesend war.
Kolumbien ist im Verzug. Das Land hat am 10. August 2012 die internationale Konvention für den Schutz der Personen vor gewaltsamer Verschleppung unterzeichnet.
Doch bereits 2006 ist es von der UNO-Komission aufgefordert worden, stimmige Zahlen über die Verschwundenen zu veröffentlichen. Heute, zehn Jahre danach, hat auch die Regierung Santos diese Aufgabe nicht bewältigt, wie Kolumbiens Delegierte vor der UNO-Kommision, Beatriz Lodoño, selbstkritisch am 6. Oktober einräumte. Die seitdem andauernde breite Straflosigkeit lässt Schuld erkennen.
Nun präsentierte die Verschwundenen-Komission am 14. Oktober ihre Schlussfolgerungen und stellte einen Forderungskatalog an die kolumbianische Regierung vor. Bei Verdacht auf Verschwinden soll die Staatsanwaltschaft sofort handeln, ohne auf eine Anzeige von dritter Seite zu warten.
„Obwohl die Zahl dieser Verbrechen in den letzten Jahren zurückgegangen sind, kommen sie weiterhin vor. Der Staat ist dafür verantwortlich, den Verbrechen vorzubeugen, sie zu untersuchen und zu bestrafen“, versichert Luziano Hasan, Sprecher der UNO-Komission.
“Nach unseren Informationen handelt es sich bei vielen der als 'falsche Ziele' bezeichneten Fälle um gewaltsame Entführungen mit anschließenden außergerichtlichen Hinrichtungen."
Sie werden vor Militärgerichten untersucht, erklärte Rainer Huhle, ein weiterer Sprecher:
„Das ist nach internationalem Recht und nach kolumbianischem Recht verboten. Dennoch wird diese Praxis fortgesetzt. Das muss sich ändern.“
Die UNO-Kommision fordert von Kolumbien nun eine endgültige offizielle Statistik von Verschwundenen und ausreichende Informationen. Einschließlich der Fälle, bei denen staatliche Täter direkt oder indirekt beteiligt sind.
„Wer sind die Verantwortlichen, und wann geschahen die Verbrechen?“, fragte Huhle.
In Kolumbien müssen Gesetzesänderungen vorgenommen werden, um staatliche Täter, besonders in höheren Rängen, dingfest zu machen.
„Nach der UN-Konvention gegen die Folter muss die Strafbarkeit von hochrangigen staatlichen Verantwortlichen möglich sein“ betonte Huhle.
Bei der UNO-Sitzung anwesende Menschenrechtsorganisationen aus Kolumbien riefen dazu auf, Personen aus öffentlichen Ämtern zu entfernen, die wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt sind und Verbindungen zu paramilitärischen Organisationen haben.
Der frühere Präsident Alvaro Uribe und sein Bruder sind inzwischen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt.
Sein Bruder Santiago wurde im Februar verhaftet. Uribe ist bekannt für seine Verbindungen zur Drogenwelt und den Paramilitärs. Doch er genießt Immunität, da er einen Senatorenposten innehat. Präsident Santos war Verteidigungsminister unter Uribe, wurde jedoch bis heute in Kolumbien nicht angeklagt. Die Handschrift der US-Regierung unter George W. Bush im Kampf gegen die FARC–Guerilla und den Drogenhandel in Kolumbien ist unverkennbar.