_ Von Jan Snyder
Noch liegt das Wrack der Costa Concordia vor der Küste Italiens, da heißt es, der berühmtesten Katastrophe der zivilen Schifffahrt zu gedenken: In der Nacht vom 14. zum 15. April 1912 sank die R.M.S. Titanic im Nordatlantik, 1.517 Passagiere fanden den Tod in den eiskalten Fluten. Kein anderes Schiffsunglück hat ein so großes Medienecho gefunden wie dieses, kein anderes beschäftigt die Menschen bis heute so intensiv und reizt zu mehr oder minder plausiblen Verschwörungstheorien.
Zu den bekanntesten gehört jene, wonach die Titanic ab- sichtlich gegen einen Eisberg gesteuert wurde, um so die Versicherungssumme zu kassieren. 1996 veröffentlichten Robin Gardiner und Dan van der Vart das Buch Die Titanic- Verschwörung. Darin stützen sie sich auf ein verbürgtes Ereignis: Im September 1911 kollidierte die Olympic – das baugleiche Schwesterschiff der Titanic – mit einem anderen Dampfer im Ärmelkanal. Der erhebliche Schaden an der Olympic musste in einer drei Monate dauernden Reparatur behoben werden. Zur gleichen Zeit wurde in derselben Werft in Belfast an der Fertigstellung der Titanic ge- arbeitet. Die Schiffe, welche sich zum Verwechseln ähnlich sahen, lagen genau nebeneinander. Die Verschwörungstheorie besagt: Die Reederei der Olympic wollte die teure Reparatur vermeiden. Deshalb ließ sie Schiffsteile von der Titanic einbauen, um den Schaden unauffällig zu flicken. Dann würde man den beschädigten Dampfer untergehen lassen und die Versicherungssumme für die nagelneue Titanic kassieren.
Kalkulierte die Reederei also den Tod von 2.200 Passagieren ein, um einen Betrug zu begehen? Gardiner und van der Vart behaupten, dass niemand zu Schaden kommen sollte. Nach den damaligen Sicherheitsbestimmungen hätten die 20 Rettungsboote zwar im Normalfall genügen müssen, waren aber letztlich angesichts einer überplanmäßigen Passagierbelegung nicht ausreichend. Daher habe die Reederei weitere Schiffe in die Nähe der voraussichtlichen Unglücksstelle beordert, um auch Schiffbrüchige aufzunehmen, die keinen Platz in den Rettungsbooten finden würden. Doch der Plan ging schief. Denn leider sank die vermeintliche Titanic viel schneller als angenommen, andere Schiffe kamen zu spät.
Folgt man dieser Theorie, liegt in Wirklichkeit die Olympic vor der Küste Neufundlands und nicht die Titanic. Eine abenteuerliche Hypothese. Doch sie lässt sich durch einige Merkwürdigkeiten erhärten: 1898 erscheint der Roman Futility des englischen Autors Morgan Robertson. Der deutsche Titel lautet Der Untergang der Titan, und tatsächlich handelt das Buch von einem schnellen, als unsinkbar geltenden Luxusschiff, der Titan, das mit voller Fahrt einen Eisberg rammt und daraufhin sinkt. Bildete dieser geradezu prophetische Roman die Inspiration für die Eigner der Titanic?
Doch es gibt auch handfestere Indizien. So wirft die Tatsache, dass Kapitän Edward Smith acht Eisbergwarnungen von anderen Schiffen erhielt, viele Fragen auf. Trotz dieser Warnungen dampfte der stählerne Riese mit seiner Höchstgeschwindigkeit von 21,5 Knoten durch das gefährliche Gebiet im Nordatlantik. Zu diesem unverantwortlichen Tempo trugen zwei Faktoren bei: Eine entsprechende Anweisung von Joseph Bruce Ismay, dem Geschäftsführer der Reederei, und das Arbeitstempo der Heizer, die wie entfesselt Kohlen in die Kessel schaufelten. Auch dafür gab es einen triftigen Grund: Im Kohlenlager schwelte ein Brand. Um diesen zu bekämpfen, verfeuerten die Heizer so viel Brennstoff zu möglich. Durch die schnelle Marschfahrt und die schwindenden Vorräte wurde das Schiff gezwungen, immer weiter nördlich zu navigieren und so den Eisbergfeldern immer näher zu kommen. Merkwürdig wirkt auch das Ausweichmanöver des Ers- ten Offiziers William Murdoch. Denn wenn der erfahrene Seemann einfach frontal auf den Eisberg zugehalten hätte, wäre der Bug eingedrückt worden – mehr aber auch nicht. Das starke Einschlagen des Ruders nach Backbord jedoch führte dazu, dass das Eis gegen die empfindlicheren Seitenwände drückte, bis diese nachgaben.
Die Theorie von Gardiner und van der Vart weist allerdings auch zahlreiche Lücken auf. So erscheint es wenig sinnvoll, ein Schiff zu versenken, um eine Million Pfund von der Versicherung zu kassieren, wenn der Neubau eines solchen Ozeanriesens etwa 1,5 Millionen Pfund verschlingt. Außerdem wirft niemand die Frage auf, warum der Unfall der Olympic nicht auch von der Versicherung gedeckt war. Der Untergang der als «unsinkbar» geltenden Titanic schadete dem Ansehen des Besitzers White Star Line erheblich und zwang die Reederei zu kostspieligen Nachbesserungen an den Schwesterschiffen. Die Verunsicherung der Passagiere nach der Titanic-Katastrophe führte dazu, auf Schiffe der Konkurrenz umzusteigen.
Doch die Titanic birgt noch mehr Geheimnisse. Sie sind begründet in der Person ihres Eigners, John Pierpoint Morgan. Sein plötzlicher Entschluss, die geplante Passage von Southampton nach New York aus gesundheitlichen Gründen abzusagen, wirft Fragen auf. Das Schiff war ein- gerichtet wie ein Luxushotel, Morgan hatte eine eigene Suite an Bord, die medizinische Versorgung war hervorragend. Eine leichte Krankheit war sicher kein triftiger Grund, die Reise zu stornieren. Doch das ist nur der Anfang der Verdachtskette. Denn eine andere Verschwörungstheorie stellt die Behauptung auf, dass der Untergang der Titanic kein Fall von Versicherungsbetrug war, sondern von eiskalt kalkuliertem Massenmord. Was auf den ersten Blick mehr als abenteuerlich anmutet, gewinnt bei einem Blick auf die Passagierlisten Plausibilität. Denn zu den Opfern in jener eisigen Aprilnacht gehörten drei der reichsten Männer der damaligen Zeit: Benjamin Guggenheim, John Jacob Astor IV und Isador Strauss. Jeder dieser Superreichen verfügte über großen Einfluss in der US-amerikanischen Wirtschaft, jeder dieser Männer war Spross einer mächtigen New Yorker Familie, die von der Ostküste aus die Geschicke des Lan- des steuerten. Die Verfechter der Mordtheorie behaupten nun, dass John Pierpoint Morgan die Titanic ins Verderben schickte, um genau diese Männer gezielt zu töten. 1.514 weitere Tote, um drei Männer umzubringen? Das klingt gewagt. Doch die Verschwörungsanhänger glauben, dass der Preis aus Sicht von Mister Morgan nicht zu hoch war. Denn es ging um nichts weniger als die Vorherrschaft auf dem amerikanischen Geldmarkt.
J. P. Morgan gehörte 1912 schon lange zu den reichsten und mächtigsten Männern der USA. Mit der Bank, die seinen Namen trug, hatte er sich in marode Eisenbahn- unternehmen eingekauft und sie erfolgreich saniert. Seine Spezialität war die Fusion. Zuerst formte er die General Electric, mit seiner U.S. Steel Corporation baute er den ersten Stahl-Trust auf, mit der International Mercantile Mari- ne Company (IMMC) ein Konglomerat in der Schifffahrt. Zur IMMC gehörten neben der White Star Line auch die Hamburg-Amerika-Linie. Am schwersten wog aber seine Finanzmacht: 1912 ermittelte ein Kongress-Ausschuss, dass J.P. Morgan & Co. gemeinsam mit der First National und der National City Bank ein Vermögen von damals sa- genhaften 22,2 Milliarden Dollar kontrollierte.
Mit seiner Finanzkraft hatte Morgan 1895 sogar der klammen US-Regierung ausgeholfen, indem er dem Schatzamt 100 Tonnen Gold verschaffte – im Gegenzug für eine 30jährige Anleihe. Behilflich bei diesem Coup war das Bankhaus Rothschild. 1907 bewahrte Morgan persönlich die Wall Street vor einer schweren Krise, indem er ein weiteres Stahlunternehmen aufkaufte. Die Turbulenzen führten zu einer folgenschweren Entscheidung: 1910 trafen sich sieben Männer auf Jekyll Island vor der Küste von Georgia, um ein neues Finanzinstitut zu gründen, das angeblich dazu da sein sollte, ähnliche Krisen zu verhindern: die Federal Reserve Bank. Sie repräsentierten die Häuser Rockefeller, J. P. Morgan und Rothschild. In Wirklichkeit war dieses konspirative Treffen der erste Schritt zur Übernahme der Staatsfinanzen durch private Bankiers. Glaubt man den Vertretern der Verschwörungstheorie, gab es aber auch Widerstände. Zu den Gegnern dieser «privaten» Nationabank gehörten angeblich die Familien Guggenheim, Astor und Strauss. Nicht etwa, weil sie Sorge um die Unabhängigkeit des Staates hatten, sondern weil sie eigene Pläne verfolgten oder um ihren Einfluss bei diesem Machtspiel fürchteten.
Den ultimativen Beweis für die Mordtheorie soll der letzte Funkspruch von der Titanic liefern. Funker ge- hörten damals nicht zur Besatzung der Reederei, sondern wurden von den Herstellern der Funkgeräte (im Fall der Titanic: Marconi) gestellt. Der letzte Funkspruch von John George Phillips ging an ein Schiff der Royal Mail Steam Packet Co., das nicht zum Trust von J. P. Morgan gehörte. Der Funker der Titanic berichtet darin über ein Gespräch des Ersten Offiziers William Murdoch mit dem Kapitän Edward Smith, das er mit angehört haben will. Demnach beschwerte sich Smith, dass das Schiff zu schnell sinke; dadurch würde es die Olympic, die gerade von New York Richtung England fuhr, nicht «wie vereinbart» schaffen, zu Hilfe zu kommen. Murdoch antwortete, es habe eine Änderung des Plans gegeben. Smith fragt: «Warum weiß ich nichts davon?» Murdoch: «Man hielt es nicht für not- wendig.»
Nachdem Funker Philipps diesen letzten Funkspruch abgesetzt hatte, konnte er zwar noch Platz auf einem Rettungsboot ergattern, kam dort jedoch auf ungeklärte Weise ums Leben. Vermutung der Skeptiker: Der in das Komplott eingeweihte Offizier Murdoch brachte den gefährlichen Zeugen um. Einer von 1.517 Toten, die dem unglaublichen Mordplan Morgans zum Opfer gefallen sein sollen.
Die Theorien zum Untergang der Titanic stehen auf wackligen Füßen. Belege für den verräterischen Funkspruch gibt es nicht. Fest steht nur, dass der Plan von J. P. Morgan, die Finanzen der USA unter die Kontrolle einer Hand voll privater Finanzmagnaten zu bringen, glückte: Im Dezember 1913 nahm die Federal Reserve Bank ihre Arbeit auf. John Pierpoint Morgan erlebte seinen Triumph nicht mehr: Er starb am 31. März 1913 im Schlaf – nicht auf See, sondern in einem Hotel in Rom.