Die Handelsbilanz bildet das Verhältnis von Ein- und Ausfuhren ab. Das betrifft sowohl Waren als auch Dienstleistungen und Kapitalströme. Der hohe Exportüberschuss kommt vor allem dadurch zustande, dass weit mehr Waren ins Ausland verkauft werden als von dort bezogen.
Doch diesmal soll die Rezession in der deutschen Industrie ein wichtiger Faktor für die rekordverdächtigen Exportüberschüsse gewesen sein, „denn dadurch sind die Importe von Waren langsamer gestiegen“, erklärt Grimme. Nach einem starken Jahresauftakt 2019 hätten die Exporte im zweiten Quartal kaum mehr zugelegt, erklärt der Wirtschaftsexperte.
„Diese Entwicklung war vor allem durch einen Einbruch der Nachfrage aus dem Vereinigten Königreich getrieben. Ursprünglich war für Ende März der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union geplant, so dass im ersten Quartal verstärkt Waren aus Deutschland eingekauft wurden, um die Lager im Angesicht drohender Zollschranken aufzufüllen“, heißt es in dem „Ifo“-Bericht, der Sputnik vorliegt.
Doch schon in der zweiten Jahreshälfte hätte die Warenausfuhr wieder kräftig zugelegt. „Kräftigere Exporte in die USA aufgrund der vorangeschrittenen Euro-Abwertung gegenüber dem US-Dollar sowie ausgeweitete Ausfuhren in das Vereinigte Königreich, wo sich die Nachfrage wieder etwas erholte, ließen die deutschen Gesamtausfuhren in der zweiten Jahreshälfte wieder kräftig steigen. Dagegen expandierten die Einfuhren im Sommerhalbjahr 2019 sehr schwach, die anhaltende Industrierezession in Deutschland hat die Einfuhren von Vorleistungsgütern stark gebremst.“
Aber auch die Primäreinkommen, hinter denen vor allem die Erträge aus dem im Ausland angelegten Vermögen stehen, sollen im Jahr 2019 weiter zugenommen haben, so die „Ifo“-Forscher. Die durch Primäreinkommen erzielten Überschüsse machten inzwischen 37 Prozent des Leistungsbilanzüberschusses aus. So würden hohe Netto-Einnahmen aus ausländischen Direktinvestitionen und Wertpapieranlagen erzielt. Dabei ist sich die Wissenschaft noch uneinig, wie rentabel die deutschen Investitionen im Ausland angelegt sind, bemerkt Grimme.
Nicht nur die EU-Kommission und US-Präsident Donald Trump stören sich immer wieder an den enormen Exportüberschüssen Deutschlands. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) äußerte bereits im Jahr 2018 seine Kritik: „Die Hartnäckigkeit der globalen Ungleichgewichte und zunehmend empfundene ungleiche Handelsbedingungen schüren protektionistische Stimmungen“, schrieb der Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds (IWF), Maurice Obstfeld, in einem Beitrag für „Die Welt“. Er sah gar eine „mittelfristige Bedrohung der globalen Finanzstabilität“.
Die Bundesregierung wolle nicht begreifen, dass die deutschen Exportüberschüsse ein Verstoß gegen fairen Handel seien, kritisiert der Volkswirt und Ex-Staatssekretär Dr. Heiner Flassbeck im Sputnik-Interview:
„Es kann keinen fairen Handel geben, wenn ein Land dauernd riesige Überschüsse hat“, sagt Flassbeck. Deutschland habe einen „riesigen Exportüberschuss“ gegenüber dem Rest der Welt, weil die Bundesrepublik in der Europäischen Währungsunion von Beginn an Lohndumping betrieben oder die Löhne nicht genügend erhöht habe, bemängelt der Wirtschaftswissenschaftler. Damit habe sich Deutschland gegenüber den anderen europäischen Partnern einen Vorteil „erschlichen“. Und dadurch sei auch der Euro verhältnismäßig schwach. „Der US-Dollar hat bis zuletzt real gerechnet aufgewertet. Das heißt, die Amerikaner haben bis zuletzt an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Das ärgert Trump und da hat er auch Recht“, so Flassbeck.
Entschieden widerspricht dieser Behauptung der renommierte Finanzmarkt-Analytiker und Wirtschaftsexperte Folker Hellmeyer. Der Exportsaldo Deutschlands sei ein Ausdruck der Attraktivität sowie der Konkurrenzfähigkeit seiner Produkte: „Weil wir Güter haben, die international nachgefragt sind.“ Das mache den Standort Deutschland exportstark. „Wir sind ja nicht notwendigerweise billiger. Wir sind im hochpreisigen Segment im Export. Man nimmt uns, nicht nur, weil das Produkt gut ist, sondern wir bieten im weiteren Verlauf eine Garantie des Service an“, unterstreicht der Chefanalyst von „Solvecon Invest“ aus Bremen.
Nicht zuletzt erinnern die „Ifo“-Experten an die bilateralen Leistungsbilanzsalden, die insbesondere immer wieder von der US-Regierung bemängelt werden. Die vorliegende Studie habe sich mit diesen bewusst nicht beschäftigt, da aktuelle Forschungsarbeiten Zweifel an der Zuverlässigkeit der außenwirtschaftlichen Datengrundlagen aufkommen lassen. Die Wirtschaftsexperten Martin Braml (Ifo) und Gabriel Felbermayr (Ifw Kiel) hätten gezeigt, dass für jedes Jahr der gesamten letzten Dekade unklar sei, ob die EU einen bilateralen Leistungsbilanzüberschuss oder ein -defizit gegenüber den USA aufweise. „Beim bilateralen Leistungsbilanzsaldo liegen europäische und amerikanische Statistiken um 180 Milliarden US-Dollar (2017) auseinander“, heißt es in der Studie. Laut den Eurostat-Leistungsbilanzdaten weist die EU für das Jahr 2018 einen Handelsüberschuss mit sich selbst in Höhe von 307 Milliarden Euro oder knapp zwei Prozent der europäischen Wirtschaftsleistung aus. Das sei „eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit“, bemerken die Forscher.