von Wladislaw Sankin
Eines muss man der polnischen Seite lassen: Das Auschwitz-Museum in Oświęcim bei Krakau hat gute Pressearbeit gemacht und den Journalisten den Eindruck vermittelt, gern gesehene Gäste bei den Veranstaltungen zum 75. Jahrestag der Befreiung der Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz I und Auschwitz II (Birkenau) zu sein. Auch russischen Journalisten. Vor dem Hintergrund des schon Jahre andauernden Geschichtsstreits der polnischen Regierung mit Russland ist das keine Selbstverständlichkeit.
Die Organisatoren haben es geschafft, eine andächtige Trauerzeremonie zu veranstalten, ohne zu pathetisch zu werden. Im Vordergrund standen nicht die Politiker, sondern die Überlebenden – für die meisten war dies angesichts ihres Alters von knapp 100 Jahren wohl der letzte große Auftritt. Der polnische Präsident Andrzej Duda hat in seiner Rede sogar erwähnt, wer die beiden Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz I und II (Birkenau) befreit hat. Mittlerweile ist auch das keine Selbstverständlichkeit mehr.
Drei Generationen sind seit jenem Tag, dem 27. Januar 1945, vergangen, als mehrere Tausend Gefangene – erschöpft von der Grausamkeit ihrer Peiniger, der Sklavenarbeit, dem Hunger und der Krankheiten – endlich von den Soldaten der Roten Armee befreit wurden.
"Tapfere ukrainische Soldaten"
Nur wenige Stunden zuvor am gleichen Tag traf Duda sich mit dem ukrainischen Präsident Wladimir Selenskij, und da konnte er wieder ganz Politiker seiner Partei Prawo i Sprawiedliwość (kurz: Pis; deutsch: Recht und Gerechtigkeit) sein.
Beim Presseauftritt mit Selenskij nannte er die Befreier nicht "Rote Armee" – die offizielle Bezeichnung der sowjetischen Streitkräfte bis zum Jahr 1946 –, sondern sprach angesichts ihrer Zugehörigkeit zur 1. Ukrainischen Front der Roten Armee von den "Soldaten der Ukrainischen Front". Eine rein formal-geografische Bezeichnung einer Militärformation nach dem Hauptort ihrer Operationen zum Zeitpunkt der Zusammenstellung wurde damit quasi zu einer nationalen "ukrainischen Armee" umgedeutet - was den Nationalisten Vorschub leistet.
Danach kam Duda plötzlich auf die Ereignisse zu sprechen, die sich in der Region noch ein Vierteljahrhundert früher abspielten – zu Zeiten des Russischen Bürgerkrieges und des Polnisch-Sowjetischen Krieges 1919–1920:
Ich schlug Präsident Selenskij vor, dass wir gemeinsam das Andenken der polnischen und ukrainischen Soldaten ehren sollten, die gegen die bolschewistische Invasion im Jahr 1920 kämpften. (…) Damals kämpften einerseits polnische Soldaten von Józef Piłsudski und andererseits die von Simon Petljura gegen die Bolschewiken. Auch seine ukrainischen Soldaten haben in diesem Krieg tapfer ihr Leben gelassen und für die gleiche Sache wie unsere Soldaten gekämpft", sagte Duda sichtlich vergnügt.
Dabei würdigte der polnische Präsident, der in wenigen Stunden vor den letzten Überlebenden an die schrecklichen Resultate des Antisemitismus erinnern wird, ausgerechnet diejenigen "tapferen Soldaten" des Simon Petljura, die in den Jahren 1919 und 1920 in blutige Pogrome gegen Juden auf ukrainischem Territorium verwickelt waren. Auch wenn die Frage, ob der nationalistische Führer der sogenannten Ukrainischen Volksrepublik Petljura selbst Antisemit war, nicht abschließend geklärt ist, ist vielfach nachgewiesen, dass Formationen der Ukrainischen Volksrepublik an einem Großteil der damals in der Ukraine wütenden Pogrome beteiligt waren und damit für Zehntausende Opfer verantwortlich sind. Petljura wurde 1926 in Paris von einem jüdischen Anarchisten aus Rache für die Ermordung seiner Familie durch Petljura-Milizen auf offener Straße erschossen. Das französische Gericht sprach den Täter frei.
Selenskij: Auch UdSSR ist schuld am Holocaust
Der ukrainische Präsident würdigte in seiner fünfminütigen Rede ebenfalls nur die "Ukrainer" unter den Befreiern. Er zählte die aus der Ukrainischen Sowjetrepublik stammenden Soldaten der Roten Armee auf, die das Lagertor am 27. Januar mit ihrem Panzer aufbrachen, ohne dabei ein einziges Mal die Rote Armee selbst beim Namen zu nennen. Er erwähnte nur, dass sie beispielsweise in der Lwower Panzerdivison dienten und der Ukrainischen Front angehörten. Die UdSSR, auf die er sich lediglich als "totalitäres Regime" bezog, zählte Selenskij dabei praktisch zu den Miturhebern des Holocaust:
Das verbrecherische Komplott zweier totalitärer Regime, deren erste Opfer Polen und die Ukraine waren, hatte den Beginn des Zweiten Weltkrieges zur Folge und erlaubte es den Nazis, das todbringende Pendel des Holocausts in Gang zu setzen.
Da redete der ukrainische Präsident ganz im Sinne seines Gastgebers. Bei der Gleichsetzung Hitlerdeutschlands und der Sowjetunion ist Polen seit Jahren die wichtigste Triebkraft in der EU. Am 21. Januar erhob der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki neue Anschuldigungen gegen die Sowjetunion. Stalin habe weder Warschau noch Auschwitz wirklich befreien wollen, schrieb er im US-Magazin Politico:
Während die Warschauer hoffnungsvoll auf Hilfe warteten, befahl Josef Stalin der Roten Armee nie, einzugreifen. (…) Und während die Rote Armee schließlich Auschwitz befreite, hätte das Lager ein halbes Jahr früher befreit werden können. Die Rettung der Juden war für Stalin und die Rote Armee nie eine Priorität.
Im Interview mit der englischen Zeitung TheTelegraph warf Morawiecki Moskau vor, die Geschichte des Holocausts umschreiben zu wollen. Er sagte, dass diese "Gräueltaten auf unserem von Nazideutschland und Sowjetrussland besetzten Boden geschahen".
Selbst Gutes, das die Sowjetunion Polen getan hat, ist für die Regierung Polens nicht mehr gut genug. Um die deutschen Kräfte nach der Niederlage der Alliierten in den Ardennen zu binden, befahl Stalin auf Bitte Churchills, die breite Weichsel-Oder-Offensive im Januar, in deren Folge auch Warschau und Auschwitz befreit wurden, trotz ungünstiger Wetterbedingungen um acht Tage vorzuverlegen. Nach neuesten Schätzungen haben bei den heftigen Kämpfen in Polen insgesamt über 477.000 sowjetische Soldaten ihr Leben gelassen.
Von Befreiern zu Besatzern
Dieser hohe sowjetische Blutzoll für die Befreiung hält die PiS-Regierung jedoch nicht davon ab, die Nachkriegszeit als "Besatzung" zu bezeichnen und der Sowjetunion nicht näher genannte "Millionen von Opfern" vorzuwerfen, die diese Besatzung zur Folge gehabt habe. Die Schuld des heutigen Russlands bestehe darin, die verbrecherischen Sowjets in Schutz zu nehmen und deren "Propaganda" zu wiederholen.