Dass Angela Merkel keine überragende Rednerin ist, sondern ihre Stärken in eigentlich wohltuend schlecht ausgeprägter Mikrofonverliebtheit und einer gewissen Schlagfertigkeit liegen, weiß sie vermutlich am besten. Wer sich die Reden der Bundeskanzlerin in den sogenannten Generaldebatten ihrer Kanzlerschaft ins Gedächtnis zurückruft, wird feststellen, dass da nicht viel an markanter Erinnerungsmasse vorhanden ist. Auch diese, ihre vermutlich letzte Rede als Regierungschefin in einer Haushaltsdebatte des Bundestages, war kein Feuerwerk an Wortwitz oder mitreißender Eloquenz. Aber – wir erwähnten es – das ist prinzipiell nichts, was Angela Merkel anstrebt.
Diese Rede der Bundeskanzlerin könnte dennoch in Erinnerung bleiben. Corona sei Dank. Die Pandemie hat die Bundesrepublik – und nicht nur sie – verändert. Und es gibt nicht wenige Menschen, die eine Regierungschefin gut finden, die mit ihnen redet, als salbe sie gerade die mehr oder weniger geliebte Erbtante zum letzten aller Gänge und appelliere daran, dass eine Familie zusammenhalten müsse. Deshalb wohl griff Angela Merkel für ihre Ansprache auch zu einem Mittel, das schon Winston Churchill meisterhaft beherrschte, wenn auch aus etwas anderen Motiven. Der große Brite appellierte vor 80 Jahren in seiner berühmten „Blut-und-Tränen-Rede“ an die Vernunft, an das Verantwortungsgefühl, den Patriotismus, die Opferbereitschaft und den Selbsterhaltungstrieb seiner Untertanen, und er gab dabei zu verstehen, dass er keine Wohltaten, sondern Mühsal („Blood, toil, tears and sweat“) zu vergeben hatte, aber vor allem auch, dass er genauso davon betroffen sein würde. Corona ist zwar nicht der Zweite Weltkrieg, aber die Rhetorik, die von manchen Entscheidungsträgern inzwischen bemüht wird, erinnert mitunter an Durchhalteparolen.
Angela Merkels Rede wirkte auffällig wie ein solcher Aufruf zum Durchhalten. Ihre vielen anderen Punkte (Klimaschutz, China, Belarus, Russland, Türkei, Migration) wickelte sie förmlich darin ein. Diese Rede, so darf angenommen werden, war im Gegensatz zu Generaldebatten früherer Jahre sehr genau konzipiert worden, hinsichtlich ihres Rhythmus und ihrer Wirkung. Wer sich noch an den Inhalt des zunächst als „Verschlusssache“ eingestuften internen Strategiepapiers des Bundesinnenministeriums „Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen“ erinnern kann, dem wird die Dramaturgie dieser Kanzlerinnen-Rede irgendwie bekannt vorgekommen sein.
Sie begann mit markigen Worten zur Deutschen Einheit als „historisch beispiellose Leistung eines ganzen Volkes“, sprach von „gesamtdeutschen Herausforderungen, die uns auch in Zukunft noch viel Zeit, Kraft und finanzielle Mittel abverlangen“, um dann mit inhaltsschwerer Stimme überzuleiten: „Wir werden dieses wunderbare Jubiläum, seit 30 Jahren in einem geeinten Deutschland leben zu dürfen, nicht so feiern können, wie wir uns das noch vor einem Jahr vorgestellt haben. Es wird leiser werden, als es dem Anlass eigentlich entsprechen würde. Deutschland ist bisher verhältnismäßig gut durch die Pandemie gekommen, gerade auch dank außerordentlichem Verantwortungsbewusstsein der Bürgerinnen und Bürger in den vergangenen Monaten. Die schwierigen Monate kommen jetzt.“
Nach zwei Minuten schon lobte sie die Anti-Corona-Maßnahmen von Bund und Ländern und die der EU, womit sie sich etwa 13 Minuten aufhielt. Sie streifte dann für eine Viertelstunde die bereits erwähnten internationalen Themen, um dann elegant wieder auf die EU zurückzukommen, als Mahnung, dass wir nur entschlossen und geschlossen gegen die Pandemie eine Chance hätten und dass „wir uns an dieser Stelle handlungsfähig gezeigt“ hätten.
Dann – sie hatte rund eine halbe Stunde geredet – setzte eine kleine, aber feine, tatsächlich kaum wahrnehmbare Verwandlung der Bundeskanzlerin ein. Sie legte eine minimale Pause ein, als sammele sie sich für das nun Folgende. Während sie zuvor immer mal wieder mehr oder weniger frei redete, waren die nun folgenden letzten knapp neun Minuten quasi abgelesen. Und das schien wohl auch nötig zu sein, um sich ja nicht zu verhaspeln und damit die Wirkung zu ruinieren. Denn in diesen neun Minuten spulte Angela Merkel ihre Version von Blood, Sweat and Tears ab.
So wie sie sich bei ihren Neujahrsansprachen an die „lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger“ wandte, so sprach die Bundeskanzlerin auch jetzt die Bundesbürger direkt vom Rednerpult des Bundestages an. „Wir müssen miteinander reden“ sagte die Kanzlerin. Aber es wurde dann klar, dass sie tatsächlich die Bürger aufrief, der Bundesregierung beim Reden zu helfen:
„Denn alle Regeln, Verordnungen, alle Maßnahmen nützen wenig bis nichts, wenn sie nicht von den Menschen angenommen und eingehalten werden. Und deshalb: Wir müssen reden im Familienkreis, im Freundeskreis, mit Kolleginnen und Kollegen, in den Kitas, in den Schulen, in den Alten- und Pflegeheimen, in der Nachbarschaft, in den religiösen Gemeinden, im Fußballverein oder im Chor. Wir müssen reden, erklären, wir müssen vermitteln, an öffentlichen Orten, natürlich zuvorderst hier im Parlament, in den Kommunen, in den sozialen Medien, mit Worten, die möglichst viele erreichen. Und dazu bitte ich um ihre Mithilfe. Denn wir müssen die sich wieder verschlechternde Situation ernst nehmen. Wir alle müssen die Gefahren erklären. Und wir müssen damit ein Bewusstsein schaffen für die schwierige Lage, die die kältere Jahreszeit bedeutet.“
Dass dies ein Eingeständnis ist, dass die Bundesregierung und ihre Krisenkommunikation bei Teilen des Volkes offenbar doch nicht als so „handlungsfähig“ angekommen sind, wie behauptet, werden sicherlich die wenigsten in diesem Moment realisiert haben, ergriffen von der direkten Ansprache der Regierungschefin, die an das Verantwortungsbewusstsein als Staatsbürger appellierte. Und die dann einen weiteren rhetorischen Kniff von Churchill anwendete, um menschliche Nähe aufzubauen, sich zum Volk herabzubeugen:
„Wir erleben zurzeit, wie die Vorsicht wieder nachlässt, wie sich alle wieder nach Nähe sehnen, nach Berührungen, nach Gemeinsamkeit, nach Feiern, im Familien- und Freundeskreis oder an öffentlichen Orten, einfach nach Unbeschwertheit. Das spüre ich selbst, da geht es mir nicht anders als anderen.“
Um dann in den Instrumentenkasten des Strategiepapieres des BMI zu greifen, das offenbar aus dem Bewusstsein der meisten Bundesbürger verschwunden zu sein scheint, und wo im Abschnitt 4 „Schlussfolgerungen für Maßnahmen und offene Kommunikation“ Formulierungen nachzulesen sind wie beispielsweise diese: „Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen (…). Die Situation, in der man nichts tun kann, um in Lebensgefahr schwebenden Angehörigen zu helfen (…).“
In der Sprache der Bundeskanzlerin bei ihrer Rede zur Generaldebatte im Bundestag 2020 klingt das dann so:
„Wir dürfen es nicht dazu kommen lassen, dass wieder landesweite Einschränkungen, wieder hohe ökonomische und emotionale Verluste drohen, dass ein sterbender Mensch im Krankenhaus oder im Pflegeheim mutterseelenallein sterben muss, weil seine Liebsten ihm zum Abschied nicht die Hand halten dürfen.“
Und immer wieder die direkte Ansprache an die Bürger: Wir brauchen Sie, ohne Sie schaffen wir das nicht, wir können das. Gefolgt vom ausführlichen Dank an alle Bürger, von denen einige sogar noch konkreter mit ihren Berufsbezeichnungen angesprochen werden. Psychologisch sehr geschickt, um Nähe aufzubauen, die auch nötig ist, folgt doch umgehend ein weiterer eindringlicher Appell an das patriotische Pflichtgefühl:
„Wir sind noch nicht am Ende der Pandemie. Wir haben mit Herbst und Winter eine schwere Zeit vor uns. Und deshalb möchte ich diese Rede mit einem Appell schließen: Ich appelliere an Sie alle, halten Sie sich an die Regeln, die für die nächste Zeit weiter gelten müssen, geben wir alle, als Bürgerinnen und Bürger dieser Gesellschaft, wieder mehr aufeinander acht. Erinnern wir uns wechselseitig daran, dass das Abstand-Halten, Mund-Nasenschutz, regelmäßiges Händewaschen, das Lüften in Zimmern, die Nutzung der Corona-Warn-App nicht nur die Älteren schützt, nicht nur die sogenannten Risikopersonen, sondern unsere offene, freie Gesellschaft als Ganzes.“
Dass sich die Kanzlerin nach einem solchen Aufruf zur mentalen Mobilmachung keine Sorgen um die Genehmigung ihres Haushaltes durch das deutsche Parlament machen muss, dürfte wohl nicht überraschen.
Überraschend ist, dass eine Bundesregierung, die in den zurückliegenden Wochen und Monaten mit dem Selbstbewusstsein eines mehrfachen Weltmeisters im Schwergewichts-Profiboxen in der Öffentlichkeit agierte und in der Kommunikation mit dem Volk jede noch so kleine Abweichung von offiziellen Sprachregelungen und Faktendeutungen zunehmend nervös und genervt mit der Totschlagskeule des Corona-Leugners niedermetzelte bzw. sich darauf verlassen konnte, dass Medienvertreter und im Internet kommentierende Staatsbürger dies für sie tun, dass eine solche Bundesregierung es dennoch als notwendig erachtete, derart ausgiebig in die Trickkiste der Tiefenpsychologie und PR-Sprache zu greifen und damit zuzugeben, dass ihre Argumente vielleicht doch nicht so überzeugend waren oder sind, wie sie immer vorgibt, das ist dann doch überraschend.