Symbolbild: "Pflege neu denken" lautete das Motto eines Ausstellers auf dem Deutschen Pflegetag 2018 in Berlin (16. März 2018)
von Susan Bonath
Zu wenig Personal, kaum Zeit für die Betroffenen: In Deutschlands Pflegeheimen wächst der Notstand. Auch das Coronavirus wütete in diesen Einrichtungen besonders heftig. Fast die Hälfte der vom Robert Koch-Institut (RKI) gemeldeten, infolge der Virusinfektion Verstorbenen lebte in Pflegeheimen. Trotzdem könnten künftig mehr Menschen mit schweren Krankheiten und Behinderungen gegen ihren Willen dort landen, obwohl sie zu Hause gepflegt werden könnten.
Das besagt der Entwurf für das "Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz" (IPReG), das der Bundestag am 2. Juli beschließen soll. Behindertenverbände protestieren dagegen, die Fraktionen der Linken, Grünen und FDP wollen das Regierungsvorhaben mit einem gemeinsamen Gegenantrag stoppen.
Dabei versicherte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bereits bei der Vorlage des ersten Entwurfes vor fast einem Jahr, er wolle nur Gutes bewirken. Zum Beispiel will er "Abzocke durch kriminelle private Pflegedienste" eindämmen. Die Medien hatten mehrfach über entsprechende Einzelfälle berichtet. Außerdem sollen Betroffene bei stationärer Unterbringung von Teilen des Eigenanteils entlastet werden – die Kranken müssen damit künftig mehr zuzahlen. Doch der Teufel steckt im Detail.
Kassen können sich mit Mängeln herausreden
So heißt es in dem Gesetzentwurf etwa: "Wünschen der Versicherten, die sich auf den Ort der Leistung nach Satz 1 richten, ist zu entsprechen, soweit die medizinische und pflegerische Versorgung an diesem Ort tatsächlich und dauerhaft sichergestellt werden kann." Dabei seien "persönliche, familiäre und örtliche Umstände" zu berücksichtigen. Feststellen lassen müsse dies die Krankenkasse mittels persönlicher Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK).
Der Sozialwissenschaftler Stefan Sell fasste diesen Passus auf seinem Blog "Aktuelle Sozialpolitik" am 24. Juni wie folgt zusammen:
Es geht darum, dass außerklinische Intensivpflege, fokussiert auf Beatmungspatienten, im Regelfall in sogenannten Beatmungs-WGs oder in Pflegeheimen stattfinden und die bislang oft gewählte Wunschvariante einer Pflege im Haushalt des Betroffenen erheblich beeinträchtigt werden soll.
Dies, so Sell, verschiebe den Versorgungsauftrag der Krankenkassen auf die Pflegebedürftigen selbst.
Denn anders als bisher, erläuterte er, müssten Betroffene künftig selbst nachweisen, dass die Leistung in der erforderlichen Qualität am Wohnort erbracht werden kann. Die Pflicht der Kassen, Patienten und Angehörige zu beraten, zu versorgen und adäquat zu unterstützen, werde mit diesem Gesetz den Hilfesuchenden aufgebürdet. Diese könnten so an einen Ort gezwungen werden, an dem sie nicht leben wollen. Damit würden schwer Kranke diskriminiert, konstatierte der Sozialwissenschaftler.
Gegner sehen Selbstbestimmungs- und Behindertenrechte verletzt
Die drei Oppositionsparteien Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen und FDP haben sich in letzter Minute sogar für einen gemeinsamen Änderungsantrag entschieden. Das neue Gesetz raube Intensivpflege-Bedürftigen letztlich die Freiheit, selbst zu entscheiden, ob sie sich zu Hause oder in einer stationären Einrichtung pflegen lassen wollen. Dies verletze das im Grundgesetz verankerte Selbstbestimmungsrecht und die UN-Behindertenrechtskonvention, monieren die Antragsteller.
Sie befürchten, die Krankenkassen könnten die Patienten dazu drängen, in Heime zu gehen. Denn stationäre Unterbringung koste bei Intensivpflegebedürftigen in der Regel mehr als die Betreuung zu Hause. Betroffene dürften aber nicht gezwungen werden, in einer bestimmten Wohnform zu leben, kritisieren die drei Fraktionen.
Das Gesetz müsse anders formuliert werden, um das auszuschließen. So müsse es heißen: Stelle der Medizinische Dienst der Krankenversicherung Pflegemängel fest, "muss die Krankenkasse Abhilfe am Ort der Leistungserbringung schaffen". Der MDK dürfe ausschließlich damit beauftragt werden, Mängel festzustellen. Bleibe der Entwurf, wie er ist, dürften die Kassen den Ort der Pflege jährlich neu festlegen – eigenmächtig.
Sozialverband kündigt Verfassungsbeschwerde an
Der Sozialverband VdK begrüßte den Vorstoß der drei Fraktionen. "Die Zusammenarbeit von FDP, Grünen und Linken zeigt, dass es hier nicht um Parteipolitik, sondern um Menschenrechte für Menschen mit Behinderungen geht", erklärte VdK-Präsidentin Verena Bentele in einer Pressemitteilung vom 24. Juni. Werde das Gesetz so durchgepeitscht, ohne ein Wunsch- und Wahlrecht auf den Wohnort für Betroffene explizit festzusetzen, "werden wir Verfassungsbeschwerde erheben", kündigte sie an.
Bereits in einer Öffentlichen Anhörung vor dem Gesundheitsausschuss des Bundestages am 17. Juni hatten unter anderem fünf Fachverbände für Menschen mit Behinderungen ihre Sorgen um die Selbstbestimmung von schwer behinderten Menschen bekundet. Aufgrund des allgemeinen Pflegemangels dürfte das Argument, dass häusliche Pflege nicht sichergestellt werden könne, zur Regel werden, blickten sie in ihrer Stellungnahme voraus.
"Dramatische Folgen für Lebenserwartung und -qualität"
Die Pflegekammer warnte zudem davor, der Kostendruck könne dazu beitragen, mehr Menschen in Heime einzuweisen. Der MDK mahnte an, es sei praktisch nicht möglich, bereits vor Erbringung einer Leistung zu entscheiden, in welcher Qualität diese künftig erbracht werden kann. Der Dienst stehe dann vor einer unlösbaren Aufgabe.
Der Sachverständige Horst Frehe von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben (ISL) warnte vor "massiven Verschlechterungen" insbesondere für selbstständig lebende Behinderte, die ein Beatmungsgerät benötigen. "Das Gesetz hätte dramatische Folgen für ihre Lebenserwartung und -qualität", so Frehe. Die Corona-Pandemie habe gezeigt, "dass fast die Hälfte aller an Corona Verstorbenen in Alten-, Behinderten- und Pflegeheimen gelebt haben", erklärte er. Es drohten dort nicht nur mehr Gesundheitsgefahren. Auch die Teilhabe werde massiv beschnitten, ein eigenständiges Leben werde unmöglich.
Petition und Demonstrationen
Der Verein "ALS-mobil", in dem Menschen mit der degenerativen Erkrankung des motorischen Nervensystems ALS organisiert sind, ruft zu Demonstrationen in Berlin gegen die Verabschiedung des Gesetzes auf. "Seit fast 50 Wochen versetzt Bundesgesundheitsminister Spahn schwer kranke Menschen in Angst und Schrecken, schreibt die Mitorganisatorin, Bloggerin und selbst betroffene Laura Mench dazu auf der Internetseite des Verbandes.
Für Dienstag kündigte "ALS-mobil" eine Aktion ab 12 Uhr am Brandenburger Tor an. Wenn am Donnerstag das Gesetz verabschiedet wird, will der Verein ab etwa 13.30 Uhr draußen vor dem Bundestag dagegen protestieren. Zudem verweist er auf eine Petition gegen das Vorhaben, die inzwischen mehr als 200.000 Menschen mitgezeichnet haben. Der Gesetzentwurf sei ein Skandal, heißt es darin. Damit könnten Schwerkranke nur dann dem Heim entkommen, soweit sie von einer Beatmung entwöhnt werden könnten. Bei degenerativen Erkrankungen wie ALS sei dies aber unmöglich. Die Berufung auf betrügerische Pflegedienste sei eine Ausrede. Dafür gebe es Strafgesetze, die nur konsequent angewendet werden müssten. "Es kommt auch keiner auf die Idee, Frauen in Einrichtungen zu bringen, um sie vor sexuellen Übergriffen zu schützen", führt der Verein einen Vergleich an.
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