„Wenn es eng wird, sind wir verloren“, schrieb die deutsche Künstlerin Gabriele von Lutzau kürzlich auf Twitter zu einem dokumentierten Vorfall aus dem Alltag der Bundeswehr-Soldaten.
Wenn es eng wird, sind wir verloren. pic.twitter.com/ZZOqnLE64B
— Gabriele von Lutzau (@g_vonlutzau) June 24, 2020
Fälle von „überzogener Härte“ oder „schikanösem Verhalten“ habe es wieder gegeben, heißt es in einem Vermerk: 16 von 81 RekrutInnen hätten sich wegen Dehydrierung und Überlastung beim Truppenarzt vorgestellt, wobei ein Rekrut sich ein Bein verletzt habe. Zwei Soldaten mussten ins Krankenhaus, weitere sieben Rekruten hätten die Ausbildung abgebrochen. Ein Marsch im Rahmen des Nato-Großmanövers „Defender 2020“? Von wegen. Sie mussten in einer Ausbildung am sechsten Tag nachmittags „bei 28 Grad Celsius in Feldanzug, Handschuhen, Wollsocken und Geländelaufschuhen“ eine Strecke von 2,5 Kilometern laufen, mal mit Liegestützen, mal mit Ruhepausen. Das Fazit: Nachhaltige Schäden habe man nicht erlitten – und „das ist die einzige gute Nachricht in diesem Fall“.
Der inhaltsreiche Ausschnitt stammt aus der s. g. Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten im Jahresbericht des Bundestages vom Januar 2020. Im Originaltext steht weiter geschrieben: „Obwohl es Soldatinnen und Soldaten frei steht, selbständig eine solche Tortur abzubrechen (...), zeigt der Fall, dass eine Sensibilisierung der Ausbilder und Ausbildungsplaner zum Thema Sport in Verbindung mit Witterung, körperlicher Belastung und Fitnessstand der Auszubildenden sowie eine Unterrichtung der Ausbilder zum Thema Hitzeschäden und körperliche Belastung immer wieder notwendig ist.“ In einem anderen Fall habe ein Soldat Steine als „Gewichtsausgleich“ mit sich tragen müssen – das sei als erzieherische Maßnahme „steinzeitlich“ und widerspreche den Grundsätzen der Inneren Führung, beharrt der Wehrbeauftragte.
kommentierte von Lutzau übrigens den zitierten Vorfall. Nach ihren Angaben schafft sie mit beinahe 66 Jahren immer noch eine Strecke von sieben Kilometern. Die Bundeswehr sei für sie kein „Yogaworkshop“. Die Stimmen gehen auseinander: vom Verständnis für die gesundheitlichen Risiken bis zu überwiegend Spott und Häme. „Solche Übungen können bei dieser Hitze durchaus gefährlich werden. Dehydrierung klingt überhaupt nicht gut“, kommentierte etwa der Nutzer „BlauesLicht“. „Nach 2,5 Kilometern kann kein halbwegs gesunder Mensch dehydriert sein“, konterte der Nutzer „Pegnitzpirat“.
Beim Nutzer „Oureweller“ entsprachen 2,5 Kilometer seinem Weg zur Grundschule im Alter von sechs bis zehn Jahren, und zwar „Sommer wie Winter, mit einem unergonomischen Schulranzen aus bockelhartem Leder“. „Vor 25 Jahren waren es noch 25 Kilometer, Start direkt nach dem Alarmwecken um 03:00. Könnte es sein, dass hier ein paar verweichlichte PlayStation-Kinder völlig falsche Vorstellungen von der Realität hatten?“, legte der Nutzer „Gunnar Tilsen“ nach. Ein gewisser Christoph Kunz ging härter vor und schrieb von einer Generation von „Warmduschern-Weicheiern-Wimmerlingen“. Befürchtet wird, dass der „Russe“ davon zu lesen bekommt. „Hoffentlich übersetzt das keiner auf Russisch“, scherzte etwa Micha K. Der Nutzer „GregorKeuschnig“ schrieb seinerseits: „Beim Marsch am Ende der Grundausbildung – 20 Kilometer durch eher normales Gelände – trug der leitende Leutnant am Ende sechs Rucksäcke von Wehrpflichtigen. Das ist fast 40 Jahre her. Der Russe hätte schon damals leichtes Spiel gehabt. Zum Glück hat es ihm niemand gesagt.“ Ein gewisser „Niels Jurt“ seinerseits rief diejenigen, die keinen Dienst geleistet haben, zum Schweigen auf.
Welchen Härtegrad eine Laufstrecke von 2,5 Kilometern in Ausrüstung bei 28 Grad in der heutigen Bundeswehr hat, wollte der Reservistenverband der Bundeswehr nicht beurteilen. Man maße sich nicht an, zu entscheiden, ob und unter welchen Umständen eine bestimmte Marschstrecke als „hart“ gelte oder nicht, sagte der Sprecher Florian Rode gegenüber Sputnik. Er wolle sich deswegen nicht an der Diskussion beteiligen. Die Bundeswehr hat eine entsprechende Sputnik-Anfrage bisher unkommentiert gelassen.
Mittlerweile hat Sputnik mit einem russischen Oberstleutnant in der Raketenabwehr auf anonymer Basis über das Thema gesprochen. Dabei wies der 36-Jährige darauf hin, dass die Härte der Trainings in erster Linie von der Waffenart abhänge und man dies auch im erwähnten Fall berücksichtigen müsse. Für den „Rücken seien 2,5 Kilometer“ ganz in Ordnung. Er sei keineswegs im „Speznas“ gewesen, und doch meint er: 2,5 Kilometer Laufstrecke in Ausrüstung und mit Liegestützen seien „keine seriöse Leistungsforderung“ für Berufssoldaten.
Er erinnert sich noch an seine Zeit in einer Militärschule, die an ihren Leistungsstandards immer noch festhalte, wenn man als junger Soldat im Rahmen des sogenannten „Kurses des jungen Kämpfers“ im Sommer jeden Morgen in Ausrüstung, einer Gasmaske und dazu noch einem OZK (ein wasser- und chemikalienbeständiger Überzug – Anm. d. Red.) einen Hindernislauf von über fünf Kilometern absolvieren sollte – und „keiner hat sich beschwert“. Dafür habe man im Voraus auch bei den Aufnahmeprüfungen über drei Kilometer laufen müssen – auch über Sand. Auch jetzt sieht er ein, dass die jungen Berufssoldaten es mit sehr seltenen Ausnahmen schaffen, die bestehenden Leistungsforderung mit „sehr gut“ zu absolvieren, ohne dabei zusammenzubrechen. Auch eine über fünf Kilometer lange Laufstrecke während der Sommerprüfungen bei über 30 Grad, und zwar in Ausrüstung und mit Gewehren, gehöre zum Alltag seiner Spezialeinheit. Bei den Wehrpflichtigen (in Russland gilt eine einjährige Wehrpflicht – Anm. d. Red.) seien die Leistungsanforderungen etwas niedriger, da werde manchen auch „ins Ärschlein geküsst“.
Seine Position ist: „Wenn du freiwillig in die Armee gekommen bist und Berufssoldat wirst, sei bitte 24 Stunden zur Verteidigung bereit.“
Er selbst müsse in seinem Alter noch jedes Vierteljahr sämtlichen Leistungsanforderungen gerecht werden.
Auch unter den Sputnik-Männern sorgte der Tweet für viel Resonanz. So meint der Befürworter der Friedensbewegung Tilo Gräser, es sei ein gutes Zeichen, wenn Bundeswehr-Rekruten über harte Ausbildung klagen würden. Im Zusatz zu den offenbar nicht funktionierenden Waffen und anderer Technik der Bundeswehr zeige dies, dass die Bundeswehr keine große Gefahr sei und nur wenig für einen Angriffskrieg tauge, selbst wenn sie bis an die Grenzen Russlands herangerückt sei. Der 54-Jährige ist überzeugt: „Niemand braucht die Bundeswehr tatsächlich, bis auf jene, die an Krieg und Waffen verdienen, und vielleicht jene, die Männlichkeitsrituale mögen.“ Deutschland sei erstmals seit mehr als 100 Jahren in seiner Geschichte nur von Freunden umgeben.
„Wozu sollen dann Bundeswehrsoldaten noch 2,5 Kilometer in voller Ausrüstung marschieren? Ich würde ihnen befehlen: Wegtreten, nach Hause gehen! Niemand braucht Euch in Uniform! Und das ist gut so!“
Der Radiomoderator Benjamin Gollme dankte seinerseits den deutschen Soldatinnen und Soldaten „von ganzem Herzen“ für ihren Dienst. Viel mehr als Gesundheit und körperliche Fitness wolle er ihnen geistige Fitness und geistige Flexibilität wünschen. „Diese benötigen sie, um zu erkennen, dass ihr Berufsstand seit Anbeginn der Zeit von Mächtigen als Spielball missbraucht wird. Mit vermeintlich hehren Zielen werden sie in Tod und Leid geschickt, riskieren ihr Leben und ihre psychische Gesundheit. So dankbar ich unseren Truppen bin, niemals würde ich einem Freund oder einer Freundin raten, den Dienst an der Waffe zu tun.“
„Jede Gesundheitsschädigung ist eine zu viel“, gesteht auch der Wehrbeauftragte in seinem Jahresbericht. Der bei Weitem größte Teil der Ausbilderinnen und Ausbilder erziele jedoch mit den Rekrutinnen und Rekruten zusammen gute Ausbildungsergebnisse. Es bleibt nur zu hoffen, dass es nicht mehr zu solchen Vorfällen wie bei dem tödlichen Bundeswehr-Marsch in Munster im Juli 2017 kommt.