Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärt in einer Pressekonferenz mit dem zugeschalteten französischen Präsidenten Emmanuel Macron ihre Pläne für einen EU-Wiederaufbaufonds (Bild vom 18. Mai).
von Zlatko Percinic
Ob Flüchtlingskrise, Eurokrise, Finanzkrise oder eben jetzt die Corona-Krise, sie alle haben eines gemein: Ohne Deutschland geht in der Europäischen Union nicht viel. Als mit Abstand größter Nettozahler der Union leistet Berlin einen wesentlichen Beitrag zur finanziellen Stabilität der Union. Diese Zahlungen sind Investitionen in die Grundlage der deutschen Wirtschaftsmacht, die sich durch die Gemeinschaftswährung Euro und den harmonisierten Wirtschaftsraum erst so richtig entfalten konnte. Scheitern EU oder Euro, scheitert in gewisser Weise auch die deutsche Exportnation.
In einem Positionspapier des Wirtschaftsministeriums aus dem vergangenen Jahr heißt es, dass die "Beschäftigung in Deutschland in hohem Maße auf offene Märkte und internationalen Handel angewiesen" ist. "Rund 28 Prozent der deutschen Arbeitsplätze hängen direkt oder indirekt vom Export ab", schreiben die Autoren weiter. Im verarbeitenden Gewerbe seien es sogar 56 Prozent. Dabei ist Europa mit 68,5 Prozent der wichtigste Absatzmarkt deutscher Produkte (Exporte im Jahr 2018 in die EU-28 betrugen 59,1 Prozent, in die Eurozone 37,5 Prozent).
Es wird schnell klar, dass die EU nicht ohne Deutschland, aber Deutschland auch nicht ohne die EU kann. Mit dem Austritt Großbritanniens wird Deutschlands Anteil am EU-Bruttoinlandprodukt auf rund ein Viertel wachsen. Diese vermeintliche (politische) Führungsrolle wollte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) aber nie wirklich übernehmen. Sie konzentrierte sich darauf, aus dem Hintergrund darauf zu achten, dass niemand an den Grundfesten der EU rüttelt. Und dass derjenige hart bestraft wird, sollte dies doch passieren, wie Griechenland leidvoll erfahren musste.
Das Problem ist, dass Merkel Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland ist, nicht der Europäischen Union. Es wird aber von ihr erwartet, genau das zu sein. "Ist es an der Zeit, sich wegen Deutschland wieder zu sorgen?", fragte deswegen etwa Frederick Kempe, Chef der Denkfabrik Atlantic Council.
Gerade in Krisenzeiten offenbaren sich aber immer wieder die Geburtsfehler der EU. Die Union entstand aus einem gemeinsamen Wirtschaftsraum (EWR) und wurde nie zu einer politischen Union reformiert. Es wird aber so getan, als ob es so wäre. Bricht eine Krise aus, handeln die Staaten nach eigenen nationalen Interessen, die selten im Einklang mit jenen der EU als politischer Entität stehen. Und Merkel handelte stets so, wie sie es im Interesse Deutschlands für richtig hielt.
Diese ambivalente Haltung zwischen deutschen und EU-Interessen zeigt sich gerade auch in der gegenwärtigen Corona-Krise. Noch Anfang April erteilte Finanzminister Olaf Scholz (SPD) gemeinsamen EU-Anleihen, den sogenannten Eurobonds, eine klare Absage. Auf Nachfrage von RT erklärte Scholz damals, die Gründe für die ablehnende Haltung liegen darin, dass dafür eine Ratifizierung der nationalen Parlamente und eine Veränderung der EU-Verträge nötig gewesen wäre. Zudem verfüge man mit bestehenden Programmen wie dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) oder dem von der EU-Kommission vorgestellten "SURE"-Programm über bereits bestehende Instrumentarien, um schnell und adäquat die erforderlichen Mittel aufzubringen.
Nur wenige Wochen später schlugen Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron und Kanzlerin Merkel genau das vor, was die Bundesregierung zuvor vehement ablehnte: gemeinsame Anleihen in Höhe von 500 Milliarden Euro. Nur heißen sie jetzt nicht Eurobonds, sondern EU-Wiederaufbaubonds. Woher kommt aber Merkels plötzlicher und unerwarteter Sinneswandel?
Die Zustimmung der Kanzlerin zur Umetikettierung der Eurobonds resultierte unter anderem aus der zunehmenden Angst der anderen EU-Staaten vor einem übermächtigen Deutschland, das gestärkt aus der Krise hervorgehen könnte. Die deutschen, von der EU abgesegneten "Staatsbeihilfen" zur Stütze der eigenen Wirtschaft machten knapp 51 Prozent aller bewilligten Hilfen in Höhe von 1,95 Billionen Euro der Europäischen Union aus. Frankreich mit 17 Prozent und Italien mit 15,5 Prozent liegen weit abgeschlagen auf den Plätzen zwei und drei.
Damit bestehe die Gefahr, dass Deutschland den Wettbewerb weiterhin verzerre (Billiglöhne sind ebenfalls Teil der Wettbewerbsverzerrung), sagte die zuständige EU-Kommissarin Margrethe Vestager dem Journalisten Eric Bonse. "Das ist zu einem gewissen Grad schon eingetreten", fuhr sie fort. Allerdings trägt sie durchaus eine Mitverantwortung für diese Schieflage, da sie ja selbst die Bewilligungen erteilt hatte.
Während also die von der Corona-Pandemie schwer betroffenen Länder wie Italien, Spanien oder Frankreich mit weit weniger staatlichen Mitteln ihre Wirtschaften stützen, greift Berlin tief in die Tasche und bringt sich damit für den Tag danach in Stellung. Damit es aber nach den verordneten Lockdowns überhaupt noch einen europäischen Markt gibt, der diesen Namen auch verdient, müssen sich auch die anderen Länder von den Folgen finanziell erholen können. Und gerade diese schwer betroffenen Staaten forderten von Anfang an europäische Anleihen, um sich die dafür benötigten Finanzmittel besorgen zu können, ohne Repressalien in Form von Austeritätsprogrammen befürchten zu müssen.
Was nun als Macrons und Merkels Glanzstunde der europäischen Politik gefeiert wird, verdient durchaus Anerkennung, ist am Ende aber ein taktisches Nachgeben Deutschlands. Thomas Mayer, der langjährige Korrespondent der österreichischen Tageszeitung Der Standard in Brüssel, fand dafür treffende Worte:
Merkel-Deutschland gilt seit den Eurohilfen an Griechenland als Zuchtmeister für den Rest der Gemeinschaft. In der noch viel schlimmeren CoronaKrise scheint die Kanzlerin daher plötzlich ganz leichtfüßig bereit, für das gemeinsame Europa in die Bresche zu springen. Dabei erinnert sie an Helmut Kohl: Er sprang 1998 über den nationalen Schatten, um das gemeinsame Euro-Europa zu schaffen. Zum eigenen wirtschaftlichen Vorteil.
Die Sorge vor einem mächtigen Deutschland äußert sich auch auf anderen Gebieten. Während die EU-Kommission sich um eine gemeinsame Linie in der Frage der Grenzöffnungen bemüht, verhandelt Berlin auf eigene Faust mit einer Reihe der "wichtigsten Zielländer für deutsche Reisende", um bilaterale Abkommen zu schaffen. Mit dem Geist des Schengener Abkommens, das die Reisefreizügigkeit innerhalb der EU erst ermöglicht hat, hat das allerdings nichts mehr gemein.
So, wie jetzt über die Öffnung der Grenzen ohne gemeinsame EU-Linie verhandelt wird, fand auch die Schließung derselbigen statt. Für Jean-Claude Juncker, den ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten, steht deshalb fest, dass dies "keine gehobene Form der Staatskunst" war, kritisierte er in einem Interview mit der Deutschen Welle. Die Menschen seien "Opfer der Berliner Willkür" geworden. Diese Aussage eines langjährigen EU-Technokraten zeigt, wie sehr man sich in Brüssel der Macht Deutschlands bewusst ist, auch wenn man fairerweise sagen muss, dass Länder wie Dänemark, Polen oder Tschechien ihre Grenzen zuerst geschlossen hatten. Dass Berlin nun ab dem 1. Juli den EU-Ratsvorsitz übernimmt, wird die Sorgen vor einem übermächtigen Deutschland nicht abschwächen.