Sie habe am Beispiel ihrer Eltern, die als Gastarbeiter in die Bundesrepublik gekommen waren, und anderer ähnlicher Lebensläufe festgestellt:
„Krass, man redet immer über die Qualitätswaren, die deutsche Marke, aber eigentlich haben sie meine Eltern und die anderen Gastarbeiter gebaut. ‚Made in Germany‘ ist Produkt der Handarbeit der Einwanderer.“ Sie fügte hinzu: „Wir, die Kinder, sind auch ‚Made in Germany‘.“
In dem in der Volksbühne gelesenen Auszug aus ihrem Buch verwies sie darauf, dass immer die Mehrheit die Macht hat, Identität zu benennen, vor allem über die Sprache Namen zu geben. Es handele sich dabei auch um „die Gewalt der Mehrheit“. Diese Namen für die anderen seien immer auch eine „Spiegel der Mehrheit gegenüber der Minderheit“. Marinić machte eine Angst der schwindenden Mehrheit, die sich als deutsch sieht, gegenüber einer größer werdenden mehrsprachigen Vielfalt aus.
Die Autorin, die in großen deutschen und ausländischen Medien schreibt, erinnerte daran, dass es „das absolut homogene Deutschsein nie gab“. Davon würden die biographischen Spuren der meisten Menschen dieses Landes zeugen. „Auch die meisten Deutschen ohne Migrationshintergrund haben Migrationshintergrund“, las Marinić und verwies auf das Beispiel Angela Merkel. „Die wenigsten Menschen habe keinerlei Migrationsgeschichte in der Familiengeschichte.“
Soziologe Engler sagte, dass die fremden Zuschreibungen für Privilegierte in der Gesellschaft weniger ein Problem seien als für jene, die weniger privilegiert sind. Die meisten seien gezwungen, diese Identitäten anzunehmen und zu eigenen zu machen, sonst drohe ihnen der soziale Ausschluss. Sich davon zu befreien, der Versuch, seine Identität selbst zu bestimmen, sei schwierig.
Er erlebe das als ausgewiesener Experte für die Lage in Ostdeutschland. Er habe öfters das Bedürfnis, sich den Anfragen dazu zu verweigern, gestand Engler ein, der sich seine Themen lieber selber wählen will. Der aus der DDR stammende Soziologe will nicht auf seine Herkunft reduziert werden – und antwortet dann doch lieber zum Thema Ostdeutschland selbst, „bevor das dann wieder aus so einer dominant westdeutschen Perspektive erklärt wird“.
Engler führte das Gespräch eher launig bis zu lässig. Sein Gegenüber erklärte, dass die sozialen Grenzen in Deutschland weniger durchlässig seien als in anderen Ländern. Vieles wirke egalitärer, so der Zugang zum Studium. „Aber gleichzeitig gibt es Ausschlussmechanismen“, sagte Marinić. So sei in deutschen Eliten der „Stallgeruch“, die Herkunft und das Beziehungsnetzwerk, wichtig. Wer den nicht habe, finde viel schwerer Aufstiegsmöglichkeiten.
Es habe in den zurückliegenden Jahrzehnten nur „kleine Veränderungen“ gegeben, aber es habe sich nicht grundlegend gebessert. Es seien „keine Fakten gegen den Rechtsruck“ geschaffen worden, beklagte die Autorin. Die sich liberal gebenden Eliten in der Bundesrepublik hätten viel von Offenheit geredet, aber kaum etwas für mehr Vielfalt gesorgt. Selbst die Kinder und Enkel der Einwanderer vergangener Jahrzehnte erhielten nicht mehr Chancen, sich zu beteiligen und teilzuhaben.
Mit Blick auf die innerdeutsche Entwicklung zwischen Ost und West stellte Engler fest: „Das ist kein wirklich integrativer Prozess.“ Das hätten ihm viele in Ostdeutschland auf seinen Lesereisen im letzten Jahr bestätigt. „Wir können kaum Erfolgsgeschichten erzählen. Das macht irgendwann ärgerlich.“
Das bestätigte Journalistin Marinić aus der Perspektive der Migranten. Es gebe „Konkurrenzen der Herkünfte“, wenn Menschen „ihr kleines Revier“ verteidigen und nach ihrem Platz im Ganzen fragen. Sie machte ebenso deutlich, dass die Frage der Identität und der Vielfalt etwas mit dem System des Kapitalismus zu tun hat. Die Gemeinsamkeit, die durch dessen Probleme von Arbeitslosigkeit bis zu Mietpreisen entstünden, finde sie viel spannender als die ermüdende Debatte um die Identitäten.
Sie forderte, die Machtstrukturen sowie die Eliten und deren Handeln in den Blick zu nehmen. Diese würden soziale Medien und digitale Analyseinstrumente gezielt nutzen und einsetzen. Damit würden Stimmungen in der Gesellschaft genutzt und beeinflusst. So werde gezielt dafür gesorgt, dass sich die berechtigte Unzufriedenheit in die von den Eliten gewünschte Richtung entlädt. „Das ist so professionell orchestriert“, betonte Marinić mit Blick auf den Rechtsruck in der Gesellschaft.
Das Gespräch von Soziologe und Journalistin drehte sich weiter um die Rolle der „Sündenböcke“ in der Gesellschaft, um Zuspruch für rechte Kräfte in Ostdeutschland und die ausgemachte Sehnsucht nach Autorität in anderen Ländern. Marinić wunderte sich, warum sich breite Bevölkerungskreise hierzulande gefallen lassen, wenn die Politik gegen ihre ureigenen Interessen handelt. Ihnen sei die Wut „abtrainiert“ worden, so ihr Befund.
Engler führte das Gespräch nicht nur launig und etwas unstrukturiert. Er wies im Verlauf mehrmals auf sein nächstes Gespräch zum Thema Identität hin. Das führt er am 13. Februar mit der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht, ebenfalls in der Volksbühne. Da wolle er über die großen Fragen sprechen, auf die Marinić mehrfach hinwies.
Das wirke etwas unhöflich gegenüber der Journalistin, als würde er ihren Sichten weniger Gewicht beimessen. Und so wird nach dem ersten Gespräch im kleinen Grünen Salon der Volksbühne das mit Wagenknecht im großen Saal des Hauses veranstaltet, vor allem wegen des zu erwartenden Publikumsinteresses.