Immer öfter kommt es an der indisch-pakistanischen Grenze zu Zwischenfällen. Die 740 Kilometer lange Kontrolllinie, die nach dem ersten Kaschmirkrieg von 1947 bis 1949 installiert wurde, ist brüchiger denn je. Die Kriegsrhetorik auf beiden Seiten nimmt zu.
Der Konflikt in der Region Kaschmir geht bis in die 40er Jahre des letzten Jahrhunderts zurück. Seitdem die Weltgemeinschaft Indien und Pakistan 1947 als unabhängige Staaten anerkannte, gab es immer wieder politische und militärische Auseinandersetzungen um die Regionen Jammu und Kaschmir. Indien, Pakistan und China erheben jeweils Ansprüche auf Teile des umstrittenen Territoriums. Bis heute kam es deshalb bereits zu fünf Kriegen in der Region: 1947 bis 1949, 1965, 1972 und zuletzt 1999.
Seit einigen Monaten liegt eine weitere Eskalation in der Luft. Ende September dieses Jahres griffen indische Grenztruppen mit Mörsergranaten und Artilleriegeschossen die pakistanische Seite an und töteten dabei sieben pakistanische Soldaten. Letzte Woche kam es am Dienstag offenbar zu einer Vergeltungsaktion, als islamistische, anti-indische Kämpfer aus Kaschmir einen indischen Grenzposten bei Nagrota angriffen und dabei ebenfalls sieben indische Soldaten töteten, darunter zwei Offiziere.
Laut Berichten der indischen Tageszeitung "The Hindu" sind seit September dieses Jahres bereits 27 Menschen durch Angriffe an der indisch-pakistanischen Grenze getötet worden. Als Antwort auf die anhaltenden Angriffe hatten indische Spezialkräfte Ende September mit "chirurgischen Präzisionsschlägen" in Pakistan begonnen.
Die Vorgänge der letzten Wochen und Monate erinnern stark an die zehnmonatige Periode von 2001 bis 2002, als Indien fast eine Million Soldaten entlang der Grenze zu Pakistan mobilisiert hatte. Damals konnte ein Krieg in allerletzter Minute noch verhindert werden. Zu den zunehmenden bewaffneten Zusammenstößen kommen noch verbale Aggressionen aus beiden Lagern.
Der pakistanische Verteidigungsminister Khawaja Asif erklärte am 25. November im Parlament, dass das pakistanische Militär für jeden pakistanischen Soldaten, den Indien töte, seinerseits drei indische Soldaten töten werde. Er fügte hinzu, dass Indien mit "schrecklichen Folgen" rechnen müsse, wenn es "einen Krieg gegen Pakistan wagt".
Auch die indische Seite legt offenbar keinen Wert auf Deeskalation. Quasi als Antwort auf den pakistanischen Verteidigungsminister erklärte dessen indischer Amtskollege Manohar Parrikar einen Tag später in einer Rede in Goa:
Wir wollen keinen Kampf, aber wenn jemand das Land mit einem bösen Blick anschaut, werden wir ihm die Augen herausreißen und ihm in die Hände geben. Wir sind stark genug dazu.
Es ist nicht das erste Mal, dass sich der indische Verteidigungsminister Parrikar als Hardliner zeigt. Er hatte auch schon einmal vorgeschlagen, dass sich Indien von dem Versprechen distanzieren soll, keinen atomaren Erstschlag zu führen.
Zusätzliche Brisanz gewinnt der Konflikt durch die geopolitische Konstellation zwischen den USA und China. Im August dieses Jahres präsentierte der indische Premierminister Narendra Modi ein neues Strategiepapier, das sich für eine härtere Gangart gegenüber Pakistan einsetzt. Indien werde sich diplomatisch stärker dafür einsetzen, dass die internationale Gemeinschaft Pakistan zum "staatlichen Terrorfinanzierer" erkläre. Zudem ließ er durchblicken, dass Indien den nationalistisch-separatistischen Aufstand in Belutschistan unterstützen und damit Pakistans Zerstückelung fördern werde.
Auffällig ist vor allem die Zurückhaltung der USA mit Blick auf die neue, härtere Linie Indiens gegenüber Pakistan. Nach den riskanten Angriffen der indischen Seite Ende September gegen pakistanische Soldaten, die ein höchstmögliches Eskalationsrisiko schafften, mahnte die US-Regierung lediglich zur Vorsicht.
In Teilen der indischen Medien wird vermutet, dass die USA, im Hinblick auf ihre Spannungen mit China, Indien perspektivisch als Verbündeten einbinden möchten. Dies könnte eine Erklärung dafür sein, dass die USA die Eskalation bis dato nicht zu unterbinden versuchen.
Hinzu kommt, dass sich der zukünftige US-Präsident Donald Trump mehrfach äußerst positiv über Indien als einen wichtigen strategischen Partner geäußert hat. Pakistan musste sich den Vorwurf gefallen lassen, es verhalte sich "nicht wie ein Verbündeter der USA".
Pakistan erscheint zudem zunehmend isoliert. Erst vor kurzem konnte Indien die meisten anderen Staaten der Region von einem Boykott des Treffens der Südasiatischen Vereinigung für regionale Kooperation (SAARC) überzeugen, die letzten Monat in Pakistan stattfand. Am 29. November zitierte die "Times of India" anonyme indische Regierungsvertreter mit der Aussage, dass ein Dialog mit Pakistan angesichts der anhaltenden Terroranschläge bedeutungslos sei.
Parallel zu den wachsenden Spannungen zwischen Indien und Pakistan verschlechtern sich auch die indisch-chinesischen Beziehungen. In China ist man über die Annäherung zwischen den USA und Indien besorgt. So wurde Ende August ein Abkommen zwischen Neu-Delhi und Washington ratifiziert, das amerikanischen Kampfflugzeugen und Kriegsschiffen die routinemäßige Nutzung indischer Militärbasen und Häfen erlaubt.
Indien zeigt sich hingegen verstimmt, dass China die Beziehungen zu seinem Erzfeind Pakistan weiter ausbaut. Die beiden Staaten pflegen enge Beziehungen, seit Islamabad im Jahr 1950 als eines der ersten Länder weltweit die Volksrepublik China anerkannt und die Beziehungen zu Taiwan abgebrochen hat. Sollte es zu offenen Kriegshandlungen zwischen Indien und Pakistan kommen, stünden sich augenblicklich vier Atommächte gegenüber.