Großer Krieg in Europa im Kalkül? Der Konflikt um Kaliningrad wird gezielt zur Eskaltion genutzt.
von Winfried Wolf
Zum Verständnis des Ukrainekriegs findet ein Bild Verbreitung, mit dem bereits der Erste Weltkrieg erklärt wurde. “Ziehen wir in eine Katastrophe wie die Schlafwandler 1914?”, fragt Konrad Schuller in einem ganzseitigen Artikel in der FAZ. Ähnlich der ehemalige Chefredakteur des Blattes Cicero, der unter der Überschrift Die neuen Schlafwandler konstatiert: “Wie unsere Neo-Bellizisten das Risiko einer katastrophalen Eskalation nonchalant übersehen.”
Auf den ersten Blick überzeugt das Bild. Der Krieg begann am 24. Februar mit der Invasion der russischen Armee in die Ukraine – und damit als regionaler Krieg. Der russische Präsident behauptete am 9. Mai, es handle sich um eine Art innerrussische Angelegenheit: “Wir führen eine militärische Spezialoperation durch – als reine Verteidigungsaktion von historischem russischem Land”.
US-Präsident Joe Biden und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg versicherten mehrfach, “keinen Krieg gegen Russland führen” zu wollen. Und der deutsche Kanzler Olaf Scholz (SPD) stellte am 23. März im Bundestag klar: “Wir werden der Ukraine helfen, ohne selbst Kriegspartei zu werden.” Allerdings gingen zum Zeitpunkt, als diese Aussagen gemacht wurden, alle Beteiligten davon aus, dass der Krieg eine Angelegenheit von wenigen Wochen sei. Inzwischen tobt er seit vier Monaten. Und er nimmt von Woche zu Woche größere Dimensionen an.
Die ukrainische Führung erklärte Mitte Juni, man werde “erst wieder für Ende August” Verhandlungen ins Auge fassen. Auf die Frage “Würden Sie einem Friedensabkommen zustimmen, wenn Russland sich hinter die Kontaktlinie von 2014 zurückzieht” – das heißt, wenn Russland alle seit dem 24. Februar 2022 eroberten ukrainischen Gebiete wieder an Kiew zurückgeben würde –, antwortete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi Mitte Juni: “Die Krim gehört zur Ukraine, die Regionen Donezk und Luhansk ebenfalls. Selbstverständlich wird unser Volk seine Hoheitsgebiete nicht aufgeben.”
Jens Stoltenberg argumentiert: “Der Krieg kann Jahre dauern.” Und während bei Beginn des Krieges die westlichen Länder bei der Lieferung von Waffen eher zurückhaltend waren, gibt es inzwischen ein Wettrennen, welcher Staat die schwereren Waffen und diejenigen Rüstungsgüter mit nochmals größerer Reichweite liefert.
Die Ukraine wird mit Waffen aus dem Westen derart vollgepumpt, dass der Generalstabschef der USA, Mark Milley, bereits eine Planübererfüllung konstatierte: “Kiew hat 200 Panzer angefragt, geliefert wurden 327; bei Schützenpanzern lieferten wir 300 anstelle der erbetenen 200 Fahrzeugen. Die Zahl der gelieferten Panzerabwehrwaffen liegt bei 97.000 – mehr als es Panzer auf der ganzen Welt gibt.”
Tatsächlich ist der Krieg längst zum Stellvertreterkrieg der Nato gegen Russland geworden. Dabei stellt die ukrainische Armee für die Nato das Kanonenfutter; das Land dient als Showroom für moderne Waffensysteme und für überholt geglaubte Materialschlachten.
Diese Entwicklung folgt einer Logik – und spätestens seit Mai auch einem Plan. Das Bild von den Schlafwandlern war bereits als Erklärung für den Ersten Weltkriegs falsch. Und es führt in die Irre, wenn die jüngere Entwicklung im Ukraine-Krieg verstanden sein will. Inwieweit die US-Regierung bereits im Vorfeld der russischen Invasion Pläne für einen großen regionalen Krieg gegen Moskau hatte und Putin mit der Invasion in eine Falle gelaufen war, muss zum gegenwärtigen Zeitpunkt offenbleiben.
Als sicher kann gelten, dass das Biden-Team und die Nato-Führung in den Wochen nach Kriegsbeginn auf den Geschmack gekommen sind und dass sie inzwischen einen großen Krieg in Europa bewusst ins Kalkül ziehen. Was aus Sicht von Washington nicht einer gewissen Logik entbehrt, ist das ins Auge gefasste Schlachtfeld doch 7.000 Kilometer von Nordamerika entfernt.
Dafür werden strategische Entscheidungen getroffen. Joe Biden, der vor der Wahl zum US-Präsidenten die Regierung in Riad wegen Verletzung der Menschenrechte massiv kritisiert hatte, vollzog, so die britische Financial Times, “eine bemerkenswerte 180-Grad-Wende”. Er reist im Juli nach Riad. Dort trifft er mit Kronprinz Bin Salman denjenigen, der laut Erkenntnissen der CIA persönlich den Befehl dafür gab, den kritischen Journalisten und Washington-Post-Kolumnisten Jamal Khashoggi in Istanbul zu ermorden und seine Leiche zu zerstückeln.
Wobei die saudische Regierung vor allem für den Krieg im Jemen verantwortlich ist, in dem bislang weit mehr Menschen getötet und deutlich mehr Infrastruktur und Städte zerstört wurden als im Ukraine-Krieg. Doch es geht den Regierenden in Moskau nicht um “die Befreiung der Ukraine von Nazis” oder den Schutz der russischsprachigen Bevölkerung auf ukrainischem Gebiet. Und es geht der US-Regierung und der Nato-Führung nicht um Menschenrechte oder um die Souveränität der Ukraine.
Auf beiden Seiten geht es ausschließlich um knallharte Geopolitik. Biden wird der Regierung in Riad viel Geld anbieten und noch mehr moderne Waffen liefern, damit diese im Gegenzug den Ölhahn aufdreht. Da bislang die westlichen Sanktionen in Moskau wenig Wirkung zeigen, soll die russische Ökonomie durch sinkende Öl- und Gaspreise ausbluten.
Seit Wochen dreht der Westen heftig an der Eskalationsspirale: So nutzt er demagogisch das Thema drohende Hungersnot im Globalen Süden aufgrund ausbleibender ukrainischer Getreideexporte. Zunächst einmal ist es seltsam, dass man Tag für Tag schwerstes Militärgerät in die Ukraine auf dem Landweg verfrachten kann, dass Getreideexporte jedoch auf demselben Weg unmöglich sein sollen.
Vor allem gibt es auch die Möglichkeit zur Nutzung des Seewegs. Das Getreide könnte – nach Absprachen mit Ankara – aus den ukrainischen Häfen unter dem Schutz türkischer Kriegsschiffe abtransportiert werden, wenn Kiew die Seeminen vor den entsprechenden Häfen räumt.
Der Vorsitzende der Afrikanischen Union, der senegalesische Präsident Macky Sall, begrüßte Anfang Juni diesen Vorschlag ausdrücklich und machte zum Entsetzen des Westens die Regierung Selenskyi für die Blockade der Getreideexporte verantwortlich. Kiew reagiert wie nach einem Drehbuch, das in Washington geschrieben wird. Die Räumung der Minen wird mit fadenscheiniger Begründung abgelehnt. Stattdessen fordert Selenskyi “moderne Ausrüstung für den Küstenschutz”.
Den wiederum – so Seezielflugkörper des Typs Harpoon mit einer Reichweite von knapp 300 Kilometern – liefern prompt Dänemark, Großbritannien und die USA. Die russische Seite dürfte darauf ihrerseits mit noch massiveren Angriffen reagieren, möglicherweise nun auf Odessa.
Seit dem 18. Juni gibt es eine nächste Stufe der Eskalation: Die Regierung in Litauen blockiert den Transit russischer Transporte in die russische Exklave Kaliningrad. Die Begründung der litauischen Regierung, es handle sich dabei lediglich um die Anwendung der im März (!) beschlossen Sanktionen der Europäischen Union, ist hanebüchen.
Da Kaliningrad unbestrittener Teil der Russischen Föderation ist, können Transporte zwischen der Exklave und dem russischen Kernland nicht von EU-Sanktionen betroffen sein. Die EU behandelt Transporte zwischen Großbritannien und Gibraltar auch nicht nach EU-Recht. Die Blockade-Maßnahmen der Regierung in Vilnius werden in Moskau zu Recht als Provokation empfunden. Damit rückt der Krieg mit Riesenschritten auf Berlin zu.
Untersucht man die jüngere Entwicklung in Litauen, so gewinnt man den Eindruck, diese jüngste Eskalation könnte von langer Hand geplant sein – und zwar unter Entschluss der Regierung in Berlin. Denn in Litauen befindet sich eine 1.600 Kopf starke Nato-Einheit, deren Kern die Panzergrenadierbrigade 41 “Vorpommern”, also Soldaten der Bundeswehr, bildet. Der Kommandeur dieser Battlegroup, Oberstleutnant Daniel Andrä, spricht Klartext: “Der 24. Februar war ein Gamechanger. Der Krieg ist wieder im Herzen Europas zurück. Und wir haben mit Litauen eine Grenze zu Kaliningrad, also zu Russland.”
Er spricht auch die Möglichkeit einer deutlichen Aufstockung der Nato-Präsenz mit noch stärkerem deutschen Engagement an: “Das ist eine Entscheidung, die zum Schluss auf der politischen Ebene getroffen werden muss – beim Nato-Gipfel Ende des Monats [Juni; W.W.]. Wir sind hier auf alles vorbereitet. Und der Kanzler hat das ja auch letzte Woche hier bei seinem Besuch öffentlichkeitswirksam geäußert – dass Deutschland bereit ist, auch mehr Verantwortung zu übernehmen.” Nach Angaben der Bundeswehr gab es seit dem 24. Februar in Litauen die folgenden Eskalationsschritte:
Apropos Putin. Im Westen gibt es zwei grundverschiedene Thesen zum Charakter des Herrn im Kreml. Einmal heißt es, der Mann sei unberechenbar. Dann wird behauptet, er habe diesen Krieg seit Langem kühl geplant. Beide Einschätzungen lassen die Erwartung zu, dass Moskau bei entsprechender Provokation oder auch im Fall militärischer Rückschläge einen Angriff auf Nato-Gebiet, einschließlich eines Atomwaffen-Einsatzes, in Erwägung ziehen wird.
Ein unberechenbarer Putin wird im Fall von Provokationen offensichtlich noch unberechenbarer. Ist Putin jedoch der eiskalt planende Politiker, dann sollte sein konkretes Agieren zur Kenntnis genommen werden. Im Juni 2020 unterzeichnete Putin ein Dekret, das russischen Generalen den Ersteinsatz von Atomwaffen auch in konventionellen Kriegen erlaubt – und zwar “im Fall einer Aggression gegen die Russische Föderation mit konventionellen Waffen, wenn die Existenz des Staates in Gefahr ist.” Russland zog damit mit dem US-Militär gleich, das inzwischen auch einen atomaren Erstschlag nicht mehr ausschließt.
Das Handeln der Regierenden in Moskau, Washington, Brüssel, Berlin und Kiew ist zynisch und verantwortungslos. Die Politik dieser Kreise läuft darauf hinaus, einen europaweiten, atomar geführten Krieg in Kauf zu nehmen. Dabei wird im Vorfeld alles abgeräumt, was als Antwort auf den Klimanotstand notwendig wäre: Fracking-Gas aus den USA? Längere Laufzeiten für Kohlekraftwerke? Flüssiggas aus Scharia-Regionen? Bohrungen nach Gas in der Nordsee? All das erhält jetzt seinen Segen.
Gleichzeitig wird die Bevölkerung auf Blut, Schweiß und Tränen eingestimmt; der Krieg verbindet sich zunehmend mit der sozialen Frage. Robert Habeck weiß: “Wir werden alle ärmer”. Und Christian Lindner erklärt am heutigen 22. Juni, er sehe nun “drei bis fünf Jahre mit Engpässen”. Es gehe nun darum, “die Substanz der deutschen Wirtschaft in diesen Zeiten der Unsicherheit” zu verteidigen. Damit ist gemeint, dass der Pro-Kopf-Einkommensverlust in Höhe von 1.500 Euro, den es nach bisherigen Berechnungen im laufenden Jahr 2022 aufgrund der massiv angestiegenen Energiepreise bereits geben wird, nochmals deutlich höher ausfallen wird.
Noch am 22. April erklärte Olaf Scholz in einem Interview mit dem Spiegel: “Es gibt kein Lehrbuch für die Situation, in dem man nachlesen könnte, ab welchem Punkt wir als Kriegspartei wahrgenommen werden. […] Ich unternehme alles, um einen Atomkrieg zu vermeiden.” Diese Haltung hat die deutsche Regierung längst aufgegeben. Wobei die FDP und die Grünen in besonderem Maß kriegstreiberisch auftreten.
Nur ein Stopp aller Waffenlieferungen und ein massives Drängen auf sofortige Verhandlungen mit dem Ziel “Minsk III” kann die bedrohliche Dynamik stoppen. Dabei sind die Friedensbewegung in Europa und die – weiterhin aktive – Zivilgesellschaft in Russland wichtige Aktivposten. Keiner komme mit dem Argument, man stolpere, Schlafwandlern gleich, in den neuen und europaweiten Krieg. Die Schritte der Eskalation sind auch seitens des Westens geplant. Und sie sind klar zu erkennen.